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25/01 StrafprozessNorm
B-VG Art140 Abs1 Z1 litdLeitsatz
Aufhebung einer Bestimmung der StPO betreffend die "bedingt obligatorische Untersuchungshaft" (Verhängung der Untersuchungshaft ohne Vorliegen eines Haftgrundes bei Verbrechen mit mindestens zehnjähriger Freiheitsstrafe und Nichtvorliegen aller Haftgründe) wegen Verstoßes gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit; Einzelfallprüfung der Schwere der Straftat und eines rechtfertigenden Haftgrundes für Verhängung der Untersuchungshaft notwendigRechtssatz
Verstoß des §173 Abs6 StPO gegen Art1 Abs3 und Art2 Abs1 Z2 PersFrSchG:
Gemäß Art2 Abs1 des PersFrSchG darf einem Menschen die persönliche Freiheit nur in bestimmten Fällen (Haftgründe) entzogen werden. Art2 Abs1 Z2 PersFrSchG sieht als einen solchen Haftgrund die Untersuchungshaft vor. Das Gesetz darf dementsprechend die Untersuchungshaft vorsehen, wenn jemand einer bestimmten, mit gerichtlicher oder finanzbehördlicher Strafe bedrohten Handlung verdächtig ist, wenn dies im Sinne des Art1 Abs3 PersFrSchG notwendig ist, und zwar zum Zwecke der Beendigung des Angriffes oder zur sofortigen Feststellung des Sachverhalts, sofern der Verdacht im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Tat oder dadurch entsteht, dass der Verdächtige einen bestimmten Gegenstand innehat, um ihn daran zu hindern, sich dem Verfahren zu entziehen oder Beweismittel zu beeinträchtigen, oder um ihn bei einer mit beträchtlicher Strafe bedrohten Handlung an der Begehung einer gleichartigen Handlung oder an der Ausführung zu hindern. Damit verlangt das PersFrSchG für die Verhängung der Untersuchungshaft nach unbestrittener Auffassung im Einzelfall die Feststellung, dass einer der genannten Haftgründe vorliegt.
Nach dem System der Untersuchungshaft darf diese - neben weiteren Voraussetzungen - grundsätzlich nur verhängt werden, wenn einer der in §173 Abs2 StPO genannten Haftgründe vorliegt. Von diesem Grundsatz weicht die angefochtene Bestimmung des §173 Abs6 StPO insoweit ab, als für den Fall, dass es sich um ein Verbrechen (§17 StGB) handelt, bei dem nach dem Gesetz auf eine mindestens zehnjährige Freiheitsstrafe zu erkennen ist, die Untersuchungshaft verhängt werden muss, es sei denn, dass auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, das Vorliegen aller in §173 Abs2 StPO genannten Haftgründe sei auszuschließen.
Die Lehre erachtet diese, als "bedingt obligatorische Untersuchungshaft" bezeichnete Regelung seit längerem überwiegend deswegen für verfassungswidrig, weil damit dem Gebot des PersFrSchG des (positiven) Nachweises des Vorliegens aller Voraussetzungen für die Untersuchungshaft im jeweiligen Einzelfall nicht Rechnung getragen werde.
Das PersFrSchG bindet den Entzug der persönlichen Freiheit als einen der gravierendsten Eingriffe in Grundrechte des Einzelnen an detaillierte Haftgründe und die Notwendigkeit eines auf einen spezifischen Haftgrund gestützten Freiheitsentzuges im Einzelfall. Diesen Anforderungen an die gesetzliche Regelung der Untersuchungshaft trägt die angefochtene Bestimmung des §173 Abs6 StPO nicht adäquat Rechnung. Denn sie eröffnet, ohne dass dies vom Regelungsgegenstand bedingt wäre, eine Unklarheit darüber, dass diese Einzelfallprüfung, ob ein konkreter Haftgrund vorliegt, jedenfalls zu erfolgen hat, obwohl eine die konkreten verfassungsrechtlichen Vorgaben deutlich zum Ausdruck bringende Regelung möglich ist, die auch dem Umstand Rechnung tragen kann, dass die hier in Rede stehende Konstellation des Verdachts der Begehung schwerer Straftaten in die Beurteilung der Notwendigkeit der Freiheitsentziehung miteinzubeziehen ist. Nach den Vorgaben des Art2 Abs1 Z2 PersFrSchG muss aber auch eine solche Berücksichtigung der Schwere der Straftat, deren Begehung der mit Untersuchungshaft Bedrohte verdächtigt wird, im Zuge einer Einzelfallprüfung erfolgen, ob ein die Untersuchungshaft rechtfertigender Haftgrund vorliegt und die Verhängung der Untersuchungshaft aus diesem Grund auch notwendig ist. Darüber darf die gesetzliche Vorschreibung der Verhängung der Untersuchungshaft nicht in Zweifel lassen, was der angefochtene §173 Abs6 StPO mit der Festlegung einer "bedingt obligatorischen" Untersuchungshaft aber tut.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Untersuchungshaft, Strafprozessrecht, Strafrecht, VfGH / Parteiantrag, Determinierungsgebot, Freiheit persönlicheEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:G53.2022Zuletzt aktualisiert am
30.01.2023