TE Vwgh Erkenntnis 2022/12/20 Ra 2022/21/0127

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Veröffentlicht am 20.12.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §56
BFA-VG 2014 §21 Abs1
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z5
FrPolG 2005 §53 Abs4
FrPolG 2005 §59 Abs4
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwRallg
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A K, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. April 2022, L512 2243035-1/13E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines unbefristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, wurde im Oktober 1989 in Österreich geboren und hält sich seitdem, im Wesentlichen durchgehend, im Bundesgebiet auf. Ihm wurden Aufenthaltstitel, zuletzt der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“, erteilt.

2        Nach einer Vorverurteilung vom 2. April 2019 wegen der Vergehen des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt und der schweren Körperverletzung zu einer bedingt nachgesehenen dreimonatigen Freiheitsstrafe wurde der Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Linz vom 11. Dezember 2020 gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dieser Entscheidung lag zugrunde, dass er am 29. Juni 2020 unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11 StGB), der auf einer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht habe, nämlich einer paranoiden Schizophrenie, seinen auf der Wohnzimmercouch schlafenden Bruder mit einem Küchenmesser vorsätzlich zu töten versucht habe, wobei die durch eine Stichverletzung bestehende potentielle Lebensgefahr durch eine rechtzeitige Notoperation erfolgreich abgewendet werden konnte. Der Revisionswerber habe dadurch eine Tat begangen, die ihm, wäre er zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, als das Verbrechen des versuchten Mordes nach den §§ 15 Abs. 1, 75 StGB zuzurechnen gewesen wäre. Es sei zu befürchten, dass er unter dem Einfluss seiner geistigen und seelischen Abartigkeit weitere mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen werde.

Die Anstaltsunterbringung des Revisionswerbers ist in Vollzug.

3        Im Hinblick auf diese Tathandlungen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 23. April 2021 gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei.

4        Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung ergangenen Erkenntnis vom 25. April 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Das BVwG verwies in seiner Begründung, so lassen sich seine für das Revisionsverfahren relevanten Überlegungen zusammenfassen, darauf, dass insbesondere aus Anlass der erstmaligen strafgerichtlichen Verurteilung vom 2. April 2019 erfolgte Versuche einer Behandlung der psychischen Erkrankung des Revisionswerbers erfolglos geblieben seien. Diese Verurteilung habe somit bei ihm keine Verhaltensänderung bewirkt, sodass eine Fortsetzung der Verübung von Straftaten nicht ausgeschlossen werden könne. Diese Einschätzung stützte das BVwG vor allem darauf, dass die im zweiten Strafverfahren beigezogene psychiatrische Sachverständige Dr. P. in ihrem Gutachten vom 13. Juli 2020 dargelegt habe, der Revisionswerber sei in der Vergangenheit und im Tatzeitpunkt weder krankheitseinsichtig gewesen, noch habe es eine Behandlungsbereitschaft gegeben. Er sei einer Hochrisikogruppe zuzuordnen. Daraus leitete das BVwG ab, nicht nur Familienangehörige könnten von möglichen Attacken des Revisionswerbers betroffen sein, sondern es sei eine Eingrenzung auf eine bestimmte Personengruppe nicht möglich. Aufgrund der Schwere der Straftat, der Unberechenbarkeit des Revisionswerbers und der bestehenden Wiederholungsgefahr sei von einer aktuellen, schwerwiegenden und gegenwärtigen Gefahr auszugehen. Im Hinblick auf sein Gesamtverhalten könne also derzeit keine positive Zukunftsprognose erstellt werden.

6        Zwar sei der psychische Gesundheitszustand des Revisionswerbers, der nunmehr im Maßnahmenvollzug therapiert werde und dabei Medikamente einnehme, so führte das BVwG weiter aus, derzeit stabil. In der Vergangenheit habe sich allerdings gezeigt, dass er hinsichtlich seiner Erkrankung und ihres Behandlungsbedarfs keine Einsicht an den Tag gelegt habe, sodass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass er in die schon gezeigten Verhaltensmuster (Absetzen der Medikamente, Beendigung der Therapien und schließlich wieder die Begehung von schweren Straftaten) zurückfalle, sobald er aus dem Maßnahmenvollzug entlassen werde.

7        Daran anknüpfend vertrat das BVwG dann im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG die Ansicht, dass im Hinblick auf die vom Revisionswerber ausgehende große Gefährlichkeit das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts im Bundesgebiet sein persönliches und familiäres Interesse am Verbleib in Österreich überwiege und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot Art. 8 EMRK nicht verletzt werde. Ein Abhängigkeitsverhältnis des Revisionswerbers von seinen in Österreich lebenden Angehörigen, etwa von seinen drei Brüdern, habe nicht festgestellt werden können.

8        Es sei, so fasste das BVwG zusammen, insgesamt die Annahme gerechtfertigt, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers, dem als in Österreich geborenem Kind eines türkischen Arbeitnehmers ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zukomme und der über den unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfüge, eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle, sodass gemäß § 52 Abs. 5 FPG eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sei. Ebenso lägen aufgrund der gemäß § 21 Abs. 1 StGB erfolgten Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 5 iVm Abs. 6 FPG für die Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes vor, das sich nach den Umständen des Falles auch als angemessen erweise.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

10       Die Revision erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.

11       Das BVwG hat nämlich - wie in der Zulässigkeitsbegründung im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird - bei seiner Gefährdungsprognose nicht ausreichend auf den maßgeblichen Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung des Revisionswerbers aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abgestellt und sich auch bei der Interessenabwägung nicht auf diesen Zeitpunkt bezogen.

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass für die Frage, ob ein Einreiseverbot erlassen werden dürfe, vom Verwaltungsgericht auf den Zeitpunkt der hypothetischen Ausreise bzw. der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung abzustellen ist (siehe dazu jüngst VwGH 10.11.2022, Ra 2022/21/0113, Rn. 8, mit Hinweis auf VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0088, Rn. 12, und VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe, jeweils mwN). In dem zuletzt genannten Erkenntnis wurde diese Auffassung für die insoweit noch aktuelle Rechtslage mit § 53 Abs. 4 FPG begründet, wonach die Frist des Einreiseverbotes mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen beginnt. Für die Dauer des Freiheitsentzuges, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde, ist der Eintritt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung allerdings gemäß § 59 Abs. 4 FPG aufgeschoben. Das gilt sinngemäß auch für die Dauer der gemäß § 21 Abs. 1 StGB verfügten Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (vgl. VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0297, Rn. 9, mwN). Vor allem bei der Gefährdungsprognose wäre daher vom BVwG auf den Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung des Revisionswerbers aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abzustellen gewesen. Entscheidend für die diesbezügliche Beurteilung ist, ob dann etwa eine Behandlung und Medikation Gewähr dafür bieten, dass eine Gefährdung aufgrund der psychischen Erkrankung künftig auszuschließen sein wird (siehe auch dazu das schon genannte Erkenntnis VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0088, Rn. 12, mwN).

13       Das umfasst freilich auch die vom BVwG nur mit vergangenheitsbezogenen Überlegungen beantwortete Frage, ob der Revisionswerber dann krankheitseinsichtig ist und ob zu erwarten ist, er werde nach der Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug die Medikation absetzen. Demzufolge ist aber auch das der Unterbringung gemäß § 21 Abs. 1 StGB zugrundeliegende forensisch-psychiatrische Gutachten vom 13. Juli 2020, das im Wesentlichen noch auf einem weitgehend unbehandelten Zustand des Revisionswerbers basierte, für die Darlegung einer von ihm bei der Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug noch ausgehenden relevanten Gefährdung für sich genommen nicht geeignet.

14       Aber auch die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG ist schon deshalb fehlerhaft, weil dabei nicht auf den Zeitpunkt der Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug abgestellt wurde. Vor dem Hintergrund der psychischen Erkrankung des Revisionswerbers hätte das BVwG im Übrigen auch der mit dem Aufenthalt in Österreich seit seiner Geburt einhergehenden mangelnden sozialen und familiären Verankerung in der Türkei besondere Bedeutung zubilligen müssen. So ist der Revision darin zuzustimmen, dass offenbleibt, ob der Revisionswerber ohne ein unterstützendes Umfeld in der Türkei (seine dort lebenden Eltern seien nach dem Vorbringen derzeit bereits betagt, ein weiterer Bruder habe mit Drogenproblemen zu kämpfen) zu lebensnotwendigen Leistungen (wie etwa Sozialhilfe oder medizinischer Betreuung) tatsächlich Zugang hätte.

15       Das angefochtene Erkenntnis war somit schon aus den dargelegten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16       Der Kostenausspruch stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 20. Dezember 2022

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022210127.L00

Im RIS seit

30.01.2023

Zuletzt aktualisiert am

30.01.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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