TE Vwgh Erkenntnis 2022/12/21 Fe 2021/21/0001

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Veröffentlicht am 21.12.2022
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Index

E000 EU- Recht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
AVG §56
AVG §66 Abs4
BFA-VG 2014 §16 Abs4
BFA-VG 2014 §18 Abs5
BFA-VG 2014 §22a Abs3
BFA-VG 2014 §9 Abs2
EURallg
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGG §42 Abs2 Z2
VwGG §67
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §28 Abs3
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über den Antrag des Landesgerichts Feldkirch vom 25. Juni 2021, 57 Cg 101/20w, auf Feststellung der Rechtswidrigkeit 1. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11. Oktober 2018, 821395805-180969766, 2. des am 19. Oktober 2018 mündlich verkündeten und mit 31. Oktober 2018 schriftlich ausgefertigten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts, L515 2207652-1/22E, sowie 3. des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. November 2018, L515 2207652-2/20E, jeweils betreffend Schubhaft (weitere Parteien: 1. Q A, vertreten durch die Weh Rechtsanwälte GmbH in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1; 2. Republik Österreich - Bund, vertreten durch die Finanzprokuratur in 1010 Wien, Singerstraße 17-19; 3. Bundesverwaltungsgericht; 4. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Gemäß § 67 VwGG wird die Rechtswidrigkeit des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. November 2018, L515 2207652-2/20E, festgestellt.

Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

Begründung

1        Beim antragstellenden Gericht ist zur Zahl 57 Cg 101/20w ein Amtshaftungsverfahren des Klägers Q A (in der Folge: Kläger), eines pakistanischen Staatsangehörigen, gegen die Republik Österreich, Bund, als beklagte Partei anhängig. In seiner Klage begehrte der Kläger die Zahlung von Schmerzengeld, Schadenersatz und Verdienstentgang sowie den Ersatz von entstandenen Verfahrenskosten insbesondere im Hinblick auf die - nach Auffassung des Klägers jeweils qualifiziert rechtswidrige - Anhaltung in Schubhaft, die Abschiebung nach Pakistan, die dadurch erlittene Inhaftierung in Pakistan und die Verweigerung der Wiedereinreise.

2        Dem war im Wesentlichen folgender Verfahrensgang vor den Verwaltungsbehörden und dem Bundesverwaltungsgericht vorgelagert:

3        Der Kläger stellte am 3. Oktober 2012 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 18. Oktober 2012 in Verbindung mit einer Ausweisung abgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 12. November 2012 als unbegründet ab.

4        Mit Bescheid vom 13. Dezember 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Asylfolgeantrag des Klägers vom 15. April 2014 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte (von Amts wegen) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Pakistan zulässig sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 13. Jänner 2017 als unbegründet ab. Die (nach Ablehnung der Behandlung der Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof eingebrachte) außerordentliche Revision gegen diese Entscheidung wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 23. Oktober 2017, Ra 2017/01/0295, als verspätet zurückgewiesen.

5        Mit Bescheid vom 8. Oktober 2018 wies das BFA den Antrag des Klägers vom 22. Jänner 2018 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 zurück, weil seit Erlassung der letzten Rückkehrentscheidung keine maßgebliche Sachverhaltsänderung eingetreten sei. Es erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 und § 52 Abs. 3 FPG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte gemäß § 18 Abs. 2 Z 3 BFA-VG der Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab.

6        Am 11. Oktober 2018 wurde der Kläger festgenommen. Noch am selben Tag verhängte das BFA mit sogleich in Vollzug gesetztem Mandatsbescheid gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung.

7        Begründend führte das BFA aus, eine Rückkehrentscheidung gegen den Kläger sei seit 13. Jänner 2017 rechtskräftig, weshalb gegen ihn eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestehe. Der Kläger sei in Österreich untergetaucht, drei Festnahmeaufträge mit jeweils mehreren Festnahmeversuchen seien erfolglos gewesen. Er habe Einkünfte aus zwei Werkverträgen als Zeitungsausträger erwirtschaftet, die er weder sozialversicherungs- noch steuerrechtlich gemeldet habe, und zusätzlich weiterhin Bezüge aus der Grundversorgung erhalten. Auch während des Bezugs von Einkommen als Lehrling habe er noch Leistungen der Grundversorgung in Anspruch genommen. Aus diesen Gründen sei der Kläger nicht vertrauenswürdig. Es bestehe „höchste Fluchtgefahr“, weil der Kläger über die beabsichtigte Abschiebung nach Pakistan in Kenntnis sei. Gelindere Mittel kämen im Hinblick auf das Vorverhalten des Klägers, der im Bundesgebiet auch keine Familienangehörigen oder Verwandten habe, nicht in Betracht.

8        Die gegen diesen Bescheid sowie gegen die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft seit 11. Oktober 2018 erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit am 19. Oktober 2018 am Ende der durchgeführten Verhandlung mündlich verkündetem und mit 31. Oktober 2018 schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis als unbegründet ab, stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen, und traf diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenaussprüche.

9        Begründend stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass gegen den Kläger eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestehe. Er habe mehrmals seine Abschiebung verhindert, indem er bei mehreren Festnahmeversuchen weder an seiner Unterkunft noch an seinem Arbeitsplatz angetroffen worden sei. Er sei den Aufforderungen der Finanzbehörde, die Einkommensteuer zu entrichten, in zwei Fällen nicht nachgekommen. Als die Finanzpolizei den Kläger an seiner Meldeadresse aufgesucht habe, habe er einen (letztlich abgebrochenen) Fluchtversuch unternommen. Der Kläger sei nicht vertrauenswürdig und bestrebt, durch weitgehendes Meiden seiner der Behörde bekannten Lebensbereiche eine Abschiebung nach Pakistan zu verhindern. Es sei daher davon auszugehen, dass sich der Kläger der anstehenden Abschiebung nach Pakistan am 27. Oktober 2018, für die ein gültiges Heimreisezertifikat vorliege, bei Beendigung der Schubhaft entziehen würde.

10       In rechtlicher Hinsicht ging das Bundesverwaltungsgericht mit näherer Begründung davon aus, dass die aufenthaltsbeendende Maßnahme noch aufrecht sei. Das Vorliegen von Fluchtgefahr im Sinn des § 76 Abs. 3 FPG begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass der Kläger bisher ein Verhalten gesetzt habe, das darauf ausgerichtet gewesen sei, seine Abschiebung zu verhindern. Mit der Anwendung gelinderer Mittel könne nicht das Auslangen gefunden werden, weil der Kläger in der Vergangenheit bereits gezeigt habe, dass er jede Gelegenheit nütze, sich seiner Abschiebung zu entziehen. Die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft bejahte das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf das Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gegenüber den Interessen des Klägers an der Abstandnahme von der Verhängung der Schubhaft. Diese sei als Ultima-ratio-Maßnahme notwendig. An den Gründen, die zur Anordnung der Schubhaft am 11. Oktober 2018 geführt hätten, habe sich auch nichts geändert. Es bestehe kein Zweifel, dass nach wie vor eine erhebliche Fluchtgefahr sowie ein besonders hohes staatliches Interesse an der Sicherstellung der „Anordnung einer Außerlandesbringung“ und anschließender Abschiebung - somit ein erheblicher Sicherungsbedarf - vorliege. Aus diesen Gründen sei auch festzustellen, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

11       Mit Beschluss vom 24. Oktober 2018 hob das Bundesverwaltungsgericht den Bescheid vom 8. Oktober 2018 (betreffend Zurückweisung des Antrags nach § 55 AsylG 2005 und Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen) aufgrund der Beschwerde des Klägers vom 17. Oktober 2018 auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück. In der Begründung wies das Bundesverwaltungsgericht insbesondere auf das hinreichend belegte Vorbringen des Klägers zu seiner verdichteten Integration hin, sodass ohne detaillierte Befragung nicht davon ausgegangen werden könne, dass tatsächlich keine maßgebliche Änderung des Sachverhalts seit Jänner 2017 eingetreten sei. (Dieser Beschluss wurde vom Verwaltungsgerichtshof dann mit Erkenntnis vom 14. November 2019, Ra 2018/22/0276, wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben, weil die Voraussetzungen für eine Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG nicht vorgelegen seien.)

12       Am 24. Oktober 2018 - nach Zustellung des soeben genannten Beschlusses vom selben Tag - beantragte der Kläger in einem als Beschwerde bezeichneten Schriftsatz, das am 19. Oktober 2018 in Erledigung seiner (ersten) Schubhaftbeschwerde verkündete, aber noch nicht ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts „wegen geänderter Sach- und Rechtslage dahingehend abzuändern, dass der Beschwerde stattgegeben und festgestellt wird, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen und der belangten Behörde der Ersatz der gesamten Verfahrenskosten aufgetragen wird“, in eventu der Beschwerde Folge zu geben, den Mandatsbescheid vom 11. Oktober 2018 sowie die damit angeordnete, am 11. Oktober 2018 vollstreckte und „bis heute andauernde“ Schubhaft für rechtswidrig zu erklären und die unverzügliche Enthaftung anzuordnen sowie dem BFA den Ersatz der Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Mit ergänzendem Schriftsatz vom 16. November 2018 beantragte der Kläger (nur mehr) die Feststellung, dass die fortgesetzte Schubhaft ab 24. Oktober 2018 rechtswidrig gewesen sei. Außerdem wurde in diesem Schriftsatz die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abschiebung beantragt, die am 27. Oktober 2018 erfolgt war. Insoweit wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde mit Erkenntnis vom 8. Jänner 2019 als unbegründet ab.

13       Mit Erkenntnis vom 21. November 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde vom 24. Oktober 2018 (in der Fassung des ergänzenden Schriftsatzes vom 16. November 2018) ab, soweit sie sich gegen die Aufrechterhaltung der Schubhaft seit 24. Oktober 2018 richtete, stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen, und traf diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenaussprüche.

14       In der rechtlichen Beurteilung (unter den Überschriften „Feststellungen“ sowie „Beweiswürdigung“ wurde lediglich auf die Feststellungen in der schriftlichen Ausfertigung vom 31. Oktober 2018 des am 19. Oktober 2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses und auf die „Ausführungen zum Verfahrenshergang“ verwiesen, woraus sich der relevante Sachverhalt ergebe) führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die mit Erkenntnis vom 13. Jänner 2017 erlassene Rückkehrentscheidung sei rechtskräftig, durchsetz- und durchführbar. Es sei zweifelhaft, ob die seit dem Eintritt der Rechtskraft der Rückkehrentscheidung getätigten Integrationsbemühungen relevant seien. Zum Zeitpunkt der geplanten Abschiebung sei ein nicht entschiedener Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 vorgelegen, über den voraussichtlich meritorisch zu entscheiden sein werde. Sollte über diesen Antrag positiv zu entscheiden sein, werde dem Kläger die Wiedereinreise zu gestatten sein. Die Behörde habe sich bei Feststellung der Fluchtgefahr erkennbar auf die Ziffern 1 und 3 des § 76 Abs. 3 FPG gestützt. Der Kläger habe ein Verhalten gesetzt, das darauf ausgerichtet gewesen sei, die Behörde bzw. die in ihrem Auftrag tätigen Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zwecks Vereitelung einer Abschiebung zu meiden. Aufgrund der erheblichen Fluchtgefahr könne nicht mit der Anwendung gelinderer Mittel das Auslangen gefunden werden. Die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen bis zum Abschiebezeitpunkt seien vorgelegen, da für die Durchsetzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die Anwesenheit des Klägers erforderlich sei. Da davon auszugehen sei, dass die Abschiebung des Klägers „rechtskonform und faktisch sowie auch zeitnah“ innerhalb der von § 80 FPG vorgegebenen Fristen stattfinden werde, erscheine die „absehbare Dauer“ der Schubhaft auch nicht unverhältnismäßig. Aus diesen Gründen sei festzustellen, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

15       Mit Erkenntnis vom 23. Jänner 2020, Ra 2019/21/0250, hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Jänner 2019 (betreffend Abweisung der Beschwerde gegen die Abschiebung; siehe oben Rn. 12 am Ende) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf, weil sich die vor einer Entscheidung über den Antrag nach § 55 AsylG 2005 durchgeführte Abschiebung als unverhältnismäßig erwies, zumal nicht ausreichend gesichert gewesen sei, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig bzw. die schon bestehende Rückkehrentscheidung noch wirksam gewesen sei. Mit (Ersatz-)Erkenntnis vom 28. Februar 2020 stellte das Bundesverwaltungsgericht dann fest, dass die Abschiebung des Klägers nach Pakistan rechtswidrig gewesen sei.

16       Mit in Rechtskraft erwachsenem Beschluss vom 25. Juni 2021 unterbrach das Landesgericht Feldkirch sein Verfahren gemäß § 11 Abs. 1 AHG bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den im selben Beschluss an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Feststellungsantrag. Nach Darstellung des Verfahrensgangs und des beiderseitigen Vorbringens begründete das Gericht den Antrag zusammengefasst damit, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Frage der Rechtswidrigkeit des Bescheides des BFA vom 11. Oktober 2018, des am 19. Oktober 2018 mündlich verkündeten und mit 31. Oktober 2018 schriftlich ausgefertigten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts sowie des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. November 2018 abhängig sei.

17       Die Parteien machten von der Möglichkeit ergänzender Ausführungen zur Frage der Rechtswidrigkeit dieser Entscheidungen (§ 65 Abs. 1 letzter Satz VwGG) keinen Gebrauch.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Gerichts- und Verwaltungsakten und Übermittlung des Antrags an den Bundesminister für Inneres als Oberbehörde (§ 29 VwGG), der eine Stellungnahme erstattete, erwogen:

1. Zum Bescheid des BFA vom 11. Oktober 2018 und zum am 19. Oktober 2018 mündlich verkündeten und mit 31. Oktober 2018 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts:

18       Das BFA stützte die mit dem genannten Bescheid über den Kläger verhängte Schubhaft auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG, wonach die Schubhaft angeordnet werden darf, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist. Konkret wurde als Schubhaftzweck die Sicherung der Abschiebung angegeben.

19       Als Titel für die beabsichtigte Abschiebung zog das BFA die vom Bundesverwaltungsgericht im Beschwerdeweg mit Erkenntnis vom 13. Jänner 2017 erlassene Rückkehrentscheidung heran. Die mit Bescheid vom 8. Oktober 2018 im Zusammenhang mit der Zurückweisung des Antrags des Klägers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 ergangene Rückkehrentscheidung war zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung hingegen noch nicht durchführbar. Das BFA hatte zwar der Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes folgt aber aus dem Unionsrecht die Verpflichtung, vor der Durchführung der Rückkehrentscheidung die Rechtsmittelfrist und im Fall der Erhebung eines Rechtsmittels - gegebenenfalls auch über die Wochenfrist nach § 16 Abs. 4 und § 18 Abs. 5 BFA-VG hinaus - die gerichtliche Entscheidung über die aufschiebende Wirkung abzuwarten (vgl. VwGH 5.3.2021, Ra 2020/21/0175, Rn. 16 f). Zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung war noch keine Beschwerde erhoben worden und die Rechtsmittelfrist offen (die Beschwerde vom 17. Oktober 2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 23. Oktober 2018 vorgelegt, das schon am 24. Oktober 2018 in der Hauptsache - ohne vorherige Entscheidung über die aufschiebende Wirkung - mit aufhebendem und zurückverweisendem Beschluss entschied).

20       Das BFA durfte aber bei Erlassung des Schubhaftbescheides am 11. Oktober 2018 davon ausgehen, dass die Rückkehrentscheidung vom Jänner 2017 weiterhin wirksam und durchsetzbar war. Es musste zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung nicht annehmen, dass wesentliche Sachverhaltsänderungen - insbesondere die fortgeschrittene Integration des Klägers - bereits zur Wirkungslosigkeit dieser „alten“ Rückkehrentscheidung geführt hatten und es somit an einem Titel für die Durchführung der Außerlandesbringung fehlte (vgl. dazu VwGH 29.6.2017, Ro 2016/21/0007, Rn. 10, mwN), zumal solche wesentlichen Sachverhaltsänderungen im Verfahren über den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 geprüft und mit dem (wenn auch nicht rechtskräftigen) Bescheid vom 8. Oktober 2018 wegen der relativ kurzen vergangenen Zeit und der letztlich nicht verstärkten beruflichen Integration (das Lehrverhältnis des Klägers hatte schon im Jänner 2017 bestanden) verneint worden waren. Auch wenn dieser Bescheid später vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 24. Oktober 2018 wegen fehlender Ermittlungen behoben wurde, lag dessen vom Bundesverwaltungsgericht angenommene Mangelhaftigkeit jedenfalls nicht von vornherein auf der Hand (dazu ist auch anzumerken, dass der Verwaltungsgerichtshof, der diesen Beschluss - wie dargestellt - seinerseits mit Erkenntnis vom 14. November 2019 behob, die Mängel nicht als so wesentlich ansah, dass sie eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigten).

21       Was die Annahme einer nicht durch gelindere Mittel abwendbaren Fluchtgefahr betrifft, stützte sich das BFA - wie eingangs dargestellt - insbesondere auf das „Untertauchen“ des Klägers und die daraus resultierende mehrmalige Vereitelung von Festnahmeversuchen. Im Hinblick auf dieses - als solches unstrittige - dem Kläger zumindest partiell zuzurechnende mehrfache Scheitern einer Festnahme in Verbindung mit dem ebenfalls unstrittigen Fluchtversuch vor der Finanzpolizei ist nicht zu beanstanden, dass das BFA eine Fluchtgefahr im Sinn des § 76 Abs. 3 FPG - durch Verwirklichung jedenfalls der Z 1 (mangelnde Mitwirkung am Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. Umgehung oder Behinderung der Rückkehr oder Abschiebung) und der Z 3 (Bestehen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme) - angenommen hat, der auch nicht mit der Verhängung eines gelinderen Mittels begegnet werden konnte.

22       Da auch keine (sonstigen) Gründe gegen die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft zum Zeitpunkt ihrer Anordnung sprachen, erweist sich der Bescheid des BFA vom 11. Oktober 2018 als rechtmäßig.

23       Ausgehend davon war die Abweisung der Schubhaftbeschwerde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2018 (schriftlich ausgefertigt mit 31. Oktober 2018) jedenfalls insoweit rechtmäßig, als der Schubhaftbescheid nicht für rechtswidrig erklärt wurde. Vom Kläger waren aber auch keine maßgeblichen Änderungen während der Zeit der Anhaltung bis zum 19. Oktober 2018 behauptet worden, sodass die Haft weiterhin und - unter Zugrundelegung des in Aussicht genommenen Abschiebetermins Ende Oktober 2018 - auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, das sich in einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck vom Kläger gemacht hatte, als verhältnismäßig und insgesamt rechtmäßig anzusehen war.

24       Zusammengefasst sind sowohl der Bescheid des BFA vom 11. Oktober 2018, 821395805-180969766, als auch das am 19. Oktober 2018 mündlich verkündete und mit 31. Oktober 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L515 2207652-1/22E, nicht rechtswidrig, weshalb der Antrag des Landesgerichts Feldkirch in diesem Umfang gemäß § 67 VwGG abzuweisen war.

2. Zum Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. November 2018:

25       Aufgrund der zweiten, am 24. Oktober 2018 erhobenen und mit Schriftsatz vom 16. November 2018 eingeschränkten Schubhaftbeschwerde des Klägers hatte das Bundesverwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit der Schubhaft im Zeitraum vom 24. Oktober 2018 bis zu seiner Abschiebung am 27. Oktober 2018 zu beurteilen.

26       Dabei war zu berücksichtigen, dass das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 24. Oktober 2018 (zugestellt am selben Tag) gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG den Bescheid des BFA vom 8. Oktober 2018 betreffend (insbesondere) Zurückweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen hatte, weil das BFA den Bescheid zu Unrecht ohne Einvernahme des Klägers und ohne ausreichende Würdigung der von ihm gesetzten Integrationsschritte erlassen habe. Ab dem Zeitpunkt der Erlassung dieses Beschlusses konnte nicht mehr ohne weiteres von der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung vom Jänner 2017 und einer zeitnahen Abschiebbarkeit des Klägers ausgegangen werden, und zwar ungeachtet dessen, dass der genannte Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts letztlich mit dem schon mehrfach erwähnten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. November 2019, Ra 2018/22/0276, aufgehoben wurde (dies deswegen, weil die vom Bundesverwaltungsgericht als notwendig erachtete Einvernahme des Klägers von diesem Gericht selbst vorzunehmen gewesen wäre).

27       Die genannte Rückkehrentscheidung gehörte zwar formell weiterhin dem Rechtsbestand an, nach der bereits zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 29.6.2017, Ro 2016/21/0007, Rn. 10) verliert eine aufenthaltsbeendende Maßnahme jedoch ihre Wirksamkeit, wenn sich die Beurteilungsgrundlagen im Hinblick auf die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK iVm § 9 Abs. 2 BFA-VG maßgeblich zu Gunsten des Fremden geändert haben. Ab dem Zeitpunkt der mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Oktober 2018 erfolgten Aufhebung des Bescheides vom 8. Oktober 2018 lagen in diesem Sinn konkrete Zweifel an der aufrechten Wirksamkeit der Rückkehrentscheidung vom Jänner 2017 derart auf der Hand, dass auch im Schubhaftbeschwerdeverfahren eine diesbezügliche Prüfung vorzunehmen war, kann doch die - im Hinblick auf die Begründung des genannten Aufhebungsbeschlusses jedenfalls in Betracht zu ziehende - aktuelle Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nur bedeuten, dass auch eine bereits zuvor erlassene Rückkehrentscheidung keine Rechtswirkungen mehr entfaltet (vgl. dazu auch das Erkenntnis VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0250, betreffend die Abschiebung des Klägers). Vor diesem Hintergrund hätte es einer näheren Auseinandersetzung mit der Wirksamkeit der Rückkehrentscheidung vom Jänner 2017 bedurft, die sich dem Erkenntnis vom 21. November 2018 aber nicht entnehmen lässt. Vielmehr beschränkte sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidungsbegründung darauf, darzulegen, dass das anhängige Verfahren über den Antrag nach § 55 AsylG 2005 nicht der Abschiebung entgegenstehe. Es verkannte aber, dass die im Verfahren über diesen Antrag zu prüfenden und vom Bundesverwaltungsgericht in seinem aufhebenden Beschluss vom 24. Oktober 2018 zumindest potentiell als maßgeblich erachteten integrationsstärkenden Umstände die Wirkungslosigkeit der Rückkehrentscheidung vom Jänner 2017 und damit das Fehlen eines Titels für die Abschiebung bedeuten konnten. Mit diesem Aspekt hat sich das Bundesverwaltungsgericht - wie erwähnt - nicht beschäftigt, sondern es ist davon ausgegangen, dass eine Abschiebung (und damit grundsätzlich auch eine Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung) auch bei Anhängigkeit eines Verfahrens über einen Antrag nach § 55 AsylG 2005 - selbst wenn er aussichtsreich sein könnte - zulässig und verhältnismäßig sei, weil das Verfahren ohnedies auch nach der Abschiebung fortzusetzen und dem Fremden dann gegebenenfalls die Wiedereinreise zu ermöglichen sei. Dass diese Ansicht hinsichtlich der Voraussetzungen einer Abschiebung verfehlt ist, ergibt sich bereits aus dem schon genannten Erkenntnis VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0250, betreffend die Abschiebung des Klägers: Sie wurde als unverhältnismäßig angesehen, weil nicht ausreichend gesichert war, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig bzw. die schon bestehende Rückkehrentscheidung noch wirksam war.

28       Das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. November 2018 enthielt auch einen auf § 22a Abs. 3 BFA-VG gestützten Ausspruch, dass die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung des Klägers in Schubhaft vorlägen. Dieser Ausspruch ist schon deswegen rechtswidrig, weil das Bundesverwaltungsgericht dafür mangels zum Zeitpunkt seiner Entscheidung aufrechter Schubhaft des Klägers nicht zuständig war (vgl. dazu VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0086, Rn 15). Der Kläger konnte dadurch freilich nicht in Rechten verletzt werden.

29       Aus den dargelegten Erwägungen erweist sich das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. November 2018, L515 2207652-2/20E, einschließlich der Kostenaussprüche als rechtswidrig. Es war somit die Rechtswidrigkeit dieses Erkenntnisses gemäß § 67 VwGG festzustellen.

Wien, am 21. Dezember 2022

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Beachtung einer Änderung der Rechtslage sowie neuer Tatsachen und Beweise

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:FE2021210001.H00

Im RIS seit

30.01.2023

Zuletzt aktualisiert am

30.01.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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