TE Vfgh Erkenntnis 2022/12/1 E1617/2022

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Veröffentlicht am 01.12.2022
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Der Beschwerdeführer leidet seit seiner Kindheit an einer Temporallappenepilepsie, wobei sich in Teilbereichen Störungen der Orientierung, der Gedächtnisleistung sowie der kognitiven Erfassung und Verarbeitung im Rahmen der Epilepsie finden. Nach den Aussagen in der mündlichen Verhandlung vergisst der Beschwerdeführer etwa beim Verlassen des Hauses bereits die Dinge, die er einkaufen wollte, oder er begibt sich an dem einem Gerichtstermin folgenden Tag wiederum zu Gericht, weil er vergessen hat, dass der Gerichtstermin bereits am Tag zuvor stattgefunden hat. Seine Lernfähigkeit ist auf Grund der Gedächtnisleistung eingeschränkt. Beim Beschwerdeführer wurde im Jahr 2019 eine temporale Resektion mit Amygdala-Hippocampektomie (operative Entfernung des Hippocampus) durchgeführt; seither trägt er ein Implantat. Der Beschwerdeführer nimmt Antiepileptika und Antidepressiva. Seit der Operation fallen die Anfälle deutlich milder aus.

Das Bezirksgericht Favoriten bestellte mit Beschluss vom 10. Mai 2017 eine Angehörige des Beschwerdeführers zu dessen Erwachsenenvertreterin.

Auf Grund einer bevorstehenden Ehe hielt sich der Beschwerdeführer zwischen 2017 und 2018 immer wieder in Inguschetien auf. Er heiratete im Mai 2018 eine russische Staatsangehörige, die Ehe wurde aber zwischenzeitlich wieder geschieden.

2. Am 28. März 2012 stellte der Beschwerdeführer im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 14. April 2014 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, und stellte fest, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist.

3. In Erledigung der dagegen erhobenen Beschwerde wurde das Verfahren im Hinblick auf Spruchpunkt I. des Bescheides vom 14. April 2014 mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. September 2015 eingestellt. Mit Erkenntnis vom 8. September 2015 wurde dem Beschwerdeführer nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat zuerkannt und ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Der Beschwerdeführer leide an Epilepsie und weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen (ua Suizidalität) und benötige stationäre psychiatrische Behandlung. Das BFA erteilte dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 2. August 2016 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 11. September 2018.

4. In weiterer Folge wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung des subsidiären Schutzes mit Bescheid vom 20. Februar 2019 ab (Spruchpunkt III.), erkannte den mit Erkenntnis vom 8. September 2015 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I.), entzog die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunkt II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 (Spruchpunkt IV.), erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt V.), stellte fest, dass die Abschiebung in den Herkunftsstaat zulässig ist (Spruchpunkt VI.), und setzte eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VII.). Trotz seiner Erkrankungen habe sich der Beschwerdeführer mehrmals (über mehrere Wochen) in seinem Herkunftsstaat aufgehalten.

5. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 27. Mai 2022 im Hinblick auf die Spruchpunkte I. bis IV. ab (Spruchpunkt A) I.). Im Übrigen behob es den Bescheid vom 20. Februar 2019, erklärte eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf den Herkunftsstaat auf Dauer für unzulässig und erteilte eine "Aufenthaltsberechtigung" für zwölf Monate (Spruchpunkt A) II.).

6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II. Rechtslage

1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005Bundesgesetzblatt Teil eins, 100 aus 2005,, idFin der Fassung BGBl I 234/2021Bundesgesetzblatt Teil eins, 234 aus 2021, lauten auszugsweise wie folgt:

"Arten und Form der Aufenthaltstitel

§54. (1) Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen werden Drittstaatsangehörigen erteilt als:

1. 'Aufenthaltsberechtigung plus', die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß §17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl Nr 218/1975Bundesgesetzblatt Nr 218 aus 1975, berechtigt,

2. 'Aufenthaltsberechtigung', die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt, 3. […]

(2) Aufenthaltstitel gemäß Abs1 sind für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen. Aufenthaltstitel gemäß Abs1 Z1 und 2 sind nicht verlängerbar.

(3) […]

Aufenthaltstitel aus Gründen des Art8 EMRK

§55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß §9 Abs2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß §9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl I Nr 68/2017Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr 68 aus 2017,, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§5 Abs2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl Nr 189/1955Bundesgesetzblatt Nr 189 aus 1955,) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs1 Z1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."

2. §9 des Bundesgesetzes zur Integration rechtmäßig in Österreich aufhältiger Personen ohne österreichischer Staatsbürgerschaft (Integrationsgesetz – IntG), BGBl I 68/2017Bundesgesetzblatt Teil eins, 68 aus 2017,, idFin der Fassung BGBl I 42/2020Bundesgesetzblatt Teil eins, 42 aus 2020, lautet auszugsweise wie folgt:

"Modul 1 der Integrationsvereinbarung

§9. (1) Drittstaatsangehörige (§2 Abs1 Z6 NAG) sind mit erstmaliger Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §8 Abs1 Z1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet. Diese Pflicht ist dem Drittstaatsangehörigen nachweislich zur Kenntnis zu bringen.

(2) Der Erfüllungspflicht gemäß Abs1 haben Drittstaatsangehörige binnen zwei Jahren ab erstmaliger Erteilung des Aufenthaltstitels gemäß §8 Abs1 Z1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG nachzukommen. Unter Bedachtnahme auf die persönlichen Lebensumstände des Drittstaatsangehörigen kann der Zeitraum der Erfüllungspflicht auf Antrag mit Bescheid verlängert werden. Diese Verlängerung darf die Dauer von jeweils zwölf Monaten nicht überschreiten; sie hemmt den Lauf der Fristen nach §14.

(2a) – (3) […]

(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige

1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß §11 vorlegt,

3. – 5. […]

(5) Ausgenommen von der Erfüllungspflicht gemäß Abs1 sind Drittstaatsangehörige,

1. die zum Ende des Zeitraums der Erfüllungspflicht (Abs2) unmündig sein werden;

2. denen auf Grund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustands die Erfüllung nicht zugemutet werden kann; der Drittstaatsangehörige hat dies durch ein amtsärztliches Gutachten nachzuweisen;

3. wenn sie schriftlich erklären, dass ihr Aufenthalt die Dauer von 24 Monaten innerhalb von drei Jahren nicht überschreiten soll; diese Erklärung enthält den unwiderruflichen Verzicht auf die Stellung eines weiteren Verlängerungsantrags im Sinne des §2 Abs1 Z11 NAG nach dem ersten Verlängerungsantrag.

(6) Die Behörde kann von Amts wegen mit Bescheid feststellen, dass der Drittstaatsangehörige trotz Vorliegen eines Nachweises gemäß Abs4 Z1 das Modul 1 der Integrationsvereinbarung mangels erforderlicher Kenntnisse gemäß §7 Abs2 Z1 nicht erfüllt hat.

(7) Der Nachweis über die Erfüllung des Moduls 1 gemäß Abs4 Z1 oder Abs4 iVm.in Verbindung mit §10 Abs2 Z1 darf zum Zeitpunkt der Vorlage im Rahmen eines Verlängerungsverfahrens (§24 NAG) nicht älter als zwei Jahre sein."

III. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses richtet, ist sie auch begründet.

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vglvergleiche VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

Aus Art8 EMRK ist keine generelle Verpflichtung abzuleiten, dem Wunsch eines Fremden, sich in einem bestimmten Mitgliedstaat aufzuhalten, nachzukommen (VfSlg 19.713/2012, 20.286/2018 mwN zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Unter besonderen Umständen kann sich aus Art8 EMRK aber eine Verpflichtung des Staates ergeben, den Aufenthalt eines Fremden zu ermöglichen (vglvergleiche zB VfSlg 17.734/2005, 19.162/2010, 20.049/2016, 20.286/2018) mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen Eingriff in Art8 EMRK bildet.

Art7 Abs1 Satz 3 B-VG zu Folge darf "[n]iemand […] wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Der Verfassungsgesetzgeber hat mit der Aufnahme eines ausdrücklichen Verbotes der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen betont, dass staatliche Regelungen, die zu einer Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen führen, einer besonderen sachlichen Rechtfertigung bedürfen (VfSlg 19.732/2013).

2. Dem Bundesverwaltungsgericht ist im Hinblick auf Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses in Bezug auf Art8 EMRK iVmin Verbindung mit Art7 Abs1 Satz 3 B-VG ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

2.1. Gemäß §10 Abs1 Z5 AsylG 2005 ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit einer – Drittstaatsangehörige zur Ausreise in ihren Herkunftsstaat verpflichtenden – Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG zu verbinden, sofern kein Aufenthaltstitel nach §57 AsylG 2005 zu erteilen ist. Gemäß §9 Abs1 BFA-VG ist eine in Art8 EMRK eingreifende Rückkehrentscheidung nur im Falle ihrer dringenden Erforderlichkeit zur Erreichung der in Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele zulässig, worüber gemäß §9 Abs3 BFA-VG zwingend begründet abzusprechen ist. Dabei sind nach §9 Abs2 BFA-VG unter anderem die Art, Dauer und Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des bisherigen Aufenthaltes, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens sowie der Grad der Integration zu berücksichtigen. Ist im Lichte der maßgeblichen Kriterien die Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens geboten, ist gemäß §55 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art8 EMRK von Amts wegen oder auf begründeten Antrag zu erteilen. Eine entsprechende amtswegige Prüfpflicht für Fälle einer dauerhaften Unzulässigkeit von (Art8 EMRK verletzenden) Rückkehrentscheidungen sieht auch §58 Abs2 AsylG 2005 vor (s VfSlg 20.063/2016).

Wenn dies gemäß §9 Abs2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist, ist somit eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen. Hat der Drittstaatsangehörige darüber hinaus das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß §9 IntG erfüllt oder übt er zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§5 Abs2 ASVG) erreicht wird, dann ist eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen (§55 AsylG 2005). Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige unter anderem einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß §11 IntG vorlegt (§9 Abs4 IntG). Nach §9 Abs5 Z2 IntG sind Drittstaatsangehörige von der Pflicht zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung ausgenommen, denen auf Grund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustandes die Erfüllung nicht zugemutet werden kann; der Drittstaatsangehörige hat dies durch ein amtsärztliches Gutachten nachzuweisen.

Während eine "Aufenthaltsberechtigung" zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG vorliegt, berechtigt, erfordert eine "Aufenthaltsberechtigung plus" keine Berechtigung nach dem AuslBG, sondern berechtigt an sich zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß §17 AuslBG. Auch an anderer Stelle knüpfen unterschiedliche Rechtsfolgen an die "Aufenthaltsberechtigung" bzw "Aufenthaltsberechtigung plus", wenn etwa §4 Abs4a Z6 IVF-Fonds-Gesetz Personen, die über eine "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß §55 Abs1 AsylG 2005 verfügen, in den Kreis der Anspruchsberechtigten auf Kostentragung aufnimmt, Personen mit einer "Aufenthaltsberechtigung" aber nicht erwähnt.

2.2. Im Zusammenhang mit der Interessenabwägung im Sinne des Art8 EMRK führt das Bundesverwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung aus, dass die "ausgeprägte Epilepsierkrankung, die [die] Gedächtnisleistung deutlich einschränkt", dafür ursächlich sei, dass sich der Beschwerdeführer "bisher keine Deutschsprachkenntnisse aneignen" habe können. Außerdem habe der Beschwerdeführer "nicht am Arbeitsmarkt Fuß fassen" können. Durch die Krankheit sei der Beschwerdeführer nur eingeschränkt arbeitsfähig, weshalb der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert sei. Dies sei ihm aber nicht im gleichen Maße anzulasten wie gesunden Menschen.

Bei der Beurteilung, welcher Aufenthaltstitel in Frage komme, weist das Bundesverwaltungsgericht hingegen lediglich darauf hin, dass der Beschwerdeführer das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß §9 IntG bisher nicht erfüllt habe und auch keine Erwerbstätigkeit ausübe, weshalb eine "Aufenthaltsberechtigung" gemäß §54 Abs1 Z2 AsylG 2005 zu erteilen gewesen sei, aber keine "Aufenthaltsberechtigung plus". Das Bundesverwaltungsgericht prüft somit nicht – jedenfalls nicht in einer für den Verfassungsgerichtshof nachvollziehbaren Weise –, ob die Ausnahmebestimmung des §9 Abs5 Z2 IntG erfüllt ist, wonach Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung nicht erfüllen müssen, wenn ihnen dies auf Grund ihres Gesundheitszustandes nicht zumutbar ist.

Auch übersieht das Bundesverwaltungsgericht im Zusammenhang mit der zweiten Alternative des §55 Abs1 Z2 AsylG 2005 – durch erlaubte Erwerbstätigkeit erlangtes Einkommen über der Geringfügigkeitsgrenze – die durch Art7 Abs1 Satz 3 B-VG gebotene Berücksichtigung der Behinderung des Beschwerdeführers für die Auslegung des §55 Abs1 Z2 AsylG 2005, wenn es für seine Entscheidung auf eine fehlende Erwerbstätigkeit abstellt, ohne sich dabei mit den eigenen Feststellungen auseinanderzusetzen, dass es für den Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen nur schwer möglich ist, "am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen".

3. Das Bundesverwaltungsgericht hat demzufolge §55 Abs1 Z2 AsylG 2005 auf den Beschwerdeführer in einer Weise angewendet, die ausgehend von den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes vor dem Hintergrund des Art7 Abs1 Satz 3 B-VG mit Art8 EMRK nicht zu vereinbaren ist (vglvergleiche VfGH 24.11.2020, E1089/2020), weil es durch die Verfassungsbestimmung des Art7 Abs1 Satz 3 B-VG gebotene Prüfschritte nicht durchgeführt hat und damit ein verfassungsrechtlich wesentliches Kriterium bei seiner Beurteilung unberücksichtigt gelassen hat.

B. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Verlängerung des subsidiären Schutzes, gegen die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen den Entzug der befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter sowie gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 richtet, wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vglvergleiche VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVmin Verbindung mit §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E1617.2022

Zuletzt aktualisiert am

26.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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