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10/07 Verfassungs- und VerwaltungsgerichtsbarkeitNorm
B-VGLeitsatz
Auswertung in ArbeitSpruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973Bundesgesetzblatt Nr 390 aus 1973,) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin ist afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum schiitischen Glauben. Sie reiste gemeinsam mit ihrer Mutter und zwei ihrer Brüder legal nach Österreich ein und stellte hier am 5. Februar 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. Februar 2020 wurde der Mutter der Beschwerdeführerin auf Grund ihrer "westlichen Orientierung" der Status der Asylberechtigten zuerkannt und begründend ua ausgeführt, dass sie ihre Einstellung auch an ihre Kinder weitergebe.
2. Mit Bescheid vom 8. Mai 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).
3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, welches am 11. Juni 2021 eine mündliche Verhandlung durchführte. In der Niederschrift der mündlichen Verhandlung ist festgehalten, dass die Beschwerdeführerin in einem "westlichen Outfit" sowie geschminkt erschienen sei und die an sie gerichteten Fragen zum Teil unaufgefordert auf Deutsch beantwortet habe. Befragt, wie sie sich ihr weiteres Leben in Österreich vorstelle, gab sie Folgendes an:
"Ich habe hier Freiheit, ich kann hier machen was ich möchte. Ich möchte hier studieren, arbeiten. Mit meinen Freunden treffen und ausgehen. Ich möchte shoppen. Ich kann hier Sport machen, das Schwimmbad besuchen und all das was ich möchte, kann ich hier machen."
Die Frage, wie sie sich ihre Zukunft vorstelle, beantwortete sie wie folgt:
"Ich hoffe auf eine helle Zukunft. Ich möchte eine starke Person sein, eine starke Dame in der Gesellschaft. Ich würde gerne mein Studium weiter lernen. Ich würde dann gerne arbeiten. Und ein persönliches Leben für mich organisieren. Ich möchte von niemanden abhängig sein und meine Hand niemanden strecken und auf meinen eigenen Füßen stehen."
Des Weiteren gab die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung unter anderem an, dass sie derzeit ihren Pflichtschulabschluss im Jugendcollege des Arbeitsmarktservice Wien (im Folgenden: AMS Wien) mache und legte eine entsprechende Kursbesuchsbestätigung vor. Sie wolle den Beruf der Bürokauffrau erlernen, wofür sie eine Lehrstelle suchen müsse. Außerdem wolle sie einen Führerschein bekommen. Sie besuche eine Bibliothek, lese psychologische Bücher zum Thema der Stärkung der Rolle der Frau sowie Romane und sei – vor der Corona-Zeit – gemeinsam mit ihren Freunden im Schwimmbad, beim Einkaufen, im Restaurant und am Abend am Schwedenplatz unterwegs gewesen. Die Beschwerdeführerin gab an, im Rahmen ihrer Ausbildung € 13,– pro Tag zu erhalten. Außerdem bekomme sie von ihren Brüdern Geld, welches sie spare und für ihre Einkäufe, Freizeittätigkeiten und ein Fitnessstudio ausgebe.
Nach ihren Befürchtungen im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan wurde die Beschwerdeführerin nicht befragt. Dazu aufgefordert, (zusätzliche) Fragen ohne Dolmetscherin auf Deutsch zu beantworten, wurde sie nicht.
4. Mit Entscheidung vom 30. Juli 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab. Unter der Rubrik "Zu den Fluchtgründen:" stellt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes fest:
"2. Die BF bringt mit ihrer Lebensführung teilweise die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck (zB Arbeitswunsch, Bekleidung, Freiheit). Ihre Abkehr von den herrschenden politischen oder religiösen Normen für Frauen in Afghanistan ist nicht so grundlegend, dass bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung zu rechnen ist. Sie hat keine Lebensweise verinnerlicht, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Bei der BF handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als 'westlich' bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist."
Dazu führt das Bundesverwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung näher aus:
"2. Zur Situation der BF in Österreich ist festzuhalten, dass im Verfahren nicht hervorgekommen ist, dass die BF nunmehr ein gänzlich von afghanischen Verhältnissen abweichendes Leben führen möchte. Dies entspricht dem persönlichen Eindruck, der seitens der erkennenden Richterin von der BF im Rahmen der Beschwerdeverhandlung gewonnen werden konnte. Die BF hat in der Beschwerdeverhandlung erstmals angegeben, Bürokauffrau werden zu wollen. Eine klare Vorstellung sowie eine konkrete Planung ihres Berufszieles waren in der mündlichen Beschwerdeführung jedoch nicht erkennbar. Sie gab allgemein an, eine Lehrstelle suchen zu müssen. Der grundsätzliche Wunsch nach einem Beruf auch in Zusammenschau mit den diesem Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen zur Berufstätigkeit von Frauen kann nicht als ausschlaggebendes Motiv für eine 'westliche Orientierung' angesehen werden, aus der eine Verfolgung im Herkunftsstaat abzuleiten wäre. Auch stellt allein dieser Wunsch noch keinen substanziellen Bruch mit den gesellschaftlichen Normen in Afghanistan dar. Die BF hat Deutschkurse bis zum Niveau B1 besucht, jedoch noch keine Prüfung abgelegt und konnte in der Verhandlung nur rudimentär auf Deutsch antworten. Der Besuch eines Deutschkurses stellt auch keine besondere Aktivität dar, aus der geschlossen werden kann, dass es der unbedingte Wille der BF ist, eine 'westliche Lebensweise' anzunehmen. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Mindestaktivität und entspricht den Bemühungen der Republik Österreich um Integration jener Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt worden ist. Es ist im Verfahren nicht hervorgekommen, dass die BF nunmehr ein gänzlich von afghanischen Verhältnissen abweichendes Leben führen möchte. So war der BF in Kabul möglich, 9 Jahre lang eine öffentliche Schule, zu besuchen. Allein aus der Tatsache, dass die BF in Österreich alleine einkaufen geht, sich mit Freunden – keine Österreicher, sondern Jugendliche anderer Nationalitäten (VH-P., S. 17) – trifft und psychologische Bücher zum Thema der Stärkung der Rolle der Frau liest bzw von ihrer Mutter kennt, kann nicht auf ein Weltbild geschlossen werden, das gänzlich allumfassend in Afghanistan jenem einer Frau widerspricht. Unternehmungen wie das Treffen von Freunden, Schwimmen gehen und shoppen stellen noch kein ausreichend tragfähiges Substrat für die Annahme eines selbstbestimmten Lebens dar und sind den Lebensumständen und dem Konsumverhalten in Österreich geschuldet. Sie wird von ihren in Österreich lebenden Brüdern unterstützt, um ihr durchaus modisches outfit und ihre Freizeitaktivitäten finanzieren zu können. Im Übrigen wird die Familie von den Brüdern finanziell unterstützt (zB Bezahlen der Miete für eine 120m² Wohnung). Das äußere Erscheinungsbild allein kann im Rahmen der Beurteilung, ob eine westlich orientierte Lebensweise nachhaltig angenommen worden ist, nicht entscheidend sein. Es müssen weitere Umstände hinzutreten, um von einer 'westlichen' Orientierung ausgehen zu können, welche im gegenständlichen Fall nicht (ausreichend) hervorgekommen sind. Auch wenn die freie Wahl der äußeren Erscheinung einen Aspekt 'westlicher Lebensweise' darstellt, so stellen die oben gewürdigten Aspekte, die die tatsächlich gelebten Umstände widerspiegeln, bedeutsamere Merkmale einer – letztlich inneren – Geisteshaltung dar als die plakativ nach außen wahrnehmbare Art der Bekleidung. Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen und aus dem im Rahmen der Beschwerdeverhandlung gewonnenen Gesamteindruck von der BF lässt sich eine Verinnerlichung einer 'westlichen Lebensweise' zusammenschauend nicht ableiten, auch wenn sie mit ihrem optischen Auftreten, das im Widerspruch zum Eindruck der Befragung stand, versucht hat, eine derartige Gesinnung zu zeichnen.
[…]
Schließlich wird festgehalten, dass die BF in der Beschwerdeverhandlung auf die Frage nach der Asylberechtigung angab, dass subsidiärer Schutz nur etwa Kurzfristiges sei und wenn sie einen Pass bekomme, damit reisen könne (VH-P., S. 4). Damit verkennt der BF das Wesen des Asylrechtes, das Schutz vor begründeter Furcht bietet und keine Zweckmäßigkeits- bzw Vorteilserwägungen erfüllt."
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat den Gerichtsakt vorgelegt und – ebenso wie das BFA – von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen. Der Verwaltungsakt wurde dem Verfassungsgerichtshof vom Verwaltungsgerichtshof übermittelt.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973Bundesgesetzblatt 390 aus 1973,, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vglvergleiche zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973Bundesgesetzblatt 390 aus 1973,, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan stellt das Bundesverwaltungsgericht unter anderem fest, dass "Frauen, die als 'verwestlicht' wahrgenommen werden, […] Gewalt von ihrer Familie, konservativen Elementen in der Gesellschaft und Aufständischen ausgesetzt sein" können.
3.2. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass die Beschwerdeführerin "mit ihrer Lebensführung teilweise die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck (zB Arbeitswunsch, Bekleidung, Freiheit)" bringe. Das Bundesverwaltungsgericht verweist hiezu auf die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin in Österreich alleine einkaufen, schwimmen und shoppen gehe, sich mit Freunden treffe und psychologische Bücher zum Thema der Stärkung der Rolle der Frau lese bzw von ihrer Mutter kenne. Ebenfalls angeführt wird ein "durchaus modisches outfit" der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Das Bundesverwaltungsgericht stellt schließlich den Wunsch der Beschwerdeführerin Bürokauffrau zu werden fest, kommt aber zu dem Schluss, dass eine konkrete Planung des Berufszieles nicht erkennbar sei.
3.3. Das Bundesverwaltungsgericht lässt dabei aber außer Acht, dass die Beschwerdeführerin bereits eine Ausbildung im Rahmen des Jugendcolleges des AMS Wien macht. Wenn es daher ohne nähere Begründung zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich bei den beruflichen Ambitionen der Beschwerdeführerin um einen bloß "grundsätzliche[n] Wunsch nach einem Beruf" handle, ist dies angesichts der bereits begonnenen Ausbildung nicht nachvollziehbar. Außerdem berücksichtigt das Bundesverwaltungsgericht nicht, dass der Mutter der Beschwerdeführerin auf Grund ihrer "westlichen Orientierung" der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde (vglvergleiche Pkt. I.1.).
3.4. Unter Zugrundelegung des Akteninhaltes sind die vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Ausführungen im Hinblick auf die fehlende "westliche Orientierung" vor allem bezogen auf die Lebensgestaltung und Berufsplanung der Beschwerdeführerin nicht nachvollziehbar. Wegen dieser maßgeblichen Aktenwidrigkeit in einem wesentlichen Entscheidungspunkt hat das Bundesverwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis bereits aus diesem Grund mit Willkür belastet (vglvergleiche zur "westlichen Orientierung" auch VfGH 7.6.2021, E4359/2020 ua, 30.11.2021, E3137/2021 ua sowie das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom heutigen Tag, E395/2022).
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973Bundesgesetzblatt 390 aus 1973,) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E3456.2021Zuletzt aktualisiert am
26.01.2023