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41/01 SicherheitsrechtNorm
B-VG Art11 Abs2Leitsatz
Keine Verfassungswidrigkeit der sechswöchigen Frist für Verhaltensbeschwerden nach dem SicherheitspolizeiG im Hinblick auf Art136 Abs2 B-VG; Angleichung der Beschwerdefrist gegen "sonstiges Verhalten" in Besorgung der Sicherheitsverwaltung an die sechswöchige Frist für Maßnahmenbeschwerden aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes, der Rechtsschutzfreundlichkeit, zur Vermeidung von Abgrenzungsfragen und der Besonderheiten des Verfahrens gebotenRechtssatz
Abweisung des Antrags des Verwaltungsgerichts Wien (VGW - LVwG) auf Aufhebung des §88 Abs4 erster und zweiter Satz SicherheitspolizeiG (SPG) idFin der Fassung BGBl I 161/2013; Im Übrigen: Zurückweisung des Antrags. Der Hauptantrag erweist sich als zu eng gefasst. Der Wegfall des ersten Satzes in §88 Abs4 SPG ("Die Frist zur Erhebung einer Beschwerde beträgt sechs Wochen.") ließe den zweiten Satz in §88 Abs4 SPG mit einem bezuglosen "Sie" beginnen und damit unverständlich zurück. Da zwischen dem ersten und dem zweiten Satz in §88 Abs4 SPG - wie das VGW in seinem ersten Eventualantrag zutreffend annimmt - ein untrennbarer Zusammenhang besteht, erweist sich der erste Eventualantrag - zumal auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind - als zulässig, sodass auf den zweiten Eventualantrag nicht einzugehen ist.
Die einheitlich sechswöchige Beschwerdefrist in §88 Abs4 SPG ist nur zulässig, wenn sie iSd Art136 Abs2 B-VG zur Regelung des Gegenstandes erforderlich ist.
Der VfGH hat wiederholt ausgesprochen, dass das Kriterium für die Erforderlichkeit abweichender Bestimmungen nach Art136 Abs2 dritter Satz B-VG jenem des Art11 Abs2 letzter Halbsatz B-VG entspricht: Vom VwGVG abweichende Regelungen dürfen daher nur dann getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes "unerlässlich" sind. Die für abweichende Regelungen in einem Materiengesetz erforderliche "Unerlässlichkeit" kann sich aus besonderen Umständen oder aus dem Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften ergeben. Darüber hinaus geht der VfGH in seiner Rechtsprechung zu Art11 Abs2 und Art136 Abs2 B-VG davon aus, dass von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelungen nur dann zulässig sind, wenn sie nicht anderen Verfassungsbestimmungen, wie etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes, widersprechen.
Mit der in §88 Abs4 SPG für die Erhebung von Beschwerden gegen "sonstiges Verhalten" in Besorgung der Sicherheitsverwaltung vorgesehenen Frist von sechs Wochen hat der Gesetzgeber im Sinne eines kohärenten Rechtsschutzes dem Rechtsschutzsuchenden eine gegenüber §7 Abs4 VwGVG längere Frist eröffnet, um sich gegen Verhaltensweisen in Besorgung der Sicherheitsverwaltung zu wehren. Diese Frist ist ident mit der sechswöchigen Frist für Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer sicherheitsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Maßnahmenbeschwerden) nach §88 Abs1 SPG. Der Gesetzgeber hat damit - ohne dies allerdings in den Materialien zur Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 bzw zum Verwaltungsgerichtsbarkeits-Anpassungsgesetz-Inneres näher zu begründen - das §88 SPG zugrunde liegende System für Beschwerden gegen subjektive Rechtsverletzungen in Angelegenheiten der Sicherheitsverwaltung auch hinsichtlich der Beschwerdefristen beibehalten.
Die Angleichung der Beschwerdefristen in §88 Abs4 SPG - die sich im Übrigen mit der sechswöchigen Frist für Richtlinienbeschwerden nach §89 Abs2 SPG decken - trägt der regelmäßigen Verzahnung von Verhaltensbeschwerden, die Maßnahmenbeschwerden näher stehen als Bescheidbeschwerden, und Maßnahmenbeschwerden gerade im Bereich der Sicherheitsverwaltung Rechnung. So sollten mit der Neuschaffung der Verhaltensbeschwerde in §88 Abs2 SPG in der Stammfassung BGBl 556/1991Bundesgesetzblatt 556 aus 1991, schwierige Abgrenzungsfragen zwischen Akten unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und einem sonstigen Verhalten in Besorgung der Sicherheitsverwaltung möglichst weitgehend vermieden werden. Dem Rechtsschutzsuchenden wird damit (nach wie vor) die Möglichkeit eröffnet, das behördliche Verhalten in seiner Gesamtheit und zeitgleich einer Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen, nämlich in dem Sinne, ob dem polizeilichen Verhalten die Ausübung unmittelbarer Befehls- oder Zwangsgewalt zugrunde lag oder durch das polizeiliche Handeln bloß "auf andere Weise" in seine Rechte eingegriffen wurde. Der Betroffene wird dadurch - im Interesse der Rechtsschutzfreundlichkeit - nicht mit Abgrenzungsfragen belastet. Diese regelmäßig im Bereich der Sicherheitsverwaltung auftretenden Abgrenzungsschwierigkeiten können nur durch gleiche Beschwerdefristen im Verfahren vermieden werden, die dem Betroffenen die gleichzeitige Beschwerdeerhebung ermöglichen.
Dass sich die Entscheidungsfindung in jenen (Ausnahme-)Fällen, in denen - wie es in dem dem Antrag zugrunde liegenden Verfahren der Fall sein dürfte - der Beschwerde allein "sonstiges Verhalten" in Besorgung der Sicherheitsverwaltung zugrunde liegt, um diese zwei Wochen verlängern könnte, ist demgegenüber vernachlässigbar.
Vor diesem rechtlichen Hintergrund erweist sich in Angelegenheiten der Sicherheitsverwaltung die Angleichung der Beschwerdefrist für Verhaltensbeschwerden in §88 Abs4 SPG an die sechswöchige Frist für Maßnahmenbeschwerden aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes und der Besonderheiten des Verfahrens zur Regelung des Gegenstandes als erforderlich im Sinne des Art136 Abs2 B-VG.
Schlagworte
Sicherheitspolizei, Fristen, Beschwerdefrist, Auslegung historische, Rechtsstaatsprinzip, Rechtsschutz, Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, VfGH / Gerichtsantrag, VfGH / PrüfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:G10.2022Zuletzt aktualisiert am
25.01.2023