TE Vfgh Erkenntnis 2022/11/28 E2449/2022

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Veröffentlicht am 28.11.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
FremdenpolizeiG 2005 §52
FremdenpolizeiG 2005 §46
FremdenpolizeiG 2005 §55
  1. AsylG 2005 § 8 heute
  2. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.11.2017 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 84/2017
  3. AsylG 2005 § 8 gültig ab 01.11.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 145/2017
  4. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2014 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 68/2013
  5. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012
  6. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2010 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2009
  7. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2006 bis 31.12.2009
  1. AsylG 2005 § 10 heute
  2. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.11.2017 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 84/2017
  3. AsylG 2005 § 10 gültig ab 01.11.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 145/2017
  4. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2014 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 68/2013
  5. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012
  6. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.07.2011 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 38/2011
  7. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2010 bis 30.06.2011 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2009
  8. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.04.2009 bis 31.12.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 29/2009
  9. AsylG 2005 § 10 gültig von 09.11.2007 bis 31.03.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 75/2007
  10. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2006 bis 08.11.2007
  1. AsylG 2005 § 57 heute
  2. AsylG 2005 § 57 gültig ab 01.07.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 86/2021
  3. AsylG 2005 § 57 gültig von 20.07.2015 bis 30.06.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 70/2015
  4. AsylG 2005 § 57 gültig von 01.01.2014 bis 19.07.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012
  5. AsylG 2005 § 57 gültig von 01.07.2011 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 38/2011
  6. AsylG 2005 § 57 gültig von 01.01.2010 bis 30.06.2011 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 135/2009
  7. AsylG 2005 § 57 gültig von 01.01.2010 bis 31.12.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2009
  8. AsylG 2005 § 57 gültig von 01.04.2009 bis 31.12.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 29/2009
  9. AsylG 2005 § 57 gültig von 01.07.2008 bis 31.03.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  10. AsylG 2005 § 57 gültig von 01.01.2006 bis 30.06.2008

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin, geboren am 8. April 1954, ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Sie stellte erstmals am 24. Februar 2010, unter Vorlage eines polnischen Flüchtlingsausweises, einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete sie damit, dass ihr Sohn Mo*** auf Grund von Fotos, die ihn als tschetschenischen Kämpfer zeigen würden, vom FSB gesucht werde und dass sie von den Beamten des FSB immer wieder unter Druck gesetzt worden sei, ihren Sohn Mo*** zu verraten.

2. Am 29. Juni 2011 kehrte die Beschwerdeführerin freiwillig in die Russische Föderation zurück.

3. Am 8. Jänner 2013 stellte die Beschwerdeführerin erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag begründete sie damit, dass im Bundesgebiet ihre beiden Söhne B*** und W*** sowie ihre beiden Töchter Ma*** und Y*** (bzw nunmehr F***) aufhältig seien und dass sie auf Grund von Problemen ihres jüngeren Sohnes B*** nach Österreich gekommen sei. B*** sei wegen einer Rauferei von der Schule gewiesen worden, habe gesundheitliche Probleme und lebe bei der Tochter der Beschwerdeführerin Y***. Die Beschwerdeführerin habe in der Russischen Föderation Probleme mit dem FSB gehabt, weil dieses ihre beiden Söhne W*** und Mo*** suche.

4. Mit Bescheid vom 7. Februar 2013 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz zurück. Dieser Bescheid wurde vom Asylgerichtshof behoben und das Asylverfahren in weiterer Folge zugelassen.

5. Mit Bescheid vom 19. Juni 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz ab. Dieser Bescheid wurde vom Bundesverwaltungsgericht behoben und das Verfahren an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

6. Mit Bescheid vom 26. März 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation fest und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen fest.

7. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 26. Juli 2022 als unbegründet ab.

Betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die damit zusammenhängenden Aussprüche führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen Folgendes aus:

"Abgesehen vom Aufenthalt des Sohnes Mo*** und dessen Lebensgefährtin, denen jedoch ebenfalls aufgrund der dargestellten Beweiswürdigung kein Anspruch auf Asyl oder dauernden Aufenthalt zukommt, hat die BF erkennbar insofern familiäre Bindungen im Bundesgebiet, als sie am Wochenende die Tochter Ma*** und deren Kinder besucht und im Haushalt mithilft. Andere integrative Aspekte wurden nicht vorgetragen, eine finanzielle Abhängigkeit zur erwähnten Tochter besteht nicht.

Angesichts der getroffenen Beweiswürdigung ist evident, dass die BF und ihr Sohn Mo*** das Asylverfahren dazu missbraucht haben, um eine kostengünstigere und allenfalls bessere medizinische Heilbehandlung zu erreichen, als dies möglicherweise in der Heimat möglich gewesen wäre. Da somit die BF vom Grunde auf unwahre Angaben getätigt hat, ein Vorbringen erfunden hat, um durch das eigene Asylverfahren einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erzwingen, um eine medizinische Behandlung und finanzielle Unterstützung in Österreich zu ermöglichen, sprechen öffentliche Interessen massiv gegen einen weiteren Aufenthalt des [sic!] BF im Bundesgebiet, da mit einer Erteilung eines Aufenthaltstitels ein solches Verhalten geradezu begünstigt und gefördert würde.

Die BF hat wie ihr Sohn Mo*** in Kauf genommen, durch wissentlich falsche Angaben Leistungen in Anspruch zu nehmen, auf die sie bei wahrheitsgemäßen Angaben niemals einen Anspruch gehabt hätte.

Da auch ihr Sohn Mo*** in dessen Beschwerdeverfahren kein dauerhafter Aufenthaltsstatus zuerkannt werden kann, ist zudem davon auszugehen, dass sich praktisch die gesamte Familie der BF wieder in Tschetschenien oder in anderen Landesteilen zusammenfinden wird, sodass im Ergebnis die gesamte Familie, sämtliche familiäre und soziale Bindungen des [sic!] BF weiterhin in der Heimat bestehen, wohingegen sie in Österreich keinerlei nennenswerte sozialen Kontakte – außer zur Tochter am Wochenende - vorweist. Ein besonderes Ausmaß an Integration hat die BF somit nicht dargetan, mag auch das Beschwerdeverfahren und das behördliche Verfahren in Summe eine relativ lange Zeitspanne gedauert haben. Dabei ist jedoch erneut zu konstatieren, dass die BF vom Grunde an unwahre Angaben getätigt hat, somit niemals darauf vertrauen konnte, einzig wegen ihrer unwahren Angaben dauerhaft in Österreich bleiben zu dürfen.

Zu beachten war weiters, dass die lange Verfahrensdauer auch darin begründet liegt, dass die BF auf die Gefährdung durch die Verurteilung ihres Sohnes W*** verwiesen hat, weshalb der Ausgang dieses geführten Verfahrens wegen der Bindungswirkung abzuwarten war.

Auch in der relativ langen Zeit des Asylverfahrens konnte die BF keinerlei relevanten sozialen Bindungen begründen. Der in der Beschwerdeverhandlung vorgetragene Wunsch, in Zukunft als Reinigungskraft zu arbeiten, erscheint angesichts des Lebensalters unrealistisch, die BF lebt seit Einreise von öffentlichen Mitteln, woran sich kaum etwas ändern würde.

[…]

Die Beziehungen der Beschwerdeführerin zu Österreich sind zum Entscheidungszeitpunkt sohin insgesamt äußerst sehr schwach ausgeprägt, während sie in ihrem Herkunftsstaat, in welchem sie aufgewachsen ist und den überwiegenden Teil des bisherigen Lebens verbrachte, sozialisiert ist und nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt.

Der Umstand, dass die Beschwerdeführer [sic!] in Österreich nicht straffällig geworden ist, bewirkt keine Erhöhung des Gewichtes der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da das Fehlen ausreichender Unterhaltsmittel und die Begehung von Straftaten eigene Gründe für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellen (VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).

Aufgrund dieser Interessenabwägung ist davon auszugehen, dass die Interessen der Beschwerdeführerin an einem Verbleib im Bundesgebiet nur sehr geringes Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Die Verfügung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und erscheint auch nicht unverhältnismäßig."

8. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte und mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß §85 Abs2 VfGG verbundene Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie – völlig unsubstantiiert – in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

         Begründend wird dazu hinsichtlich der Rückkehrentscheidung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

         Die Beschwerdeführerin habe zahlreiche Angehörige in Österreich. Die Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** habe in Österreich zunächst den Status des subsidiär Schutzberechtigten und am 25. Mai 2022 die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Die Tochter der Beschwerdeführerin Y*** verfüge in Österreich aktuell über den Status des subsidiär Schutzberechtigten. Die Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** leide an einer Sehbehinderung und sei zu 100 % erwerbsunfähig. Ma*** habe wiederum zwei Töchter (geboren 2004 und 2016) und einen Sohn (geboren 2014), welche zweifellos als Verwandte der Beschwerdeführerin gelten würden. Auch die Tochter der Beschwerdeführerin Y*** habe zwei Kinder (geboren 2001 und 2015). Die Beschwerdeführerin befinde sich spätestens seit Oktober 2012, somit seit über zehn Jahren, in Österreich und verfüge über zahlreiche Freunde. Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme würde eklatant gegen Art8 EMRK verstoßen. Die iSd Judikatur des EGMR geforderte Einzelfallprüfung hätten weder die belangte Behörde noch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführt. Das Bundesverwaltungsgericht sei – im Hinblick auf die Ermittlungspflicht – verpflichtet gewesen, sämtliche Familienangehörige der Beschwerdeführerin zu vernehmen.

9. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

Die Beschwerde ist zulässig.

A. Soweit sie sich gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

2. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

3. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

4. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

4.1. Im angefochtenen Erkenntnis wird unter dem Punkt "Verfahrensgang und Sachverhalt" ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin im Zuge ihrer Erstbefragung angegeben habe, im Bundesgebiet ihre beiden Söhne B*** und W*** sowie zwei Töchter als Bezugspersonen zu haben (vgl S 2 des angefochtenen Erkenntnisses). In weiterer Folge enthält das angefochtene Erkenntnis Feststellungen lediglich im Hinblick auf die rechtmäßig in Österreich lebende Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** (sowie deren Kinder). Keine Feststellungen sind hingegen im Hinblick auf die ebenfalls rechtmäßig in Österreich lebende Tochter der Beschwerdeführerin Y*** (sowie deren Kinder) enthalten. Dementsprechend sind auch im Rahmen der rechtlichen Beurteilung des angefochtenen Erkenntnisses Ausführungen lediglich hinsichtlich der Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** (sowie deren Kinder), nicht jedoch hinsichtlich der Tochter der Beschwerdeführerin Y*** (sowie deren Kinder) enthalten (vgl insbesondere S 95 bis 101 des angefochtenen Erkenntnisses).

4.2. Im angefochtenen Erkenntnis findet sich die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin das Wochenende mit ihrer Tochter Ma*** und deren Kindern verbringe, wobei sie ihrer Tochter Ma*** auch – sofern möglich – im Haushalt und bei der Beaufsichtigung der Kinder helfe (vgl S 10 des angefochtenen Erkenntnisses). Keine Feststellungen finden sich hingegen zu den (in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und in der mündlichen Verhandlung) behaupteten Umständen, dass die Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** an einer hochgradigen Sehbehinderung leide (wozu entsprechende medizinische Befunde vorgelegt wurden), besondere Unterstützung benötige und von der Beschwerdeführerin insoweit abhängig sei, als diese das gesamte Wochenende bei der Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** und deren Kindern verbringe, ihre Tochter Ma*** von allen Seiten unterstütze, Hausarbeiten mache, reinige und koche (vgl S 11 der Verhandlungsniederschrift). Ebenfalls keine Feststellungen finden sich zu dem von der Zeugin in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Umstand, dass sich die Beschwerdeführerin, wenn ihre Tochter Ma*** auf Grund ihrer Sehbehinderung Termine im Krankenhaus habe, um deren Kinder kümmere (vgl S 22 der Verhandlungsniederschrift).

4.3. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung des angefochtenen Erkenntnisses sind sodann Ausführungen dazu enthalten, dass die Beschwerdeführerin (abgesehen von ihrem Sohn Mo*** und dessen Lebensgefährtin, denen kein Anspruch auf Asyl oder dauernden Aufenthalt zukomme) insofern familiäre Bindungen im Bundesgebiet habe, als sie am Wochenende ihre Tochter Ma*** und deren Kinder besuche und im Haushalt helfe, dass keine anderen integrativen Aspekte vorgetragen worden seien und dass keine finanzielle Abhängigkeit zur Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** bestehe (vgl S 99 des angefochtenen Erkenntnisses). Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung des angefochtenen Erkenntnisses finden sich jedoch keine Ausführungen zur behaupteten hochgradigen Sehbehinderung der Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** und der damit verbundenen behaupteten Abhängigkeit von der Beschwerdeführerin. Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen kann – auch nach der Rechtsprechung des EGMR – dann unter den Schutz des Art8 Abs1 EMRK fallen, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl VfSlg 17.851/2006 mwN; VfGH 20.2.2014, U2689/2013 ua).

4.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht nicht festgestellt hat, wie sich die Familiensituation der Beschwerdeführerin in Österreich insgesamt darstellt, insbesondere wie schwerwiegend die behauptete hochgradige Sehbehinderung der Tochter der Beschwerdeführerin Ma*** ist und ob diese damit – wie behauptet – von der Beschwerdeführerin abhängig ist, und dies in weiterer Folge auch nicht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung gewürdigt hat, hat es seine Entscheidung mit Willkür belastet.

B. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E2449.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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