TE Vfgh Erkenntnis 2022/11/28 E99/2022 ua

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Veröffentlicht am 28.11.2022
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.640,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige des Irak. Sie gehören der Volksgruppe der Araber an und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers. Vor ihrer Ausreise lebten die Beschwerdeführer in Bagdad. Nach ihrer Ausreise stellten sie am 16. Oktober 2015 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend wurde von der Erstbeschwerdeführerin vorgebracht, dass der Zweitbeschwerdeführerin eine Zwangsverheiratung gedroht habe, gegen welche sich die Erstbeschwerdeführerin eingesetzt habe. Aus diesem Grund seien die Beschwerdeführer von jenem Mann verfolgt worden, welcher mit der Zweitbeschwerdeführerin eine Zwangsheirat gewollt habe. Die Zweitbeschwerdeführerin sei auch entführt worden, habe aber fliehen können.

2. Mit Bescheiden vom 5. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, erklärte die Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak für zulässig und setzte für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen fest.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 1. Dezember 2021 mit der Maßgabe, dass die Frist für die freiwillige Ausreise vier Wochen betrage, ab. Das Vorbringen, wegen einer Entführung der Zweitbeschwerdeführerin, wegen des politischen Aktivismus des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin oder wegen der Teilnahme der Zweitbeschwerdeführerin an Demonstrationen in Österreich einer Bedrohung ausgesetzt zu sein, sei nicht glaubhaft.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Rechtslage

§20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 68/2013 lautet:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen.

2.1. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt (vgl VfSlg 20.260/2018 und bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012 ua). Dabei begründen sowohl Behauptungen eines bereits erfolgten als auch eines drohenden Eingriffes die Pflicht zur Einvernahme bzw zur Verhandlung und Entscheidung durch Organwalter desselben Geschlechts (VfSlg 20.260/2018; VfGH 2.12.2020, E1414/2020; siehe auch VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007; 22.10.2020, Ro 2020/14/0003).

2.2. Die Erstbeschwerdeführerin brachte in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor, dass ihrer Tochter – der Zweitbeschwerdeführerin – eine Zwangsheirat drohe und die Zweitbeschwerdeführerin deshalb auch entführt worden sei. Dieses Vorbringen wurde in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wiederholt.

2.3. Da die Zuständigkeit durch die entsprechende Behauptung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bzw in der Beschwerde begründet wird, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hat (vgl VfSlg 20.260/2018; VfGH 2.12.2020, E1414/2020; VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007), kommt dem Umstand keine Bedeutung zu, dass der erkennende Richter des Bundesverwaltungsgerichtes dieses Vorbringen als unglaubwürdig gewertet hat.

2.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht über die Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten durch einen Richter männlichen Geschlechts entschieden hat, obgleich §20 Abs2 AsylG 2005 im vorliegenden Fall anzuwenden war und die Zweitbeschwerdeführerin ein Abgehen von der sich daraus ergebenden Zuständigkeit einer Richterin nicht verlangt hat, hat es die Zweitbeschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (VfSlg 19.671/2012, 20.260/2018). Das Erkenntnis ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben. Dieser Mangel schlägt gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auch auf die Entscheidung betreffend die Erstbeschwerdeführerin und den Drittbeschwerdeführer durch (siehe VfSlg 19.855/2014), daher ist auch diese aufzuheben.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E99.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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