TE Vfgh Erkenntnis 2022/12/14 E1487/2022 ua

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Veröffentlicht am 14.12.2022
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidungen und gegen die Aussprüche, dass die Abschiebungen nach Kasachstan zulässig sind und die Frist zur freiwilligen Ausreise 14 Tage beträgt, abgewiesen werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.728,40 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind Staatsbürger der Republik Kasachstan und stellten am 16. Dezember 2012 Anträge auf internationalen Schutz. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des 2009 geborenen Zweitbeschwerdeführers und der 2011 geborenen Drittbeschwerdeführerin. Der Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und lebt dort.

2. Mit – im zweiten Rechtsgang ergangenen – Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10. September 2018, Zlen 821826805-1596874, 821826903-2133830 und 821827007-2134194, wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG (jeweils Spruchpunkt I.) und gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (jeweils Spruchpunkt II.) in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Kasachstan abgewiesen. In den jeweiligen Spruchpunkten III. wurden ihnen gemäß §57 AsylG Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG iVm §9 BFA-VG die Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebungen nach Kasachstan gemäß §46 FPG zulässig seien.

3. Das Bundesverwaltungsgericht wies die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. April 2022 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab (Spruchpunkt A I.), legte gemäß §55 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest (Spruchpunkt A II.) und sprach aus, dass gegen dieses Erkenntnis die Revision unzulässig sei (Spruchpunkt B). Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht unter anderem an, dass die Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer infolge zahlreicher widersprüchlicher Angaben unglaubwürdig seien und dass die Beschwerdeführer in Kasachstan keinen iSv Art2 und 3 EMRK relevanten Risken ausgesetzt seien. In Bezug auf die Erlassung einer Rückkehrentscheidung führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen Folgendes aus (ohne die Hervorhebungen des Originals):

"P1 bis P3 leben im gemeinsamen Haushalt und haben keine Verwandten im Bundesgebiet, weshalb im Fall der gemeinsamen Rückkehr in die Republik Kasachstan kein Eingriff in ihr Familienleben erkannt werden kann. Dazu kommt, dass der Vater von P2 und P3 aktuell wieder in Babayurt in der Russischen Föderation lebt und es dem Kindeswohl entspricht, dass P2 und P3 ihren Vater im Nachbarstaat der Republik Kasachstan besuchen können.

Geht man im vorliegenden Fall von einem bestehenden Privatleben der Beschwerdeführer in Österreich aus, fällt die gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotene Abwägung nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes zu Lasten der Beschwerdeführer aus und die Ausweisungen stellen keinen unzulässigen Eingriff im Sinne des Art8 Abs2 EMRK dar.

[…]

Zur Gewichtung der öffentlichen Interessen ist insbesondere das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 17.03.2005, G78/04, zu erwähnen. Demnach ist das Gewicht der öffentlichen Interessen im Verhältnis zu den privaten Interessen bei der Ausweisung von Fremden, die sich etwa jahrelang legal in Österreich aufgehalten haben und Asylwerbern, die an sich über keinen Aufenthaltstitel verfügen und denen bloß während des Verfahrens Abschiebeschutz zukommt, unterschiedlich zu beurteilen. Es ist auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0041 mit Hinweis auf E30.08.2011, 2008/21/0605; E14.04.2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032; E30.06.2016, Ra 2016/21/0165; VwGH 04.08.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253-12).

Vorauszuschicken ist, dass bereits weiter oben 3. Rechtliche Beurteilung zu den Spruchpunkten II. der Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ausgeführt wurden, dass P1 nach wie vor über sehr starke Bindungen zum Herkunftsstaat verfügt, hat P1 doch den bei weitem überwiegenden Teil ihres Lebens, konkret fast 28 Jahre, in der Republik Kasachstan verbracht, dort ein Studium abgeschlossen, im Jahr 2008 geheiratet und mit den Geburten von P2 und P3 ihre Familie gegründet. P1 ist in der Republik Kasachstan nach wie Eigentümerin einer Wohnung. Das Verhalten von P1, die nichts dabei fand, während des gesamten Asylverfahrens immer wieder bewusst unwahre Angaben zu machen ist auch nicht gerade geeignet eine solide Basis für ihre Integration zu schaffen. P1 bis P3 halten sich seit ihrer Asylantragstellung am 16.12.2012 in Österreich auf, P1 arbeitet nicht, spricht nur mäßig Deutsch, lebte jahrelang von der Grundversorgung, auch wenn P1 derzeit (Leistungsbezug von 12/2012 bis 9/2021) keine Leistungen bezieht; da P1 keine Unterlagen vorlegen konnte wurden die Leistungen der Grundversorgung per 10/2021 eingestellt. Eine dauerhafte wirtschaftliche Integration ist bei P1 jedenfalls nicht ersichtlich und mangels ausreichender Deutschkenntnisse auch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Es liegen keine besonderen Abhängigkeitsverhältnisse zu Personen in Österreich vor und allfällige freundschaftliche Beziehungen sind zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sich P1 ihrer unsicheren aufenthaltsrechtlichen Stellung bewusst sein musste.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 05.10.2017, Ra 2017/21/0119, ausgeführt, dass das 'Kindeswohl' bei der Interessenabwägung nach §9 BFA-VG 2014 zu berücksichtigen ist (Hinweis B30.06.2015, Ra 2015/21/0059 bis 0062; E22.11.2012, 2011/23/0451; E12.09.2012, 2012/23/0017; VfGH 12.10.2016, E1349/2016). Soweit, wie im vorliegenden Fall, Kinder von der Rückkehrentscheidung betroffen sind, sind nach der Judikatur des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (Urteile des EGMR vom 18.10.2006, Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr 46410/99, Rz 58, und vom 06.07.2010, Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr 41615/07, Rz 146). Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie seine Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter ('adaptable age'; Urteile des EGMR vom 31.07.2008, Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr 265/07, Rz 66, vom 17.02.2009, Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr 27319/07, Rz 60, und vom 24.11.2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr 1820/08, Rz 46) befinden (VwGH 21.04.2011, 2011/01/0132). Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass den minderjährigen P2 und P3 der objektiv unrechtmäßige Aufenthalt subjektiv nicht im gleichen Ausmaß wie P1 zugerechnet werden kann (VfGH 07.10.2014, U2459/2012 ua).

P2 und P3 wurden in der Republik Kasachstan geboren und P2 besuchte dort den Kindergarten. P2 ist derzeit zwölf Jahre alt und besucht die erste Klasse einer Hauptschule/neuen Mittelschule und P3 ist neun Jahre alt und geht in die dritte Klasse einer Volksschule […].

Für P2 wurden Schulbesuchsbestätigungen vom 07.07.2017, 06.07.2018, 10.07.2020 (Pflichtgegenstand Deutsch, Lesen, Schreiben: genügend); Sportmotorische Testergebnisse zu vom 20.05.2019 in Vorlage gebracht.

Für P3 wurde ein Schülerstammblatt vom 22.12.2021 (Pflichtgegenstand Deutsch, Lesen, Schreiben: Notenstand per 23.12.2021 befriedigend); Sportmotorische Testergebnisse vom 11.10.2021 vorgelegt. Zudem wurden Unterstützungsschreiben einer Nachbarschaftsgruppe für die Integration der Beschwerdeführer datiert mit 12.01.2022 in Vorlage gebracht.

P1 hatte bis zuletzt in der Beschwerdeverhandlung, ausschließlich lobende Worte für ihren Ehegatten und Vater von P2 und P3 […].

Zusammengefasst ist davon auszugehen, dass die beiden unmündigen minderjährigen P2 und P3 mittlerweile Deutsch sprechen, aber keine herausragenden schulischen Leistungen in Österreich vorzuweisen haben. Nachdem P2 und P3, mangels ausreichender Deutschkenntnisse von P1, nach wie vor in ihrer Muttersprache Russisch erzogen werden ist davon auszugehen, dass eine Rückkehr zum Leben im Herkunftsstaat, wo ihre zahlreichen Verwandte leben, nicht mit unzumutbaren Härten verbunden wäre. Zudem bedürfen P2 und P3 aufgrund ihres Alters weiterhin der Unterstützung ihrer Eltern, wobei ihre Mutter von einer Rückkehr in die Republik Kasachstan betroffen ist. Wie bereits weiter oben ausgeführt, lebt der Vater von P2 und P3 aktuell wieder in der Russischen Föderation, einem Nachbarstaat der Republik Kasachstan und es entspricht dem Kindeswohl, dass die minderjährigen P2 und P3 ihren Vater nach einer, für die Familie finanziell leistbaren, Zugfahrt treffen können (P2 und P3 sind auch Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation). Die - Mangels Einkommen von P1 in Österreich nicht finanzierbare und damit nicht realistische - Alternative wären Flugreisen (von Wien über 3.000 Kilometer), wobei der Vater nicht in der Nähe eines internationalen Flughafens lebt.

Es ist insgesamt nicht davon auszugehen, dass P2 und P3 im Fall ihrer Rückkehr mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert wären, zumal sie zumindest die ersten Lebensjahre im Herkunftsland verbrachten, vor diesem sprachlichen und kulturellen Hintergrund aufwuchsen und nach wie vor von ihrer Mutter erzogen werden; die Gepflogenheiten im Heimatland sind ihnen sohin nicht fremd. Die Existenz der minderjährigen P2 und P3 ist durch ihre akademisch gebildete Mutter gesichert. Eine Rückkehr in ihren Herkunftsstaat steht in Anbetracht der aufgezeigten Umstände, insbesondere des weiteren Zusammenlebens im Familienverband mit ihren Eltern, ihrem Kindeswohl nicht entscheidungsmaßgeblich entgegen.

Es liegen bei P1 bis P3 keine besonderen Abhängigkeitsverhältnisse zu Personen in Österreich vor und allfällige freundschaftliche Beziehungen sind zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sich die Beschwerdeführer ihrer unsicheren aufenthaltsrechtlichen Stellung bewusst sein mussten. Insgesamt kann trotz des neunjährigen Aufenthalts keine Integrationsverfestigung von P1 bis P3 in Österreich glaubhaft gemacht werden und aus ihrem Privatleben sind keine objektiven Gründe ersichtlich, die Rückkehrentscheidungen entgegenstehen würden."

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Spruchpunktes A) I., "soweit damit die Beschwerden gegen Spruchpunkt III. der Bescheide mit den Zl 821826805/1596874, 821826903 – 2133830 und 821827007 – 2134194 gem. §10 Abs1 Z3 AsylG in der Fassung BGBl I Nr 145/2017, §9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr 87/2012 (BFA-VG) in der Fassung BGBl I Nr 56/2018 und §52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr 100/2005 (FPG) abgewiesen werden" und der Spruchpunkte A) II. und B) des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu für den Fall einer Abweisung oder Ablehnung der Behandlung der Beschwerde die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Die Beschwerdeführer bringen unter anderem vor, dass sie vor etwa neuneinhalb Jahren ihre Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sei nur die Mutter – nicht jedoch die minderjährigen Kinder – einvernommen worden. Das Bundesverwaltungsgericht habe nur unzureichend ermittelt, insbesondere seien die Integrationsleistungen falsch ermittelt worden. So sei die Erstbeschwerdeführerin selbsterhaltungsfähig, jedoch gehe das Bundesverwaltungsgericht von einer fehlenden Selbsterhaltungsfähigkeit aus. Die vom Bundesverwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung iSd Art8 EMRK sei ebenso unrichtig: Die Beschwerdeführer befänden sich seit beinahe zehn Jahren in Österreich, die beiden Kinder sprächen herausragend gut Hochdeutsch und auch Dialekt und hätten viele Freunde. Die Beschwerdeführer seien in der Gemeinde gut vernetzt. Diese Umstände hätten bei der Interessenabwägung iSd Art8 EMRK stärker ins Gewicht fallen müssen. Letztlich habe das Bundesverwaltungsgericht die Prüfung des Kindeswohls nur sehr oberflächlich und unzureichend ermittelt. Weiters hätte festgestellt werden müssen, dass der Kontakt zum Vater der Kinder nicht dem Kindeswohl entspreche. Dass der Vater, so er tatsächlich am Leben sein sollte und in der Russischen Föderation lebe, in den letzten mehr als neun Jahren keinen Kontakt zu dem minderjährigen Zweitbeschwerdeführer und der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin aufgebaut habe, lasse vermuten, dass Kontakte zwischen den minderjährigen Beschwerdeführern und ihrem Vater nicht im Interesse des Kindeswohls geboten seien.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet.

II. Erwägungen

A. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen Spruchpunkt B) des angefochtenen Erkenntnisses richtet, unzulässig:

Eine Beschwerde gemäß Art144 Abs1 B-VG ist unzulässig, soweit das Erkenntnis oder der Beschluss des Verwaltungsgerichtes die Zulässigkeit der Revision zum Inhalt hat (Art144 Abs5 B-VG). Gemäß §88a Abs2 Z1 VfGG ist eine Beschwerde gegen Aussprüche gemäß §25a Abs1 VwGG, ob die Revision gemäß Art133 Abs4 B-VG zulässig ist, nicht zulässig. Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen, soweit sie sich gegen den in Spruchpunkt B) des angefochtenen Erkenntnisses getroffenen Ausspruch der Zulässigkeit bzw Unzulässigkeit der Revision richtet (vgl VfGH 1.7.2015, E475/2015).

B. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidungen und gegen die Aussprüche, dass die Abschiebungen nach Kasachstan zulässig sind und die Frist von 14 Tagen zur freiwilligen Ausreise beträgt, wendet, zulässig und begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles kann zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 12.10.2016, E1349/2016 mit Hinweis auf VfSlg 19.362/2011 mwN; VfGH 28.2.2012, B1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99, ÖJZ 2006, 73, sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09, Newsletter Menschenrechte 2011, 169).

2.2. Bei der Prüfung, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ein Kind das Kindeswohl gefährden könnte, sind nicht nur die Auswirkungen einer Trennung von einem Elternteil zu beurteilen (vgl dazu etwa VfGH 28.11.2019, E707/2019 mwN), sondern es ist darüber hinaus zu prüfen, welche Auswirkungen die aufenthaltsbeendende Maßnahme als solche auf das Kindeswohl hat. Dies gilt auch dann, wenn gegen alle Kernfamilienmitglieder eine Rückkehrentscheidung erlassen wird (vgl Lais/Schön, Das Kindeswohl in der Rechtsprechung von VfGH und VwGH, RZ 2021, 211 [217]). Für diese Beurteilung ist insbesondere relevant, wo das Kind geboren und aufgewachsen ist (vgl VfGH 5.3.2012, U1548/11 ua) bzw seit welchem Alter es in Österreich lebt, ob es die Sprache des Herkunftsstaates beherrscht (vgl VfGH 22.9.2014, U2082/2013 ua; VfSlg 19.793/2013), ob es bereits einmal im Herkunftsstaat gelebt hat, welche sozialen Aktivitäten bislang in Österreich gesetzt wurden, insbesondere ob und inwieweit in Österreich die Schule besucht wurde (vgl VfSlg 19.612/2011; VfGH 7.10.2014, U2459/2012 ua), sowie die Frage, ob sich das Kind in einem anpassungsfähigen Alter befindet (vgl etwa VfSlg 19.357/2011; sowie EGMR, 26.1.1999, Fall Sarumi, Appl 43.279/98; EGMR [GK] 6.7.2010, Fall Neulinger und Shuruk, Appl 41.615/07, Newsletter Menschenrechte 2010, 211 [Z147]; EGMR [GK] 16.10.2006, Fall Üner, Appl 46.410/99,

Newsletter Menschenrechte 2006, 251 [Z64]; siehe auch VwGH 16.6.2021, Ra 2020/18/0457 mwN).

2.3. Im konkreten Fall erweist sich die Ermittlungstätigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes in Bezug auf die Aspekte des Kindeswohls als unzureichend, zumal die beiden minderjährigen (damals zehn- bzw zwölfjährigen) Beschwerdeführer in der am 20. Dezember 2021 durchgeführten mündlichen Verhandlung nicht zu ihrer Situation befragt wurden und auch die Mutter der beiden minderjährigen Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung zu diesem Thema nur mangelhaft befragt wurde. Auf Grund dieser mangelhaften Ermittlungstätigkeit ist es nicht nachvollziehbar, wie das Bundesverwaltungsgericht das Maß der Integration (bzw die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene mangelnde "Integrationsverfestigung") der minderjährigen Beschwerdeführer, das in der nach Art8 Abs2 EMRK gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, beurteilen konnte.

3. Indem das Bundesverwaltungsgericht somit kein ordnungsgemäßes, den rechtsstaatlichen Anforderungen genügendes Ermittlungsverfahren geführt und eine mehr als bloß oberflächliche Ermittlung des Sachverhaltes in einem wesentlichen Punkt unterlassen hat, ist die angefochtene Entscheidung mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch Spruchpunkt A) I., soweit durch diesen die Beschwerden gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidungen, gegen die Aussprüche, dass die Abschiebungen nach Kasachstan zulässig sind, als unbegründet abgewiesen wurden, und durch Spruchpunkt A) II. der angefochtenen Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen ist die Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag von 15 vH des Pauschalsatzes, zuzusprechen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 501,40 sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 720,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E1487.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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