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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann-Preschnofsky, in den Rechtssachen der Revisionen von 1. A P, 2. S H, 3. H P, und 4. M P, alle in W, alle vertreten durch Dr. Thomas Boller, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntnerstraße 10, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 16. November 2021, 1. W166 2189196-1/24E, 2. W166 2189197-1/20E, 3. W166 2189198-1/19E und 4. W166 2189199-1/22E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revisionsverfahren werden bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit den Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes jeweils vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
Begründung
1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern des Dritt- und des Viertrevisionswerbers. Sie alle sind Staatsangehörige Afghanistans und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Der Erstrevisionswerber reiste bereits im Jahr 2016 gemeinsam mit dem Viertrevisionswerber ins Bundesgebiet ein. Sie stellten am 10. Juli 2016 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 mit der Begründung, der Erstrevisionswerber habe den Iran verlassen müssen, weil ihm eine Zwangsrekrutierung durch iranische Behörden für den Krieg in Syrien oder eine Abschiebung nach Afghanistan gedroht habe. Am 13. Juni 2017 reisten die Zweitrevisionswerberin und der Drittrevisionswerber auf dem Luftweg von Griechenland kommend nach Österreich ein und sie stellten ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz. Die Zweitrevisionswerberin brachte vor, aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit besonders gefährdet zu sein.
2 Mit Bescheiden je vom 20. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge ab, erteilte den Revisionswerbern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde jeweils mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Die Revisionswerber erhoben dagegen Beschwerden, in der die Zweitrevisionswerberin erstmals vorbrachte, sie sei „westlich orientiert“ und habe eine innere Überzeugung angenommen, die den Grundwerten der afghanischen Gesellschaft widerspreche. Die gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit den angefochtenen Erkenntnissen als unbegründet ab. Es erkannte den Revisionswerbern allerdings jeweils den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Die Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten begründete das Bundesverwaltungsgericht, soweit für die vorliegenden Revisionsverfahren von Relevanz, damit, dass im Verfahren keine Umstände hervorgekommen seien, wonach die Zweitrevisionswerberin in Österreich bereits in einem solche Maß eine westliche Lebensweise führe, dass dies einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Sie habe eine „westliche Orientierung“, der eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise immanent sei, weder identitätsprägend verinnerlicht noch in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert.
5 Gegen die Nichtgewährung von Asyl wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, die (auch) die Abweichung von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung an Frauen aus Afghanistan rügen.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorverfahren eingeleitet, Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet.
7 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
- der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird,
- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
- keinen Sport ausüben dürfen,
im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?
2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“
8 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revisionen ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb die Revisionsverfahren - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - auszusetzen waren (vgl. VwGH 20.11.2020, Ra 2020/20/0100, mwN).
Wien, am 15. Dezember 2022
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021200487.L00Im RIS seit
24.01.2023Zuletzt aktualisiert am
24.01.2023