TE Vfgh Erkenntnis 2022/11/29 E2545/2022

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Veröffentlicht am 29.11.2022
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist nach Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

2. Insoweit wird der Antrag, das angefochtene Erkenntnis aufzuheben, abgewiesen.

II. 1. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

2. Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

III. Der Bund (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

         Sachverhalt, Beschwerdevorbringen, Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer wurde mit 25. September 1992 in die Liste der Gesundheitspsychologen eingetragen und war somit zur selbständigen Ausübung des psychologischen Berufes im Bereich des Gesundheitswesens berechtigt. Bis zum Jahr 2000 war er als Schulpsychologe für den Landesschulrat (nunmehr: Bildungsdirektion) Niederösterreich tätig.

2. Mit Bescheid der Bundesministerin für Gesundheit vom 8. Juli 2015 wurde die mit Mandatsbescheid vom 8. Mai 2013 vorgenommene Streichung des Beschwerdeführers aus der Liste der Gesundheitspsychologen bestätigt und festgestellt, dass die Berechtigung zur Berufsausübung der Gesundheitspsychologie sowie zur Führung der Berufsbezeichnung "Gesundheitspsychologe" auf Grund des Wegfalls der zur Erfüllung der Berufspflichten erforderlichen Vertrauenswürdigkeit nicht besteht. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass die für die Ausübung des Berufes erforderliche Vertrauenswürdigkeit durch Beratungstätigkeiten zum Thema Schwangerschaftsabbruch und das publizistische sowie sozialpolitische Engagement des Beschwerdeführers für den Lebensschutz in Gesamtwürdigung aller Umstände zu verneinen sei. Die vorliegende massive Berufspflichtverletzung lasse auf ein Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers schließen, das mit den Patientenschutzinteressen nicht vereinbar sei.

3. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wies mit Erkenntnis vom 9. August 2022 die dagegen erhobene Beschwerde ab und begründete die Streichung aus der Liste der Gesundheitspsychologen im Wesentlichen mit der auf Grund der Verletzung von Berufspflichten einhergehenden mangelnden Vertrauenswürdigkeit des Beschwerdeführers. Wegen seiner umfassenden Beratungstätigkeiten und publizistischen sowie sozialarbeiterischen Aktivitäten rund um die Themen Schwangerschaftsabbruch und Lebensschutz verstoße der Beschwerdeführer gegen die Berufspflichten als Gesundheitspsychologe, was zu einer mangelnden Vertrauenswürdigkeit führe.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG, Art2 StGG), auf Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Freiheit der Religionsausübung (Art14 StGG, Art9 EMRK), auf Meinungsäußerungsfreiheit (Art10 EMRK), auf Freiheit der Erwerbsausübung (Art6 StGG, Art8 EMRK) und auf ein faires Verfahren (Art6 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses sowie die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof im Fall der Abweisung beantragt wird.

Zusammengefasst wird ausgeführt, dass die Verneinung der Vertrauenswürdigkeit alleine auf Grund der Beurteilung von religiösen und journalistischen Tätigkeiten des Beschwerdeführers dem Gesetz einen verfassungswidrigen Inhalt unterstelle. Dies insbesondere deshalb, weil Angehörige jedweder Berufsgruppe das Recht hätten, in ihren Gewissensfragen frei zu sein, ihre Religion zu praktizieren und sich auch in Publikationen frei zu äußern.

Zum Recht auf ein faires Verfahren nach Art6 EMRK wird im Wesentlichen vorgebracht, dass die Beschwerde im Jahr 2015 erhoben worden sei und das Verfahren bis zur Erlassung des bekämpften Erkenntnisses 7 Jahre gedauert habe, obwohl es außer mündlichen Verhandlungen mit Einvernahmen keine Schwierigkeiten in der Beweisaufnahme im Rahmen des Verfahrens gegeben habe. Zudem sei das Erkenntnis nur in Folge eines Fristsetzungsantrages ergangen. Schon aus dem Grund der überlangen Verfahrensdauer verletze die angefochtene Entscheidung den Beschwerdeführer in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten.

5. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich legte nach Aufforderung durch den Verfassungsgerichtshof den Gerichtsakt vor.

         Erwägungen

         Die Beschwerde ist zulässig.

1.2. In der Beschwerde wird ua vorgebracht, dass der Beschwerdeführer durch die Dauer des Verfahrens im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 Abs1 EMRK verletzt würde.

Dies trifft im Ergebnis zu:

Art6 Abs1 EMRK bestimmt ua, dass jedermann "Anspruch darauf [hat], daß seine Sache [...] innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem [...] Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen [...] zu entscheiden hat".

Art6 EMRK ist auf das Verfahren betreffend das Erlöschen der Berufsberechtigung und die Streichung aus der Liste der Gesundheitspsychologen anwendbar (zum weiten Verständnis der "zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" vgl Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7, 2021, §24 Rz 5 ff und Berka/Binder/Kneihs, Die Grundrechte2, 2019, 808 ff mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR).

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl VfSlg 17.307/2004, 17.582/2005, 17.644/2005, 18.509/2008, 18.743/2009).

Nicht eine lange Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK anzunehmen wäre (vgl VfSlg 16.385/2001 mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte; VfSlg 17.821/2006, 18.066/2007, 18.509/2008).

2. Das verwaltungsbehördliche Verfahren begann mit Erlassung des Mandatsbescheides vom 8. Mai 2013. Dagegen wurde mit Schreiben vom 28. Mai 2013 Vorstellung erhoben. Der daraufhin ergangene Bescheid der Bundesministerin für Gesundheit wurde am 8. Juli 2015 erlassen. Das auf Grund der Beschwerde gegen diesen Bescheid ergangene Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich erging am 9. August 2022 und wurde dem Beschwerdeführer am 11. August 2022 postalisch zugestellt. Die gesamte Verfahrensdauer beträgt somit knapp über 9 Jahre und 3 Monate.

Diese ungewöhnlich lange Dauer des Verwaltungsverfahrens ist allein auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen (vgl schon zur sechsjährigen Verfahrensdauer VfSlg 16.385/2001). Dem Beschwerdeführer kann nicht angelastet werden, dass er zur Durchsetzung seiner Rechte zahlreiche Beweisanträge gestellt und Unterlagen zur Darlegung seines Standpunktes vorgelegt hat. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer sogar einen Antrag auf Fristsetzung an den Verwaltungsgerichtshof eingebracht.

Alleine das verwaltungsgerichtliche Verfahren – von der Erhebung der Beschwerde am 7. August 2015 bis zur Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich am 9. August 2022 – dauerte 7 Jahre. Zwar fand am 21. September 2017 und am 16. Oktober 2017 jeweils eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, deren Themen sich auch im 120 Seiten zählenden Erkenntnis wiederfinden; allerdings wurden ausweislich der Gerichtsakten nach der Durchführung der Verhandlungen bis zur Ausfertigung der Entscheidung keine weiteren Verfahrensschritte gesetzt. Der Verfassungsgerichtshof verkennt auch nicht, dass das Ausmaß aller vorgebrachten Argumente und Beweise das übliche Maß möglicherweise überschreitet; dennoch verpflichtet Art6 EMRK zu einer angemessenen (Gesamt-)Verfahrensdauer:

Wie der beigeschaffte Gerichtsakt belegt, wurden vom zuständigen Landesverwaltungsgericht keine diffizilen Ermittlungen geführt und auch nach der Aktenlage lassen weder der zu beurteilende Sachverhalt noch die zugrunde liegende Rechtsfrage die Behandlung der Rechtssache als ungewöhnlich komplex erscheinen. In dem vorliegenden Beschwerdeverfahren sind auch keine weiteren besonderen Umstände hervorgekommen, welche diese (Gesamt-)Dauer des Verfahrens, nämlich mehr als 9 Jahre bis zur Zustellung der angefochtenen Entscheidung, rechtfertigen könnten.

3. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem durch Art6 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

Durch die (begehrte) Aufhebung des das (bisherige) überlange Verfahren (vorläufig) abschließenden, angefochtenen Erkenntnisses würde diese Rechtsverletzung aber nicht beseitigt, sondern im Gegenteil sogar insoweit verschärft werden, als das Ende des Verfahrens noch weiter verzögert werden würde. Der Verfassungsgerichtshof hat sich deshalb auf den Ausspruch zu beschränken, dass eine Verletzung des Beschwerdeführers im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art6 Abs1 EMRK stattgefunden hat; insoweit ist folglich der Antrag, das angefochtene Erkenntnis aufzuheben, abzuweisen (vgl VfSlg 17.307/2004, 17.644/2005, 19.715/2012).

         Ablehnung der Beschwerdebehandlung

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt auch die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG, Art2 StGG), auf Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Freiheit der Religionsausübung (Art14 StGG, Art9 EMRK), auf Meinungsäußerungsfreiheit (Art10 EMRK) und auf Freiheit der Erwerbsausübung (Art6 StGG, Art8 EMRK). Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich in jeder Hinsicht rechtmäßig ist, nicht anzustellen.

3. Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen und sie gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

         Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist in seinem durch Art6 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt und insoweit dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

3. Diese Beschlüsse konnten gemäß §19 Abs4 VfGG bzw gemäß §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefasst werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG und enthält die Kosten im gesetzlichen Ausmaß, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Feststellung der Verletzung des Art6 Abs1 EMRK zur Gänze durchgedrungen ist (vgl VfSlg 19.715/2012; VfGH 2.10.2013, B1566/2012). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von € 240,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E2545.2022

Zuletzt aktualisiert am

23.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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