TE Vwgh Beschluss 2022/11/30 Ra 2021/22/0255

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Veröffentlicht am 30.11.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §69 Abs1 Z1
AVG §69 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGG §34 Abs1
  1. AVG § 69 heute
  2. AVG § 69 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. AVG § 69 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  4. AVG § 69 gültig von 01.01.1999 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 158/1998
  5. AVG § 69 gültig von 01.02.1991 bis 31.12.1998
  1. AVG § 69 heute
  2. AVG § 69 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. AVG § 69 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  4. AVG § 69 gültig von 01.01.1999 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 158/1998
  5. AVG § 69 gültig von 01.02.1991 bis 31.12.1998
  1. B-VG Art. 133 heute
  2. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2019 bis 24.05.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 138/2017
  3. B-VG Art. 133 gültig ab 01.01.2019 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 22/2018
  4. B-VG Art. 133 gültig von 25.05.2018 bis 31.12.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 22/2018
  5. B-VG Art. 133 gültig von 01.08.2014 bis 24.05.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 164/2013
  6. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2014 bis 31.07.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  7. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2004 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.1975 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 444/1974
  9. B-VG Art. 133 gültig von 25.12.1946 bis 31.12.1974 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 211/1946
  10. B-VG Art. 133 gültig von 19.12.1945 bis 24.12.1946 zuletzt geändert durch StGBl. Nr. 4/1945
  11. B-VG Art. 133 gültig von 03.01.1930 bis 30.06.1934
  1. VwGG § 34 heute
  2. VwGG § 34 gültig ab 01.07.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 2/2021
  3. VwGG § 34 gültig von 01.01.2014 bis 30.06.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  4. VwGG § 34 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  5. VwGG § 34 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  6. VwGG § 34 gültig von 01.08.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 89/2004
  7. VwGG § 34 gültig von 01.09.1997 bis 31.07.2004 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 88/1997
  8. VwGG § 34 gültig von 05.01.1985 bis 31.08.1997

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache der K S, vertreten durch Dr. Gerold Zeiler, Rechtsanwalt in 1100 Wien, Wiedner Gürtel 11, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 16. Oktober 2021, VGW-151/079/4238/2020-36, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Die Revisionswerberin, eine algerische Staatsangehörige, stellte am 29. November 2019 unter Berufung auf ihre (zum zweiten Mal geschlossene) Ehe mit dem österreichischen Staatsbürger WB einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Am 20. Dezember 2019 wurde ihr der Aufenthaltstitel erteilt.

2        Mit Bescheid vom 7. Februar 2020 nahm der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) dieses Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf (Spruchpunkt 1). Unter einem wurde der Antrag der Revisionswerberin vom 29. November 2019 abgewiesen (Spruchpunkt 2). Begründend hielt die belangte Behörde fest, die Ehe der Revisionswerberin mit WB sei als Aufenthaltsehe zu qualifizieren und die Revisionswerberin habe sich den Aufenthaltstitel somit erschlichen.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (mit einer Maßgabe hinsichtlich Spruchpunkt 2) als unbegründet ab. Unter einem wurden mittels Beschluss der Antrag der Revisionswerberin auf Bewilligung der Verfahrenshilfe abgewiesen und ihr näher bestimmte Barauslagen für die im Beschwerdeverfahren erforderlichen Tätigkeiten eines nichtamtlichen Dolmetschers auferlegt. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde jeweils für nicht zulässig erklärt.

4        Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung Folgendes zugrunde: Zwischen der Revisionswerberin und (dem ebenfalls aus Algerien stammenden) WB sei am 27. März 2018 nach algerischem Recht eine erste Ehe geschlossen worden. Daraufhin habe WB die Revisionswerberin ca. alle zwei Monate in Algerien besucht. Aufgrund des Verhaltens der Revisionswerberin sei bei WB jedoch bald der Verdacht entstanden, dass die Revisionswerberin die Ehe ausschließlich aus dem Grund eingegangen sei, ein Aufenthaltsrecht für Österreich zu erlangen. Daraufhin habe WB in einer E-Mail an die österreichische Botschaft in Algerien diesen Verdacht geäußert. Schließlich sei die Ehe am 7. Jänner 2019 geschieden worden.

Im ersten Halbjahr 2019 habe die Revisionswerberin WB wieder kontaktiert. Bei einem weiteren Algerienaufenthalt habe WB einer erneuten Eheschließung zugestimmt, welche (laut Heiratsurkunde vom 15. August 2019) am 17. Juni 2019 durchgeführt worden sei. Anschließend sei WB von dem (in Wien lebenden) Onkel und der (in Algerien lebenden) Mutter der Revisionswerberin aufgefordert worden, sich unverzüglich um den Aufenthaltstitel und die Krankenversicherung der Revisionswerberin zu kümmern. Aufgrund des Verhaltens der Familie der Revisionswerberin habe WB erneut begonnen, die Motivation der Revisionswerberin für die Eheschließung in Frage zu stellen. Die Revisionswerberin sei im November 2019 nach Österreich eingereist, sei aber zunächst zu ihrem Onkel und erst nach Einreichung des Erstantrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Anfang Dezember 2019 in die Wohnung des WB gezogen. Danach habe es - unterbrochen von kurzen „Ruhephasen“, in welchen auch sexuelle Kontakte stattgefunden hätten - wiederholt Auseinandersetzungen gegeben. Am 19. Dezember 2019 sei es zu Handgreiflichkeiten gekommen, weshalb die Revisionswerberin bei der Polizei gegen WB Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Nötigung erstattet habe. Nach Beschwichtigungsversuchen durch ihre Familie habe sie die Wohnung des WB aber wieder für Übernachtungen aufgesucht. Aufgrund erneuter Auseinandersetzungen sei die kurzfristige Wohngemeinschaft jedoch bereits zu Silvester 2019/2020 wieder aufgehoben worden und die Revisionswerberin sei - nach kurzem Aufenthalt in Algerien - in ein Wiener Frauenhaus gezogen. Die (aufgrund mehrerer Anzeigen der Revisionswerberin) gegen WB eingeleiteten Ermittlungen seien von der Staatsanwaltschaft am 27. März 2020 eingestellt worden. Dass WB (wie von der Revisionswerberin behauptet) ein Alkohol- oder Suchtmittelproblem habe bzw. ein Aggressionspotential bestehe, sei nicht feststellbar oder indiziert gewesen.

Im Ergebnis stehe für das Verwaltungsgericht fest, dass die Revisionswerberin jedenfalls seit der zweiten Eheschließung kein Interesse an einer Lebensgemeinschaft mit WB, sondern ausschließlich ein Interesse an der Erlangung eines Aufenthaltsrechts in Österreich gehabt habe. Auch während der „kurzfristigen provisorischen Wohngemeinschaft“ in der Wohnung des WB (mit gelegentlichen Feiern im Freundeskreis sowie sexuellen Kontakten) hätte sich weder eine nennenswerte Wirtschaftsgemeinschaft etabliert noch seien sonstige nachhaltige Aspekte eines dem Allgemeinverständnis entsprechenden Ehelebens vorgelegen.

5        Dabei stützte sich das Verwaltungsgericht im Wesentlichen darauf, dass die Aussagen der Revisionswerberin - im Gegensatz zu jenen des WB - nicht bloß hinsichtlich einzelner Details, sondern in Bezug auf grundlegende Umstände wiederholt unschlüssig, lebensfremd und in sich widersprüchlich gewesen seien. So habe die Revisionswerberin keine nachvollziehbare Erklärung dafür geben können, warum sie nach der - behaupteter Maßen aufgrund der ständigen Alkohol- und Drogenexzesse des WB im Jänner 2019 erfolgten - Scheidung von WB noch im ersten Halbjahr 2019 erneut den Kontakt zu diesem gesucht habe, um in der Folge spontan die Ehe zu schließen. Unglaubwürdig sei auch, wenn die Revisionswerberin zum einen vorgebracht habe, WB habe aufgrund seiner Alkohol- und Drogenprobleme von Beginn an kontinuierlich ihr Leben zerstört, sie zum anderen aber - ohne dies näher zu konkretisieren und obwohl sie nach ihren Angaben vor der Landespolizeidirektion (LPD) bereits am 23. November 2019 zum ersten Mal von WB geschlagen worden sei - pauschal behauptet habe, der erste Monat in Österreich sei „soweit harmonisch“ verlaufen. Die Aussagen des WB, der (nach dem Eindruck des Verwaltungsgerichts) zwar eine überschwängliche und sehr emotionale Persönlichkeit habe erkennen lassen, hätten jedoch bei realistischer Gesamtbetrachtung und in der Kernaussage glaubwürdig, schlüssig und weitaus überzeugender als jene der Revisionswerberin gewirkt. Auch den in der Verhandlung vorgespielten kurzen „Handy-Videosequenzen“ sei kein aussagekräftiger Hinweis auf ein Alkohol-, Suchtmittel- oder Aggressionsproblem des WB zu entnehmen gewesen. Die Aussage des als Zeugen einvernommenen Onkels der Revisionswerberin sei (aufgrund näher dargestellter Widersprüche) unglaubwürdig gewesen.

6        In seiner rechtlichen Beurteilung hielt das Verwaltungsgericht fest, die Revisionswerberin hätte sich - da ein im Sinn des Art. 8 EMRK schutzwürdiges Ehe- und Familienleben nicht geführt worden sei - bei der Erstantragstellung am 29. November 2019 und der konstitutiv wirkenden Ausfolgung des Aufenthaltstitels am 20. Dezember 2019 nicht auf diese Ehe und eine mit WB angestrebte Familienzusammenführung berufen dürfen. Dem Erstantrag und dessen positiver Erledigung sei somit das absolute allgemeine Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG entgegengestanden. Vorliegend habe WB in seiner schriftlichen Eingabe vom 11. Jänner 2020 und seiner Zeugenaussage vom 16. Jänner 2020 detaillierte und schlüssig begründete Angaben zu einer vermuteten Ehetäuschung durch die Revisionswerberin gemacht, aufgrund welcher bei der belangten Behörde der Verdacht in Bezug auf eine unrechtmäßige Vorgangsweise der Revisionswerberin im Erstantragsverfahren habe entstehen müssen. Die Umstände der Antragstellung seien daher zu Recht im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens unter dem Aspekt der Erschleichungshandlung geprüft worden. Im Ergebnis seien die gegen die amtswegige Wiederaufnahme gerichtete Beschwerde abzuweisen und im Verfahren über den Erstantrag eine neue Entscheidung - im Sinn einer Abweisung des Antrags - zu treffen gewesen.

7        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

8        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9        Die Revision bringt zur Zulässigkeit zunächst vor, es bestehe keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dahingehend, ob und unter welchen Voraussetzungen die Aufenthaltsbehörde eine amtswegige Wiederaufnahme verfügen dürfe, wenn ihr der Verdacht des Vorliegens einer Aufenthaltsehe von dritter Seite zugetragen werde. Nach näher zitierter Rechtsprechung des Gerichthofes der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 17 der Richtlinie 2003/86/EG müsse vor Entzug eines Aufenthaltstitels eine umfassende individuelle Prüfung vorgenommen werden; der bloße Verdacht aufgrund der Behauptungen des Ehegatten oder einer dritten Person genüge nicht, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu verfügen. Ohne eine Klarstellung des Verwaltungsgerichtshofes könnte bereits der mutwillige Zuruf eines Dritten zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen und dadurch ein intaktes Familienleben beeinträchtigen. Im vorliegenden Fall hätte daher bereits die Erstbehörde eine umfassende individualisierte Prüfung der Situation der Revisionswerberin vornehmen müssen; diese umfassende Prüfung sei jedoch „aufgrund Fehlens des rechtlichen Gehörs der Revisionswerberin oder anderer Ermittlungshandlungen“ unterblieben.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Revisionswerberin keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf.

10       Gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren wieder aufzunehmen, wenn der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist. Unter diesen Voraussetzungen kann gemäß § 69 Abs. 3 AVG die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden.

11       Nach ständiger hg. Rechtsprechung liegt ein „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG dann vor, wenn die betreffende Entscheidung in einer Art zustande gekommen ist, dass die Partei gegenüber der Behörde objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht hat und die Angaben dann der Entscheidung zugrunde gelegt wurden, wobei die Verschweigung maßgeblicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs erfordert ein „Erschleichen“ zudem, dass die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen ist und ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere Ermittlungen durchzuführen. Der Umstand bereits zuvor vorhandener, jedoch trotz durchgeführter Ermittlungen vorläufig nicht bestätigter Verdachtsmomente hinsichtlich des Eingehens einer Aufenthaltsehe steht einer späteren Wiederaufnahme wegen „Erschleichen“ gestützt auf neu hervorgekommene Tatsachen nicht entgegen (vgl. zu allem VwGH 14.10.2022, Ra 2018/22/0227, Pkt. 6.3., mwN).

12       Von welcher Seite Verdachtsmomente für das Bestehen einer Aufenthaltsehe an die Behörde herangetragen bzw. auf Grund welcher Anhaltspunkte Ermittlungen durchgeführt werden, ist für die Möglichkeit der amtswegigen Durchführung einer Wiederaufnahme unerheblich (vgl. etwa VwGH 4.11.2022, Ra 2022/22/0146, dem eine - vom Verwaltungsgerichtshof nicht beanstandete - Überprüfung der Ehe und daraufhin erfolgte Wiederaufnahme auf Grund der Aussage eines Dritten bei der LPD Wien zugrunde lag). Entgegen der in der Revision zum Ausdruck gebrachten Sichtweise wurde die Wiederaufnahme vorliegend nicht aufgrund eines bloßen Verdachts verfügt, sondern war der (von WB geäußerte) Verdacht Auslöser für die Durchführung eines Ermittlungsverfahrens, das letztlich zur Wiederaufnahme führte.

13       Dem Vorbringen der Revisionswerberin zur mangelhaften Prüfung durch die „Erstbehörde“ ist entgegenzuhalten, dass allfällige Verfahrensmängel im Verfahren vor der belangten Behörde durch ein mängelfreies Verfahren vor dem Verwaltungsgericht saniert werden (vgl. etwa VwGH 22.3.2018, Ra 2018/22/0057, Rn. 6, mwN). Eine Verletzung des Parteiengehörs oder Ermittlungsmängel im Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht werden von der Revisionswerberin in der Zulässigkeitsbegründung nicht dargetan und sind für den Verwaltungsgerichtshof vor dem Hintergrund der in der mündlichen Verhandlung erfolgten Einvernahme der Revisionswerberin auch nicht ersichtlich.

14       Soweit die Revisionswerberin in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 17 der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung hinweist (EuGH 14.3.2019, C-557/17, Y.Z. ua.), verkennt sie schon deren Zielrichtung, die dahin geht, die - hier mangels Verankerung in Österreich gar nicht in Rede stehenden - privaten und familiären Interessen der betroffenen Person an einem (weiteren) Inlandsaufenthalt zu wahren (siehe Rn. 52 ff des genannten Urteils).

15       Darüber hinaus wendet sich die Revision gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts und bringt dazu vor, das Verwaltungsgericht habe die Ausführungen des WB als glaubwürdig erachtet, obwohl er - hinsichtlich des Zeitpunktes der nach der ersten Eheschließung erfolgten Benachrichtigung der österreichischen Botschaft in Algerien von seinem Verdacht - vor der LPD bzw. in der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht jeweils unterschiedliche Angaben gemacht habe. Demgegenüber habe das Verwaltungsgericht die schlüssigen Aussagen der Revisionswerberin verworfen sowie die vorgelegten Handyvideos und gemeinsamen Fotos aus Algerien nicht gewürdigt.

16       Nach der ständigen hg. Rechtsprechung ist der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Die Beweiswürdigung ist nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorgangs, nicht aber um die konkrete Richtigkeit handelt, sowie wenn es darum geht, ob die in diesem Denkvorgang gewürdigten Beweisergebnisse in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt wurden (vgl. VwGH 22.9.2022, Ra 2022/22/0136, Rn. 11, mwN).

17       Eine derartige Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung vermag die Revisionswerberin mit ihrem Vorbringen nicht aufzuzeigen. Das Verwaltungsgericht hat nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es sich sowohl von der Revisionswerberin als auch von WB einen persönlichen Eindruck verschaffen konnte, im Rahmen der Beweiswürdigung nachvollziehbar dargelegt, wieso es der Aussage des WB mehr Glauben schenkte als den Angaben der Revisionswerberin. Entgegen dem diesbezüglichen Vorbringen in der Revision setzte sich das Verwaltungsgericht auch mit den in der mündlichen Verhandlung eingesehenen Handyvideos sowie den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen WB beweiswürdigend auseinander und kam zu dem - nicht als unvertretbar anzusehenden - Ergebnis, daraus lasse sich kein Hinweis auf das Vorliegen eines - wie von der Revisionswerberin behauptet - Alkohol-, Suchtmittel- oder Aggressionsproblems des WB entnehmen. Im Hinblick auf die auf eine Mehrzahl von Aspekten gestützte Beweiswürdigung vermag die Revisionswerberin auch nicht aufzuzeigen, weshalb allfällige divergierende Angaben des WB zum Zeitpunkt seiner Kontaktaufnahme mit der österreichischen Botschaft in Algerien eine Unschlüssigkeit der Beweiswürdigung insgesamt nach sich ziehen sollten.

18       Schließlich bringt die Revisionswerberin unter dem Gesichtspunkt einer Aktenwidrigkeit vor, das Verwaltungsgericht habe verschiedene Sachverhaltsfeststellungen getroffen, „welche in Rz 74“ genauer behandelt würden, die nicht auf dem Akt basierten. So habe das Verwaltungsgericht beispielsweise die Feststellung getroffen, dass der Revisionswerberin die Beziehung als solche und ein nachhaltiges Zusammenwohnen mit WB auf ca. 37 m² lästig gefallen sei und sie daran von vornherein kein ernsthaftes, persönliches Interesse gehabt habe. Weder die Revisionswerberin noch WB hätten sich jedoch negativ zur Größe der Ehewohnung geäußert. Durch diese Feststellungen habe das Verwaltungsgericht einen negativen Eindruck von der Revisionswerberin erwecken wollen.

19       Zur damit erfolgten Geltendmachung einer Aktenwidrigkeit bzw. eines Begründungsmangels genügt der Hinweis, dass nach der ständigen Rechtsprechung nur ein relevanter Begründungsmangel zur Zulässigkeit einer Revision führt (vgl. VwGH 2.12.2020, Ra 2019/22/0060 und 0061, Rn. 7, mwN). Die Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels für den Verfahrensausgang ist in der Zulässigkeitsbegründung selbst darzulegen; ein Verweis auf die Ausführungen in den Revisionsgründen reicht für die Begründung der Zulässigkeit der Revision nicht aus (vgl. VwGH 19.11.2020, Ra 2020/22/0236, Rn 7, mwN).

20       Eine derartige Relevanz zeigt die Revisionswerberin in ihrem Zulässigkeitsvorbringen aber weder hinsichtlich der behaupteten Aktenwidrigkeit noch hinsichtlich eines damit einhergehenden Begründungsmangels auf. Insbesondere wird nicht aufgezeigt (und ist auch nicht ersichtlich), inwieweit die vom Verwaltungsgericht angenommene Einstellung der Revisionswerberin zur (Größe der) Wohnung des WB für die Beweiswürdigung insgesamt entscheidungserheblich gewesen wäre (der Annahme des Verwaltungsgerichtes, die Revisionswerberin wäre - nach Einbringung des Erstantrags auf Erteilung des Aufenthaltstitels - nur kurz und provisorisch in die Wohnung des WB gezogen, wird in der Zulässigkeitsbegründung nicht substantiiert entgegengetreten).

21       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 30. November 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021220255.L00

Im RIS seit

23.01.2023

Zuletzt aktualisiert am

23.01.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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