Index
40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AVG §37Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der G K in W, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Michael Hudec in 1010 Wien, Zedlitzgasse 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Oktober 2020, Zl. W261 2221073-1/43E, betreffend Ersatz des Verdienstentgangs nach dem Verbrechensopfergesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Unter Zuhilfenahme eines Formulars vom 1. Dezember 2016 stellte die 1958 geborene Revisionswerberin unter Vorlage einer Reihe medizinischer Befunde und Gutachten bei der belangten Behörde einen Antrag auf Ersatz des Verdienstentgangs nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG). Begründend führte sie zusammengefasst aus, sie sei als Kind während ihres Heimaufenthaltes regelmäßigen Schlägen und psychischen Erniedrigungen ausgesetzt gewesen, wodurch der Tatbestand des § 92 StGB (Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen) erfüllt worden sei. Im Alter von zwölf Jahren sei sie zudem von ihrem leiblichen Vater vergewaltigt worden. Als Gesundheitsschädigungen gab sie an: „1. Posttraumatische Belastungsstörung ICD 10 F43.1, 2. Rezidivierende depressive Störung, ICD 10 F33.1, 3. V. a. organische Verhaltensstörung ICD 10 F07.1, 4. komplexe oculomotorische Störung ICD 10 H49.9“. Dem Antrag beigeschlossen waren u.a. ein psychiatrisches Gutachten Dris. S vom 22. Dezember 2005 (Diagnosen: Major Depression, Panikattacken, Soziophobie, Claustrophobie), Arztbriefe der Universitätsklinik für Psychiatrie vom 27. Oktober und 22. Dezember 2005, jeweils nach stationären Aufenthalten (Diagnosen: Posttraumatische Belastungsstörung ICD 10 F43.1, Rezidivierende depressive Störung, ICD 10 F33.1, V. a. organische Persönlichkeitsverhaltensstörung ICD 10 F07.1, Komplexe oculomotorische Störung ICD 10 H49.9; als Auslöser der depressiven Verstimmungen sei „das traumatisierende soziale Umfeld der Pat. anzusehen“), psychiatrisches Gutachten Dris. E für die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) nach Untersuchung vom 29. September 2014 (Diagnosen: Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung ICD-10 F62.0, Angst und depressive Störung gemischt ICD-10 F41.2).
2 Am 25. Mai 2018 wurde die Revisionswerberin über Auftrag der belangten Behörde vom nervenfachärztlichen Sachverständigen Dr. P untersucht. In seinem Gutachten vom 14. Juni 2018 kam dieser zum Ergebnis, die Revisionswerberin leide an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und an einer Dysthymie. Allerdings könne ein Kausalzusammenhang mit den Verbrechen nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden. In der Biographie der Revisionswerberin gebe es mehrere belastende Lebensereignisse, und es sei nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit abzugrenzen, welches für das gegenwärtige psychische Gesundheitsbild verantwortlich sei. Die Leidenszustände der Revisionswerberin seien überwiegend auf akausale Umstände zurückzuführen. Sie sei bereits als Kleinkind und in der Pubertät aufgrund problematischer Familienverhältnisse in einem Heim aufgenommen worden. Besonders die Heimaufnahme im Kleinkindalter müsse aus fachärztlicher Sicht als ein massives Trauma für die weitere psychische Entwicklung angesehen werden. Das weitere Leben der Revisionswerberin sei geprägt gewesen von wechselnden Anstellungen, Beziehungsproblemen und Erkrankung an einer schweren Depression mit mehrfachen stationären Aufenthalten, wobei auch die gegenwärtige Lebenssituation nicht unbelastet erscheine. Aus fachärztlich-psychiatrischer Sicht hätten die Misshandlungen zwar möglicherweise einen Einfluss auf den derzeitigen psychischen Leidenszustand, seien jedoch nicht als wesentliche Ursache anzusehen.
3 Die Revisionswerberin erstattete daraufhin eine Stellungnahme, in der sie eine Vielzahl von näher bezeichneten Befunden und Gutachten vorlegte, in denen überwiegend eine PTBS diagnostiziert wurde, darunter einen ausführlichen Patientenbrief der Universitätsklinik für Psychiatrie vom 15. Oktober 2018, in dem Univ. Prof. Dr. W u.a. ausführte, bei den Leiden der Revisionswerberin handle es sich „um spezifische Traumafolgestörungen, die nur bei besonders schweren Belastungserfahrungen, wie eben bei dem von der Patientin nachvollziehbar beschriebenen sexuellen Missbrauch auftreten können“. Damit sei „eindeutig von einer Kausalität zu den schwerwiegenden Lebensbelastungen, d.h. zu Heimaufenthalt und sexuellem Missbrauch auszugehen“.
4 Daraufhin führte der nervenfachärztliche Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 30. November 2018, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, zusammengefasst aus, bei der Erstellung seines Gutachtens habe er sich an der ICD-10-Klassifikation orientiert. Die dort angeführten Symptome seien verbindlich für das Stellen einer Diagnose. Jene Symptome, welche unter ICD-10 F43.1, Posttraumatische Belastungsstörung, angeführt seien, hätten bei der Untersuchung der Revisionswerberin nicht festgestellt werden können.
5 Nach Vorlage weiterer Befunde und Stellungnahmen wies die belangte Behörde mit Bescheid vom 16. Mai 2019 den Antrag der Revisionswerberin auf Ersatz des Verdienstentgangs gemäß § 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 3 sowie § 10 Abs. 1 VOG ab. Gestützt auf das Amtssachverständigengutachten Dris. P führte die belangte Behörde aus, dass bei der Revisionswerberin das Vorliegen eines verbrechenskausalen Verdienstentgangs im fiktiven schadensfreien Verlauf nicht mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne.
6 Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Verwaltungsgericht. Dieses holte ein Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. G ein. In ihrem Gutachten vom 10. Oktober 2019 kam die Sachverständige, nachdem sie die Revisionswerberin am 4. September 2019 von 11.00 bis 12.30 Uhr untersucht hatte, zum Ergebnis, diese leide an einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung als Komplikation einer Masern-Mumps-Infektion, einer Störung der Hirnnerven in Form einer komplexen Okulomotorikstörung und Störung der Gaumeninnervation als Folge einer Masern-Mumps-Infektion, einer rezidivierenden depressiven Störung, an Hypothyreose und diffuser Gastritis. Keine dieser Erkrankungen sei verbrechenskausal.
7 Am 27. Jänner 2020 führte das Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an der auch die beigezogene Sachverständige Dr. G sowie der von der Revisionswerberin namhaft gemachte Zeuge Univ.Prof. Dr. W (Universitätsklinik für Psychiatrie) teilnahmen. Letzterer hatte die Revisionswerberin mehrfach psychiatrisch untersucht und die Diagnosen einer PTBS und rezidivierender depressiver Episoden gestellt. Er führte über diesbezügliche Befragung aus, eine spontane Remission oder ein Behandlungserfolg könnten zum Abklingen einer PTBS führen, wobei aber besonders bei sexuellem Missbrauch oder nach Folter die Beschwerden oft langfristig und sehr schwer behandelbar seien. Bei der Revisionswerberin sei die PTBS nicht abgeklungen und liege weiterhin vor. Sie äußere sich in Schlafstörungen, Alpträumen bezogen auf Missbrauchserfahrungen und verstärkt auftretenden Flashbacks, führe zu einer verstärkten Angstreaktion, starkem emotionalem Leiden und einer verstärkten Schreckreaktion und Vermeidungsverhalten.
8 Nach einer Gutachtensergänzung durch Dr. G, in der zur angenommenen Akausalität der an der Revisionswerberin begangenen Verbrechen für ihre Leiden ausgeführt wurde, die Pathogenese depressiver Störungen könne sowohl auf einer genetischen Veranlagung als auch auf negativen psychosozialen individuell belastenden Ereignissen beruhen, gab die Revisionswerberin eine Stellungnahme ab, in der sie die Schlüssigkeit des Gutachtens bestritt. In der Folge legte sie ein Gutachten des Sachverständigen Univ.Doz. Dr. Pr. vom 11. Juni 2020 vor, in dem dieser nach Untersuchung der Revisionswerberin folgende Diagnose stellte: „1. Z.n. reaktiver Bindungsstörung im Kindesalter, Gewalt- und Mißbrauchserfahrungen ICD10 F94.1, 2. (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, anhaltend, im Sinne von ICD10 F62.0 ..., 3. Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode F33.1“, und ausführte, eine Diskussion, ob eine organische Persönlichkeitsstörung „(auch) eine Rolle bei der Ätiologie dieses Störbildes spielt, erscheint entbehrlich, da die Traumatisierungen bis etwa zum 18. Lebensjahr vollauf genügen, um das persistierende Störbild zu erklären“.
9 Am 1. Juli 2020 legte die Revisionswerberin noch zwei Dokumente aus den Jahren 1960 und 1964 vor, aus denen hervorgeht, dass die Augenerkrankung bereits seit der Geburt bestand und dass sie als Sechsjährige nur einen Tag zur Behandlung ihrer Masernerkrankung (mit „komplikationslosem Verlauf“) im Spital verbrachte.
10 Das Verwaltungsgericht führte am 1. September 2020 eine fortgesetzte mündliche Verhandlung durch, in der eine ausführliche Gutachtenserörterung mit der Sachverständigen Dr. G erfolgte.
11 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab. Gleichzeitig erklärte es gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision für nicht zulässig.
12 Das Verwaltungsgericht stellte fest, die Revisionswerberin sei kurz nach ihrem ersten Geburtstag aufgrund drohender Verwahrlosungsgefahr im Oktober 1959 in Gemeindepflege übernommen worden. Bis Februar 1960 sei sie im Zentralkinderheim untergebracht und in weitere Folge wieder von ihrer Mutter betreut worden. Die Kindheit der Revisionswerberin sei von Armut und Abwesenheiten der Mutter geprägt gewesen. Nachdem der Revisionswerberin von ihrem gewalttätigen Stiefvater ein Zusammenleben mit ihrer Mutter verweigert worden sei, sei sie im September 1969 wegen Obdachlosigkeit in einem katholischen Kinderheim untergebracht worden. Dort sei sie Opfer physischer und psychischer Misshandlungen durch die Erzieherinnen und Schwestern geworden. Die Revisionswerberin sei sowohl mit der Hand als auch mit diversen Gegenständen geschlagen, eingesperrt, gedemütigt und beschimpft worden. Zudem sei ihr einerseits das Essen entzogen worden, andererseits sei sie gezwungen worden, bis zum Erbrechen zu essen und stundenlange Fußmärsche zu absolvieren. Bereits kurz nach der Heimunterbringung sei bei der Revisionswerberin eine schwere Kurzsichtigkeit festgestellt worden, weshalb sie stark beeinträchtigt gewesen sei. Im Alter von 12 Jahren sei die Revisionswerberin von ihrem leiblichen Vater missbraucht worden, indem er sie gezwungen habe, ihn in einem Erotikkino sexuell zu befriedigen. Mit 17 Jahren sei sie zuerst zu ihrer Mutter und dann auf eigenen Wunsch und mit Genehmigung der Fürsorge zu ihrem Vater gezogen, der sie jedoch 1978 der Unterkunft verwiesen habe. Bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr sei die Revisionswerberin mehrfach von ihrem Vater vergewaltigt worden. Die im 21. Lebensjahr der Revisionswerberin geschlossene Ehe sei von Gewalt geprägt gewesen und 1983 geschieden worden. Aufgrund der Misshandlungen während ihres Heimaufenthalts sei der Revisionswerberin im Auftrag der Stadt Wien eine finanzielle Entschädigungsleistung in der Höhe von € 20.000,-- sowie die Übernahme der Kosten einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung für 80 Therapiestunden zugesprochen worden.
Die Revisionswerberin beziehe seit September 2006 Invaliditätspension und sei aufgrund der Diagnose einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung ICD-10: F62.0 und Angst und depressive Störung gemischt ICD-10: F41.2 von der Pensionsversicherungsanstalt als dauernd invalid eingestuft worden. Die Revisionswerberin leide aktuell an einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, einer Störung der Hirnnerven in Form einer komplexen Okulomotorikstörung sowie Störung der Gaumeninnervation, einer rezidivierenden depressiven Störung, an Hypothyreose und diffuser Gastritis. Demgegenüber leide sie an keiner posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und an keiner komplexen Traumafolgestörung. Es bestehe mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit kein Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Misshandlungen in den Kinderheimen und den sexuellen Missbräuchen durch den Vater einerseits und den Gesundheitsschädigungen, welche der Grund für die aktuelle Arbeitsunfähigkeit bzw. für die fehlende Berufsqualifikation der Revisionswerberin seien, andererseits.
13 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht - gestützt auf das Gutachten Dris. G vom 10. Oktober 2019 und die ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 13. März 2020 - aus, die festgestellte Störung der Hirnnerven in Form einer komplexen Okulomotorikstörung und Störung der Gaumeninnervation sowie Hypothyreose und diffuse Gastritis seien von den Parteien unbestritten geblieben. Die organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung sei nicht, wie anfänglich von der Sachverständigen vermeint, auf eine Masern-Mumpsinfektion im Kleinkindalter zurückzuführen. Die Ursache dieser Gesundheitsbeeinträchtigung bleibe trotz des durchgeführten Ermittlungsverfahrens ungeklärt, allerdings handle es sich dabei jedenfalls um eine neurologische Erkrankung, die in einer Störung der Hirnsubstanz begründet sei. Dies ergebe sich insbesondere aus der komplexen Schielerkrankung, die „zentral“ bedingt sei, und der Teillähmung des Gaumensegels. Bereits 2005 sei bei der Revisionswerberin erstmals in einer Diagnose der Verdacht auf das Vorliegen einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung gestellt worden. Die rezidivierende depressive Störung sei nicht auf eine akute Belastungsreaktion bzw. eine Reaktion auf eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung aufgrund der zweiten Heimunterbringung im Alter von 11 Jahren sowie auf den ersten sexuellen Missbrauch durch den Vater zurückzuführen. Derartige akute Belastungsreaktionen dauerten üblicherweise bis zu einer Woche an, jedoch handle es sich dabei nicht um depressive Episoden.
Demgegenüber sei es der Revisionswerberin trotz Vorlage diverser ärztlicher Befunde, denen zufolge sie an einer PTBS leide, nicht gelungen nachzuweisen, dass sie an einer derartigen Belastungsstörung oder an einer komplexen Traumafolgestörung leide. Aufgrund der unterschiedlichen Diagnosen in Bezug auf die PTBS habe sich das Verwaltungsgericht in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 1. September 2020 gemeinsam mit der befassten medizinischen Sachverständigen Dr. G und dem Rechtsvertreter ausführlich mit den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung auseinandergesetzt. Diese Analyse sei anhand der Kriterien bei der Begutachtung für eine PTBS nach ICD-10 laut einem von Dr. G vorgelegten (näher bezeichneten) Artikel aus dem Hessischen Ärzteblatt 05/2016 erfolgt. Danach werde anhand von fünf Kriterien (A-E) festgestellt, ob eine PTBS vorliege oder nicht. Die Revisionswerberin sei aufgrund der erfolgten Misshandlungen kurz- und langanhaltenden Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung ausgesetzt gewesen, welche nahezu bei jeder Person tiefgreifende Verzweiflung auslösen würden („Punkt A“). Im Zuge der psychiatrischen Untersuchung durch Dr. G am 4. September 2019 habe die Revisionswerberin jedoch keine Flashbacks erlebt. Daher treffe das „Kriterium B“ der genannten Kriterienliste nicht zu. Die Revisionswerberin habe bei der Untersuchung auch keine der im „Cluster C“ dieser Kritierienliste aufgezählten Symptome des Vermeidungsverhaltens gezeigt. Vielmehr habe sie ihre Erlebnisse sehr genau und ausführlich geschildert. Die unter „Cluster D und E“ der Kriterienliste aufgezählten Symptome seien unspezifisch. Nachdem die Revisionswerberin unter einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung leide, schließe dies jedoch die Diagnose „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, ICD-10: F62.0“, aus.
14 Zum Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten psychischen Erkrankungen der Revisionswerberin und den Verbrechen führte das Verwaltungsgericht aus, die organische Verhaltens- und Persönlichkeitsstörung habe akausale Ursachen. Depressionen seien nach dem Kenntnisstand der Wissenschaft neurophysiologisch verursachte Transmitterstörungen. Depressionen träten unabhängig von äußeren Einflüssen auf, wobei bei der Revisionswerberin eine genetische Veranlagung vorläge, da ihre Mutter „wahrscheinlich depressiv“ gewesen sei. Depressive Episoden könnten zwar als Auslöser auch aktuelle Ereignisse haben, sie könnten jedoch auch ohne speziellen Auslöser auftreten. Es stehe fest, dass auch die zweite psychische Erkrankung, die rezidivierende depressive Störung, grundsätzlich in keinem Zusammenhang mit den verübten Verbrechen stehe.
Zur Frage, ob die festgestellten organisch bedingten psychischen Erkrankungen durch die erlittenen Misshandlungen im Heim und den sexuellen Missbrauch durch den Vater einen schwereren Verlauf genommen hätten, führte das Verwaltungsgericht aus, bei der Revisionswerberin beständen drei dysfunktionale Erlebnismuster seit frühester Kindheit (der fortgesetzte Prozess der Vernachlässigung und Verwahrlosung in der Ursprungsfamilie, die erlebten Misshandlungen in der Zeit der Fremdunterbringung und der sexuelle Missbrauch durch den eigenen Vater). Diese hätten die adäquate seelische Entwicklung, Bindungsfähigkeit sowie Ausbildung der für ein Kind unabdingbar erforderlichen emotionalen Sicherheit verunmöglicht und folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Aufrechterhaltung und Ausprägung der depressiven Störung beigetragen. Aufgrund der persönlichen Schilderungen sei der Eindruck entstanden, dass die Welt der Revisionswerberin mit dem Zeitpunkt „untergegangen“ sei, als sie von ihrer Mutter ins Heim „abgeschoben“ worden sei. Den sexuellen Missbrauch durch den Vater habe sie jahrelang verdrängt, und ihr sei nicht bewusst gewesen, dass dessen Verhalten nicht rechtens gewesen sei. Aus der Emotionalität und der Wortwahl der Aussagen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung sei der Eindruck entstanden, die erlittenen Misshandlungen im Heim, ja sogar der sexuelle Missbrauch durch den Vater, hätten die Revisionswerberin weniger schwer belastet als die Vernachlässigungen und die Lieblosigkeit, welche sie als Kind von Seiten ihrer Eltern erlebt habe. Auch die mediale Berichterstattung im Jahr 2012 über Misshandlungen in Kinderheimen könne der Auslöser für eine Episode einer bereits lange davor bestehenden endogenen Depression gewesen sein. Die laufende Erinnerung an die erlittenen Misshandlungen könnte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit als Auslöser für einzelne depressive Episoden dieser grundsätzlich akausalen Grunderkrankung gewirkt haben. Nachdem die an der Revisionswerberin begangenen Verbrechen nicht die einzigen und maßgeblichen Ursachen für das wiederholte Auftreten von depressiven Episoden der organisch bedingten Erkrankung seien, bestehe kein überwiegender Zusammenhang zwischen ihrer Arbeitsunfähigkeit und den an ihr verübten Verbrechen. Auch ohne die an ihr verübten Verbrechen, also im fiktiven schadensfreien Verlauf, würde die Revisionswerberin aufgrund ihrer Krankheit an rezidivierenden depressiven Episoden leiden, und wäre mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit arbeitsunfähig.
15 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, unter Anschluss der Verfahrensakten vorgelegte außerordentliche Revision, zu der die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet hat.
16 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
17 In der Revision wird zu deren Zulässigkeit zum einen geltend gemacht, das Verwaltungsgericht hätte begründen müssen, weshalb es sich für das eine oder andere der divergierenden Gutachten entschieden habe. Zudem habe das Verwaltungsgericht bei der Kausalitätsprüfung die hg. Rechtsprechung zur „wesentlichen Bedingung“ zur Gänze außer Acht gelassen.
18 Die Revision ist aus den genannten Gründen zulässig und begründet.
19 Das Verbrechensopfergesetz (VOG), BGBl. Nr. 288/1972 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 135/2020, lautet auszugsweise:
„§ 1. Kreis der Anspruchsberechtigten
(1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie
1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder
...
und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. ...
...
Hilfeleistungen
§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:
Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges;
...“
20 Zur Prüfung von auf § 1 Abs. 1 VOG gestützten Ansprüchen hat das Verwaltungsgericht erstens konkrete Feststellungen zu der ins Treffen geführten Gesundheitsschädigung und zweitens einwandfreie und umfassende Feststellungen zu den potentiell für die Gesundheitsschädigung kausalen Tathandlungen zu treffen, und zwar insbesondere hinsichtlich Beginn, Dauer, Häufigkeit und Art der behaupteten Handlungen (vgl. etwa VwGH 21.8.2014, Ro 2014/11/0027, 0047 mwN).
21 Darüber hinaus sind für den Fall, dass bereits vor Setzen der betreffenden Tathandlungen eine bestimmte Grunderkrankung bestanden haben sollte, konkrete Feststellungen zu dieser Grunderkrankung zu treffen, und es ist diesbezüglich darzulegen, welche konkreten Umstände oder Vorfälle einen unbedenklichen Rückschluss auf eine solche schon zuvor bestehende Erkrankung zulassen (vgl. etwa VwGH 6.5.2022, Ra 2021/11/0171, mwN).
22 Auf Basis konkreter Feststellungen zu den Tathandlungen ist das Verwaltungsgericht sodann gehalten, in Anbetracht der jeweiligen strafgesetzlichen Bestimmungen rechtlich zu beurteilen, ob eine (oder allenfalls auch mehrere) Handlung(en) im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG, d.h. eine mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung, vorlag(en).
23 Anschließend ist - wiederum aufbauend auf die konkreten Feststellungen zur Gesundheitsschädigung (sowie zu einer allfälligen Grunderkrankung) und zu den jeweiligen Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG - die rechtliche Beurteilung vorzunehmen, ob ein Kausalzusammenhang mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit zwischen der Gesundheitsschädigung und den Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG besteht, und zwar auf der Basis von Feststellungen, denen ein ärztliches Sachverständigengutachten zugrunde zu legen ist. „Wahrscheinlichkeit“ dafür, dass die festgestellte Gesundheitsschädigung auf das schädigende Ereignis ursächlich zurückzuführen ist, ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung erheblich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. erneut VwGH 6.5.2022, Ra 2021/11/0171, mwN).
24 Weiters ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zum VOG betreffend die Annahme der (anspruchserzeugenden) Kausalität einer Ursache bei Vorliegen mehrerer möglicher Ursachen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und der vorgebrachten Gesundheitsbeeinträchtigung nicht schon dann auszuschließen, wenn eine weitere Ursache für die Gesundheitsbeeinträchtigung in Betracht kommt, solange das Verbrechen als mitwirkende Ursache nicht erheblich in den Hintergrund tritt (vgl. VwGH 28.6.2021, Ra 2019/11/0147, mwN). Nur jene Bedingung, ohne deren Mitwirkung der Erfolg überhaupt nicht oder nur zu einem erheblich anderen Zeitpunkt oder nur in geringerem Umfang eingetreten wäre, ist eine wesentliche Bedingung (vgl. abermals VwGH 6.5.2022, Ra 2021/11/0171, mwN).
25 Im Revisionsfall ist unstrittig, dass die Revisionswerberin während ihrer Unterbringung in zwei Kinderheimen durch die psychischen und physischen Misshandlungen der dortigen Erzieherinnen und durch den mehrfachen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater Opfer mehrerer Straftaten im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG wurde. Allerdings verneinte das Verwaltungsgericht einen Kausalzusammenhang zwischen diesen Straftaten und den Gesundheitsschädigungen der Revisionswerberin.
26 Im Revisionsfall liegen einander widersprechende Befunde und Gutachten zum Vorliegen einer PTBS und einer komplexen Traumafolgestörung bei der Revisionswerberin vor, wobei in der weit überwiegenden Zahl die Diagnose PTBS aufgrund der erlittenen Straftaten gestellt wurde. Den Grundsätzen einer nachvollziehbaren beweiswürdigenden Beurteilung einander widersprechender Gutachten (vgl. dazu etwa VwGH 17.8.2020, Ra 2019/12/0084, mwN) wird das Verwaltungsgericht schon deshalb nicht gerecht, weil es sich im Rahmen der Beweiswürdigung nicht ausreichend bzw. lediglich mit einzelnen der von der Revisionswerberin vorgelegten Befunde und Gutachten auseinandersetzte.
27 Das Verwaltungsgericht stützte seine Feststellung, dass die Revisionswerberin nicht an einer PTBS leide, im Wesentlichen auf die in der mündlichen Verhandlung vorgenommene Erörterung des von der Sachverständigen Dr. G vorgelegten Artikels aus dem Hessischen Ärzteblatt 05/2016. Begründend führte es aus, dass die Revisionswerberin im Zuge der psychiatrischen Untersuchung durch Dr. G die in diesem Artikel genannten Kriterien zur Bejahung einer PTBS nicht erfüllt habe. So habe sie weder Flashbacks noch Erinnerungslücken oder Konzentrationsschwierigkeiten aufgewiesen, sie sei auch nicht aufgeregt gewesen, wobei ihre Gereiztheit auch andere Ursachen gehabt haben könne.
28 Dieses Ergebnis erscheint schon deshalb nicht schlüssig, weil nicht dargelegt wird, warum die Diagnose PTBS voraussetzt, dass alle in einem (einzigen) bestimmten wissenschaftlichen Artikel aufgezählten Symptome im Zuge einer eineinhalbstündigen psychiatrischen Untersuchung auftreten müssen. Dagegen spricht etwa der von der Revisionswerberin vorgelegte Patientenbrief der Universitätsklinik für Psychiatrie vom 15. Oktober 2018, in dem Univ.Prof. Dr. W u.a. ausführte, „Patienten mit schwerwiegenden Belastungserfahrungen, insbesonders nach sexuellem Missbrauch, benötigen oft einen langen, meist mehrstündigen oder über mehrere Untersuchungen verteilten Untersuchungsrahmen, um Vertrauen aufzubauen und offen über Erfahrungen und Symptome zu sprechen“.
29 Weiters stellte das Verwaltungsgericht aufgrund des Gutachtens Dris. G fest, die Revisionswerberin leide an einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung ungeklärter Genese, welche das Vorliegen einer PTBS ausschließe. Abgesehen davon, dass in den vorgelegten Befunden lediglich vom „Verdacht auf“ eine organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung die Rede ist, wird nicht dargelegt, woraus sich der von der Sachverständigen aus dem Vorliegen einer komplexen Schielerkrankung und Teillähmung des Gaumensegels gezogene Schluss auf eine organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung ergibt. Eine nähere Erklärung für die Annahme, eine organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung schließe eine PTBS aus, fehlt ebenso.
30 Unschlüssig erscheint aber auch die Erklärung, die festgestellte rezidivierende depressive Störung sei genetisch bedingt, da die Mutter der Revisionswerberin „wahrscheinlich depressiv“ gewesen sei. Konkrete Feststellungen, dass die Mutter der Revisionswerberin tatsächlich an Depressionen gelitten hätte, fehlen. Überdies fehlt eine ausreichende Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu den anlagebedingten Faktoren und sonstigen Umständen, die allenfalls einen derartigen Rückschluss zuließen (vgl. etwa VwGH 21.8.2014, Ro 2014/11/0027, 0047).
31 Soweit das Verwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung ausführte, die von der Revisionswerberin erlittenen Verbrechen hätten „mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Aufrechterhaltung und Ausprägung der depressiven Störung beigetragen“, erweist sich die Annahme des Verwaltungsgerichts, die rezidivierende depressive Störung der Revisionswerberin sei lediglich eine „akausale Grunderkrankung“, im Lichte der oben zitierten hg. Judikatur zur wesentlichen Bedingung (vgl. abermals VwGH 28.6.2021, Ra 2019/11/0147; 6.5.2022, Ra 2021/11/0171, jeweils mwN) als unschlüssig.
32 Da aber bereits die Grundlagen für die erforderliche Kausalitätsbeurteilung mangels ausreichender medizinisch-wissenschaftlicher Belege fehlerhaft sind, erweisen sich die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur mangelnden Kausalität der an der Revisionswerberin begangenen Straftaten im Sinn des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG für ihre Gesundheitsschädigungen insgesamt als nicht schlüssig.
33 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
34 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 6. Dezember 2022
Schlagworte
Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Ermessen Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung ArztEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020110197.L00Im RIS seit
23.01.2023Zuletzt aktualisiert am
23.01.2023