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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §5 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. Sutter und Mag. Tolar sowie die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A A, vertreten durch Mag. Leopold Höher als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Petra Trauntschnig, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Hegelgasse 13/4/21, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2022, W144 2255754-1/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den Antrag des Revisionswerbers, eines irakischen Staatsangehörigen, auf internationalen Schutz in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 14. Mai 2022 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, sprach aus, dass für die Prüfung des Antrags gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-Verordnung Litauen zuständig sei, ordnete die Außerlandesbringung des Revisionswerbers an und erklärte die Abschiebung nach Litauen für zulässig. Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2 Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe sein Heimatland Anfang August 2021 verlassen und sei über Weißrussland nach Litauen gereist, wo er acht Monate lang aufhältig gewesen sei und ein Asylverfahren betrieben habe. Am 3. April 2022 sei er in das Bundesgebiet eingereist und habe am nächsten Tag einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Aufgrund einer EURODAC-Treffermeldung bezüglich Litauen habe das BFA am 11. April 2022 ein Wiederaufnahmeersuchen an die litauischen Behörden gerichtet, die diesem mit Schreiben vom 22. April 2022 ausdrücklich zugestimmt hätten.
3 Der Revisionswerber wende gegen eine Überstellung nach Litauen u.a. ein, ein Familienleben mit Personen (Ehefrau und gemeinsame minderjährige Tochter) zu haben, die in Österreich schutzberechtigt seien. Dazu stelle das BVwG fest, dass der Revisionswerber familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet durch seine Freundin und das gemeinsame Kind habe. Er habe die Freundin im Jahr 2020 in der Türkei kennengelernt, als sie von Österreich offensichtlich in die Türkei gereist war. Zu diesem Zeitpunkt habe der Revisionswerber überhaupt keine Anknüpfungspunkte zu Österreich gehabt, sei zuvor nie im Bundesgebiet aufhältig gewesen und habe keine Aussicht auf ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet gehabt. Dennoch hätten er und seine Freundin sich für das Eingehen einer Beziehung und für eine Schwangerschaft entschieden. Die Freundin des Revisionswerbers sei in der Folge etwa Mitte des Jahres 2020 wieder nach Österreich zurückgekehrt, während der Revisionswerber bis zum 5. August 2021 in der Türkei bzw. im Irak verblieben sei. Im Dezember 2020 sei die Tochter des Revisionswerbers geboren worden. Persönliche Kontakte habe der Revisionswerber in der Folge weder zu seiner Freundin noch zu seiner Tochter gehabt, und zwar selbst nach seiner Einreise in das Bundesgebiet. Es habe bis etwa Mitte Mai 2022 lediglich täglich telefonische Kontakte und bloß einen einzigen persönlichen Kontakt in Traiskirchen gegeben. Rechtlich folgerte das BVwG, zur Prüfung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz sei gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung Litauen zuständig, weil es in das Asylverfahren eingetreten sei und einer Wiederaufnahme des Revisionswerbers zugestimmt habe. Seitens des BVwG begegne es keinen Bedenken, wenn das BFA im vorliegenden Fall angesichts der konkreten Umstände und der Begründung der Beziehung des Revisionswerbers zu seiner Freundin und zu seiner Tochter im Ausland - wobei nachfolgend keinerlei persönliche Kontakte gegeben gewesen seien - keine ausreichenden humanitären Gründe für einen Selbsteintritt als gegeben erachtet habe.
4 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache geltend gemacht wird, das BVwG habe übersehen, dass nach Art. 9 Dublin-III-Verordnung Österreich für die Prüfung des Antrags zuständig sei, weil der Revisionswerber eine Ehefrau und eine gemeinsame Tochter im Bundesgebiet habe, die über subsidiären Schutz verfügten. Diese Norm gelte ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden habe. Das BVwG spreche in seiner Entscheidung von der Freundin des Revisionswerbers, habe aber nicht beachtet, dass der Revisionswerber eine traditionelle Eheschließung in der Türkei behauptet habe. Nach internationalem Privatrecht gelte für Eheschließungen im Ausland, dass lediglich die Einhaltung der Formvorschriften des Ortes der Eheschließung notwendig sei (§ 16 Abs. 2 IPRG). Die traditionelle Eheschließung in der Türkei sei nach den dortigen Formvorschriften gültig. Der Revisionswerber und seine Frau seien daher auch in Österreich als Ehegatten zu betrachten. Das BVwG sei zu Unrecht auch nicht darauf eingegangen, dass hinsichtlich der Tochter des Revisionswerbers eine Familienangehörigkeit vorliege.
5 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Gemäß Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung finden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in der im Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung. Nach § 7 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung wird bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
9 Kapitel III enthält mit Art. 9 Dublin-III-Verordnung einen besonderen Zuständigkeitstatbestand für Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind. Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen - ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat -, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Diese Regelung erlaubt den Betroffenen (dem Antragsteller und den Begünstigten des internationalen Schutzes) nicht nur ein Mitspracherecht, sondern überträgt diesen die Entscheidung, ob sie zusammengeführt werden wollen. Damit ist der Fall ausgeschlossen, dass Personen gegen ihren Willen zusammengeführt werden. Über das Erfordernis derartiger Erklärungen ist der Antragsteller im Rahmen seines Rechts auf Information (vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. b und c Dublin-III-VO) zu belehren und es sind im Falle eines derartigen Wunsches des Antragstellers die Begünstigten des internationalen Schutzes zu kontaktieren, um zu überprüfen, ob sie einer Zusammenführung zustimmen (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin-III-Verordnung [2014], Art. 9, S. 127; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG Bd. 3 [Nov. 2020], § 29 dt. AsylG, Rn. 128).
10 Als Familienangehörige im Sinne dieser Bestimmung gelten gemäß Art. 2 lit. g Dublin-III-Verordnung (u.a.) „der Ehegatte des Antragstellers oder sein nicht verheirateter Partner, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare“ und die (unverheirateten) minderjährigen Kinder des genannten Paares oder des Antragstellers.
11 Nach der ausdrücklichen Anordnung des Art. 9 Dublin-III-Verordnung kommt es im Anwendungsbereich dieser Norm nicht darauf an, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Die Familiengründung kann daher auch außerhalb des Herkunftslandes (aber vor der erstmaligen Antragstellung auf internationalen Schutz) stattgefunden haben.
12 Das BVwG zieht nicht in Zweifel, dass der Revisionswerber familiäre Beziehungen in Österreich hat, wobei es von einer „Freundin“ des Revisionswerbers und einem gemeinsamen Kind ausgeht. Aufgrund des Vorbringens des Revisionswerbers, in Österreich eine (traditionell in der Türkei angetraute) Ehefrau sowie ein in Österreich geborenes gemeinsames Kind zu haben, denen subsidiärer Schutzstatus zuerkannt worden sei, wäre das BVwG vor diesem dargestellten rechtlichen Hintergrund aber gehalten gewesen, weitere Prüfschritte vorzunehmen bzw. Feststellungen zu treffen, um die Zuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung beurteilen zu können.
13 So hätte insbesondere geklärt werden müssen, ob und zu welchem Zeitpunkt die Tochter des Revisionswerbers subsidiären Schutz erhalten hat. Hätte sie diesen Schutzstatus im Zeitpunkt der (erstmaligen) Antragstellung des Revisionswerbers in einem Mitgliedstaat der EU bereits erlangt gehabt, so käme schon deshalb Art. 9 Dublin-III-Verordnung zur Anwendung, soweit - was ebenfalls hätte überprüft werden müssen - die betreffenden Personen (also insbesondere die gesetzliche Vertretung der Tochter für diese) den Wunsch zur Führung des Verfahrens in Österreich schriftlich bereits kundgetan haben oder - falls darüber bislang keine Belehrung stattgefunden hat und die Frage der Zustimmung der Betroffenen noch nicht erörtert worden ist - sie diesen Wunsch nunmehr noch schriftlich kundtun bzw. eine Zustimmung erteilen.
14 In Bezug auf die Mutter des gemeinsamen Kindes wird von der Revision geltend gemacht, es handle sich bei ihr um eine Ehegattin auch im Sinne der Dublin-III-Verordnung. Das BVwG hat sich nicht damit beschäftigt, ob die behauptete Eheschließung des Revisionswerbers mit der Mutter des gemeinsamen Kindes in der Türkei stattgefunden hat und nach den dortigen Formvorschriften, wie die Revision vorbringt, gültig erfolgt ist. Sollte dies zutreffen, wäre die Ehe grundsätzlich auch in Österreich als gültig anzusehen (§ 16 Abs. 2 IPRG). In diesem Fall wäre ergänzend festzustellen gewesen, ob die Ehefrau des Revisionswerbers im Zeitpunkt der (erstmaligen) Antragstellung des Revisionswerbers in einem Mitgliedstaat der EU bereits subsidiären Schutz in Österreich erlangt hatte und ob die Betroffenen den Wunsch bzw. die Zustimmung zur Führung des Verfahrens in Österreich schriftlich geäußert haben oder noch äußern (siehe oben).
15 Da das BVwG diese erforderlichen Prüfschritte in offenbarer Verkennung der Rechtslage nicht vorgenommen hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
16 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 15. Dezember 2022
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022180182.L00Im RIS seit
23.01.2023Zuletzt aktualisiert am
23.01.2023