Index
L37158 Anliegerbeitrag Aufschließungsbeitrag Interessentenbeitrag VorarlbergNorm
AVG §8Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Lehofer sowie die Hofrätin Mag. Rehak und den Hofrat Mag. Haunold als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des K G Z in N, vertreten durch Dr. Christoph Schneider, Rechtsanwalt in 6700 Bludenz, Bahnhofstraße 8a, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg vom 13. Februar 2020, Zl. LVwG-318-90/2019-R15, betreffend eine Angelegenheit nach dem Vorarlberger Baugesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Gemeinde Nüziders; mitbeteiligte Parteien: 1. M M und 2. N M beide in N; weitere Partei: Vorarlberger Landesregierung), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Gemeinde Nüziders hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Eingabe vom 17. April 2019 brachten die mitbeteiligten Parteien die Bauanzeige zur Freigabe von Außenanlagen auf dem Grundstück Nr. X, GB N., ein. Die Bauanzeige umfasste unter anderem bauliche Veränderungen im westseitigen Außenbereich der Bauliegenschaft. Demnach wurde im Hangbereich der Bauliegenschaft zurückversetzt eine zur Gemeindestraße W.-gasse parallel verlaufende Stützmauer aus Bruchsteinmauerwerk über Eck verlaufend an der Grundgrenze zum Nachbargrundstück Nr. Y ausgeführt. Vor dieser Stützmauer wurde straßenseitig eine zusätzlich asphaltierte Stellfläche errichtet. In das Stützmauerwerk integriert wurde eine Außenstiegenanlage parallel verlaufend zur Gemeindestraße W.-gasse eingebaut, wobei das Podest im westseitigen Eckbereich der Stützmauer mit einer Richtungsänderung um 90 Grad und weiterführender Stiegenanlage zur Erschließung des Hangbereiches einen Abstand von 1,06 m gegenüber dem westseitigen Grundstück Nr. Y im Eigentum des Revisionswerbers gemäß dem Projektplan vom 16. April 2019 aufweist. Der Steinsatz des Stützmauerbauwerks liegt vollständig auf dem Baugrundstück Nr. X.
2 Mit Bescheid des Bürgermeisters der Gemeinde Nüziders (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) vom 29. April 2019 wurde das von den mitbeteiligten Parteien angezeigte Bauvorhaben - die Errichtung von Außenanlagen auf dem Grundstück Nr. X - gemäß § 33 Abs. 2 und § 29 Abs. 5 des Baugesetzes unter Vorschreibung von Auflagen freigegeben.
3 Nachdem das durch den Revisionswerber im Beschwerdeweg angerufene Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (im Folgenden: Verwaltungsgericht) der belangten Behörde mit Erkenntnis vom 5. August 2019 aufgetragen hatte, den Freigabebescheid dem Revisionswerber zuzustellen, erhob dieser gegen den Bescheid vom 29. April 2019 Beschwerde, der mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichts keine Folge gegeben wurde. Im Spruch dieses Erkenntnisses wurde eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof für unzulässig erklärt.
4 Das Verwaltungsgericht stellte im angefochtenen Erkenntnis fest, nach dem Profil 1 des Projektplans vom 16. April 2019 weise die Stützmauer inklusive der Absturzsicherung (Geländer-Höhe 1,2 m), gemessen vom Niveau an der Grundgrenze zum westseitigen Nachbargrundstück Nr. Y, vor Beginn der Baumaßnahmen eine Gesamthöhe von 1,79 m auf.
5 Die mitbeteiligten Parteien hätten das angezeigte Bauvorhaben bereits ausgeführt. Ebenso habe der Revisionswerber im südöstlichen Bereich seines Grundstücks Nr. Y, angrenzend an das Baugrundstück Nr. X, Baumaßnahmen durchgeführt.
6 Vor Beginn der Bautätigkeiten auf diesen Grundstücken sei der Hang auf beiden Grundstücken schräg abfallend bis zur Gemeindestraße W.-gasse verlaufen. Am 2. März 2018 sei auf beiden Grundstücken gleichzeitig mit Aushubarbeiten begonnen und das Gelände abgegraben worden. Am 1. November 2018 hätten die mitbeteiligten Parteien mit dem Bau der Mauer auf ihrem Grundstück Nr. X begonnen. Der Revisionswerber habe mit dem Bau der Mauer auf seinem Grundstück Nr. Y am 3. Dezember 2018 begonnen. Am 7. Dezember 2018 seien die Parkplätze unterhalb dieser Mauern auf beiden Grundstücken asphaltiert worden.
7 Der Abstand der Mauer auf Grundstück Nr. Y zur W.-gasse betrage ca. 5 m, der Abstand der Mauer auf Grundstück Nr. X zur W.-gasse betrage ca. 2 m. Den Auftrag für die Grabarbeiten auf den genannten Grundstücken habe der jeweilige Grundeigentümer erteilt.
8 Nachdem die mitbeteiligten Parteien die ursprünglich errichtete Treppe zu hoch ausgeführt hätten, sei der Treppenaufbau verkleinert worden. Die nunmehrige Ausführung des Treppenaufbaus entspreche den mit der Bauanzeige eingereichten Planunterlagen. Die darin eingezeichnete Höhe von 1,79 m beziehe sich auf das westseitige Mauereck inklusive Geländer, bezogen auf das ursprüngliche Hanggelände, wie es vor März 2018 bestanden habe.
9 Die Bautätigkeiten des Revisionswerbers auf seinem Grundstück seien ebenfalls ohne vorherige Bauanzeige durchgeführt worden. Der Revisionswerber habe die von ihm getätigten Baumaßnahmen im östlichen Bereich seines Grundstücks mit Bauanzeige vom 26. August 2019 bei der Gemeinde Nüziders angezeigt.
10 In seinen rechtlichen Erwägungen verwies das Verwaltungsgericht auf Judikatur der Höchstgerichte zur Frage, ob Nachbarn in einem Anzeigeverfahren nach der Gewerbeordnung 1994 bzw. nach diversen Bauordnungen der Länder eine (eingeschränkte) Parteistellung zukomme.
11 Während der Verfassungsgerichtshof nach (näher zitierter) früherer Judikatur keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Ausschluss der Parteistellung von Nachbarn im Anzeigeverfahren über Bauvorhaben gemäß § 19 lit. a Vorarlberger Baugesetz geäußert und der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 13. Oktober 2010, 2010/06/0165, zur Parteistellung des Nachbarn im Anzeigeverfahren ausgeführt habe, dass den Beschwerdeführern als Nachbarn im Bauanzeigeverfahren gemäß dem Vorarlberger Baugesetz keine Parteistellung zukomme, auch nicht zu der Frage, ob das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben zu Recht einem Anzeigeverfahren unterzogen worden sei, habe sich die Judikatur zu dieser Frage geändert.
12 Der Verfassungsgerichtshof habe in seinem Erkenntnis vom 1. März 2012, VfSlg. 19.617, ausgeführt, dass es verfassungsrechtlich bedenklich wäre, den Nachbarn die Parteistellung in einem gewerberechtlichen Änderungsanzeigeverfahren gemäß § 81 Abs. 3 in Verbindung mit § 345 Abs. 6 Gewerbeordnung 1994 schlechthin, also auch bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen des Anzeigeverfahrens überhaupt vorliegen, zu versagen und diese Beurteilung allein der Behörde zu überlassen.
13 Der Verwaltungsgerichtshof habe in seinem zur Kärntner Bauordnung ergangenen, ein vereinfachtes Baubewilligungsverfahren im Sinne des § 24 Kärntner Bauordnung betreffenden Erkenntnis vom 21. Mai 2015, 2013/06/0176 u.a., unter Bezugnahme auf weitere Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes judiziert, dass den Nachbarn hinsichtlich der Frage, ob die Voraussetzungen eines vereinfachten Baubewilligungsverfahrens gemäß § 24 leg. cit. gegeben seien, bei gebotener verfassungskonformer Auslegung Parteistellung zukomme.
14 Ferner erwähnte das Verwaltungsgericht das zur Wiener Bauordnung ergangene hg. Erkenntnis vom 4. November 2016, Ro 2014/05/0029, in dem festgehalten worden sei, dass der Nachbar, der die Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts im Sinn des § 134 Abs. 1 leg. cit. durch ein (bloß) gemäß § 62 leg. cit. angezeigtes Bauvorhaben geltend machen wolle, nach der Bauordnung keine Möglichkeit habe, etwa durch Stellung eines Antrags auf Erlassung eines baupolizeilichen Auftrages nach Verwirklichung des Bauvorhabens Abhilfe zu suchen, weil ihm diesbezüglich kein Antragsrecht zukomme. In Betrachtung des Sachlichkeitsgebotes sei daher bei verfassungskonformer Auslegung der maßgeblichen Rechtsvorschriften der Wiener Bauordnung dem Nachbarn im Bauanzeigeverfahren gemäß § 62 leg. cit. die auf die Frage der Überprüfung der Zulässigkeit des Bauanzeigeverfahrens beschränkte Parteistellung zuzubilligen.
15 Darüber hinaus zitierte das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang die hg. Erkenntnisse vom 27. Juni 2017, Ra 2016/05/0118 (zur Niederösterreichischen Bauordnung), und vom 22. Jänner 2019, Ra 2018/05/0191 (zur Wiener Bauordnung).
16 Die Rechtslage nach dem Vorarlberger Baugesetz - so das Verwaltungsgericht weiter - sei mit jener der Kärntner, Wiener oder Niederösterreichischen Bauordnung vergleichbar. Auch nach dem Vorarlberger Baugesetz habe ein Nachbar keine Möglichkeit, einen baupolizeilichen Auftrag zu erwirken, weil ihm diesbezüglich kein Antragsrecht zukomme. Im Sinne der dargestellten jüngeren Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sei in Anbetracht des Sachlichkeitsgebotes daher bei verfassungskonformer Auslegung der §§ 32 bis 34 Baugesetz dem Nachbarn im Bauanzeigeverfahren nach § 32 Baugesetz die auf die Frage der Überprüfung der Zulässigkeit des Bauanzeigeverfahrens beschränkte Parteistellung zuzubilligen.
17 Der Revisionswerber habe eine Verletzung des Mindestabstandes gegenüber seinem Grundstück geltend gemacht. Bei Zutreffen dieses Vorbringens unterläge das angezeigte Bauvorhaben nicht der Anzeigepflicht, sondern der Bewilligungspflicht nach dem Baugesetz.
18 Der Revisionswerber bestreite nicht, dass der erforderliche Mindestabstand, ausgehend von jenem Ursprungsgelände, das vor Beginn der Baumaßnahmen auf den betreffenden Grundstücken vor März 2018 bestanden habe, eingehalten werde. Ebenso wenig bestreite er, dass die Abstandsflächen eingehalten würden. Vielmehr bringe er vor, dass der Beurteilung des erforderlichen Mindestabstandes durch die Baubehörde zu Unrecht das damals bestehende Ursprungsgelände zugrunde gelegt worden sei. Es sei auf das gegenwärtige Gelände abzustellen.
19 Dazu führte das Verwaltungsgericht aus, vor Beginn der Baumaßnahmen sei auf den beiden betroffenen Grundstücken der Hang als natürliches Gelände schräg abfallend bis zur W.-gasse verlaufen. Somit sei dieses Gelände vor Beginn der Baumaßnahmen am 2. März 2018 das Urgelände. Die im März 2018 vorgenommene Abtragung des Hanges und die in weiterer Folge errichteten Parkplätz und Mauerwerke seien auf beiden betroffenen Grundstücken ohne die erforderliche Bauanzeige erfolgt. Somit seien auch die auf dem Grundstück des Revisionswerbers erfolgten Baumaßnahmen ohne entsprechende Bauanzeige bzw. ohne Freigabe erfolgt. Diese konsenslos vorgenommene Geländeveränderung bzw. Abtragung des Hanges könne nach Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht dazu herangezogen werden, um dem angezeigten Bauvorhaben des Bauwerbers nunmehr einen neuen Geländeverlauf entgegenzuhalten. Nur eine konsentierte Geländeveränderung könne dazu führen, dass ein „neues Urgelände“ entstehe, an welchem eine spätere Bauführung eines Nachbarn zu messen sei. Ansonsten stünde es im Belieben eines Nachbarn, durch Abtragung des Geländes an der Grundgrenze auf seinem Grundstück einen „neuen Urzustand“ zu schaffen, um diesen dann im Baubewilligungs- oder Bauanzeigeverfahren eines Bauvorhabens des Nachbarn einzuwenden.
20 Die Baubehörde habe bei der Erlassung des Freigabebescheides am 29. April 2019 daher zu Recht das - rechtmäßig - bestehende Urgelände der rechtlichen Beurteilung des angezeigten Bauvorhabens zu Grunde gelegt. Der Revisionswerber werde durch das angezeigte Bauvorhaben in seinem subjektiven Recht auf Einhaltung der gesetzlichen Mindestabstände nicht verletzt.
21 Dem Spruch des angefochtenen Erkenntnisses widersprechend führte das Verwaltungsgericht an dessen Ende aus, dass die Revision zulässig sei. Zur Rechtsfrage, ob dem Nachbarn im Bauanzeigeverfahren eine auf die Frage der Überprüfung der Zulässigkeit des Bauanzeigeverfahrens beschränkte Parteistellung zukomme, liege die dargestellte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 13.10.2010, 2010/06/0165, zum Vorarlberger Baugesetz) vor. Das angefochtene Erkenntnis weiche von dieser Rechtsprechung ab, da nunmehr auch die dargestellte jüngere Rechtsprechung zur Kärntner, Wiener und Niederösterreichischen Bauordnung vorliege.
22 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die (außerordentliche) Revision wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit in wesentlichen Punkten.
23 Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof erstattete die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung.
Die Vorarlberger Landesregierung als weitere Partei des Verfahrens beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Abänderung, in eventu Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses.
24 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
25 In der Zulässigkeitsbegründung der Revision wird ausgeführt das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Verweis auf VwGH 27.11.2007, 2006/06/0313) ab. In diesem Erkenntnis, das zum damaligen § 7 Baugesetz ergangen sei, habe der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, die zulässige Höhe von 1,80 m über dem Nachbargrundstück sei auf den derzeitigen Geländeverlauf zu beziehen. Der damaligen Bestimmung des § 7 Abs. 1 lit. e Baugesetz entspreche der jetzige § 6 Abs. 3 lit. a Baugesetz.
26 Mit der Baugesetz-Novelle im Jahr 2015 (gemeint wohl: 2001) habe der Gesetzgeber bezüglich der 6/10-Abstandsflächen gemäß § 5 das „Urgelände“ eingeführt. Diese Bestimmungen gälten jedoch, was sich aus dem Motivenbericht ergebe, lediglich für die 6/10-Abstandsflächen. Nur für diese sei definiert worden, dass der Fußpunkt nach Abs. 3 leg. cit. dann nach der Geländeoberfläche vor der Veränderung (Urgelände) maßgeblich sei, wenn die Geländeoberfläche durch die Bauführung oder im Hinblick auf eine beabsichtigte Bauführung verändert worden sei. Diese Gesetzesänderung habe jedoch lediglich die 6/10-Abstände nach § 5 Baugesetz, nicht jedoch die Mindestabstände nach § 6 Baugesetz betroffen. Es existiere keine Rechtsprechung dazu, ob „seit der Novelle 2015“ bezüglich § 6 Baugesetz das gegenwärtige Gelände oder das für § 5 Baugesetz eingeführte „Urgelände“ maßgeblich sei.
27 Die Revision erweist sich aus den in der Zulässigkeitsbegründung der Revision angeführten Gründen als zulässig.
28 Vor dem Hintergrund der im angefochtenen Erkenntnis zitierten jüngeren Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 1.3.2012, VfSlg. 19.617) und des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 21.5.2015, 2013/06/0176 u.a.; 4.11.2016, Ro 2014/05/0029; 27.6.2017, Ra 2016/05/0118; 22.1.2019, Ra 2018/05/0191) und der Vergleichbarkeit der Rechtslage nach dem Vorarlberger Baugesetz mit der jeweiligen, den zitierten hg. Entscheidungen zugrunde gelegenen Rechtslage der Bauordnungen in Kärnten, Niederösterreich und Wien ist zunächst im Einklang mit der Beurteilung des Verwaltungsgerichts festzuhalten, dass in Anbetracht des Sachlichkeitsgebotes bei verfassungskonformer Auslegung der §§ 32 bis 34 Baugesetz im Bauanzeigeverfahren nach § 32 Baugesetz dem Nachbarn die auf die Frage der Überprüfung der Zulässigkeit des Bauanzeigeverfahrens beschränkte Parteistellung zuzubilligen ist.
29 In den Revisionsgründen wird vorgebracht, das angefochtene Erkenntnis gehe davon aus, dass der Mindestabstand (nur) deshalb eingehalten sei, weil die Mauer nur 1,79 m über das vor dem 2. März 2018 in Form einer Böschung existiert habende Urgelände hinausrage. Sobald die Abgrabung an dieser Böschung auf dem Grund des Revisionswerbers mehr als 2 cm hoch gewesen sei, sei der Mindestabstand nicht mehr gegeben. Die Abgrabungen seien jedoch deutlich höher als 2 cm gewesen. Die Mauer rage zumindest 3,8 m über das Gelände auf dem Grund des Revisionswerbers, wie es seit 2. März 2018 bestanden habe und nach wie vor bestehe. Demzufolge seien die Mindestabstände nicht eingehalten und hätte eine Freigabe nicht erfolgen dürfen; vielmehr wäre das Baubewilligungsverfahren einzuleiten gewesen.
§ 6 Baugesetz sei nicht zu entnehmen, dass „ein früher (wann?) gegebenes Gelände“ für die Mindestabstände maßgeblich sei. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts bezüglich der nicht konsentierten Geländeveränderung bzw. bezüglich des Urgeländes seien rechtswidrig und übersähen, dass Geländeveränderungen gar nicht konsentiert werden müssten.
Dem angefochtenen Erkenntnis sei nicht zu entnehmen, wie hoch das Niveau auf dem Grundstück des Revisionswerbers im Bereich der gegenständlichen Mauer sei und wie hoch die Mauer über dieses Niveau hinausrage. Diese fehlenden Feststellungen seien entscheidungswesentlich. Es lasse sich jedoch den vorliegenden Plänen entnehmen, dass die Mauer mehr als 1,80 m über den Grund des Revisionswerbers hinausrage.
30 Im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses hatte das Vorarlberger Baugesetz, LGBl. Nr. 52/2001 in der Fassung LGBl. Nr. 19/2020, auszugsweise folgenden Inhalt:
„§ 5
Abstandsflächen
(...)
(4) Der jeweilige Fußpunkt nach Abs. 3 ergibt sich an der Schnittstelle der Außenwand mit der bestehenden Oberfläche des Geländes. Wurde die Geländeoberfläche durch eine Bauführung oder im Hinblick auf eine beabsichtigte Bauführung verändert, so ist von der Geländeoberfläche vor dieser Veränderung auszugehen. Untergeordnete Geländeerhebungen und -vertiefungen sind nicht zu berücksichtigen. Im Falle einer Verfügung nach den §§ 3 Abs. 5 oder 29 Abs. 2 ist von der verfügten Geländeoberfläche auszugehen.
(...)
§ 6
Mindestabstände
(1) Der Mindestabstand zur Nachbargrenze beträgt für:
a) ein Gebäude 3 m;
b) ein sonstiges Bauwerk 2 m.
(...)
(4) Abweichend von Abs. 1 bis 3 gilt kein Mindestabstand für:
a) Einfriedungen oder sonstige Wände oder Geländer bis zu einer Höhe von 1,80 m über dem Nachbargrundstück;
(...)
§ 7
Abstandsnachsicht
(1) Die Behörde kann Ausnahmen von den Vorschriften des § 5 Abs. 1 bis 6 sowie des § 6 Abs. 1 bis 3 zulassen (Abstandsnachsicht), wenn die Interessen der Sicherheit, der Gesundheit sowie des Schutzes des Orts- und Landschaftsbildes nicht beeinträchtigt werden und überdies
(...)
e) bei der Errichtung oder Änderung von Nebengebäuden oder Nebenanlagen bis zu einer Höhe von 1,80 m über dem Nachbargrundstück die Nachbarn nicht stärker beeinträchtigt werden, als dies bei Errichtung einer Einfriedung oder einer sonstigen Wand bis zur selben Höhe der Fall wäre; oder
(...)
§ 19
Anzeigepflichtige Bauvorhaben
Wenn die Abstandsflächen und Mindestabstände eingehalten werden, sind folgende Bauvorhaben anzeigepflichtig:
(...)
e) die Errichtung oder wesentliche Änderung von Bauwerken, die keine Gebäude sind, sofern sie nicht nach § 18 Abs. 1 lit. c bewilligungspflichtig sind;
(...)
§ 32
Bauanzeige
(1) Die Bauanzeige ist bei der Behörde schriftlich einzubringen.
(2) In der Bauanzeige sind Art, Lage, Umfang und die beabsichtigte Verwendung des Bauvorhabens anzugeben. Die im § 24 Abs. 3 lit. a bis c angeführten Unterlagen sind ihr anzuschließen.
(...)
§ 33
Erledigung
(...)
(2) Die Behörde hat das anzeigepflichtige Bauvorhaben mit schriftlichem Bescheid freizugeben, wenn das Bauvorhaben nach Art, Lage, Umfang, Form und Verwendung den bau- und raumplanungsrechtlichen Vorschriften entspricht und auch sonst öffentliche Interessen, besonders solche der Sicherheit, der Gesundheit, des Verkehrs, des Denkmalschutzes, der Energieeinsparung und des haushälterischen Umgangs mit Grund und Boden (§ 2 Abs. 3 lit. a Raumplanungsgesetz), nicht entgegenstehen. Auflagen nach § 29 Abs. 5 sind zulässig.
(...)“
31 Unstrittig würde das Vorliegen der vom Revisionswerber eingewandten Verletzung des Mindestabstandes zu seinem Grundstück durch das Bauvorhaben der mitbeteiligten Parteien dazu führen, dass das Bauvorhaben nicht anzeigepflichtig, sondern bewilligungspflichtig wäre.
32 Strittig ist im vorliegenden Fall, ob bei der Beurteilung der Wortfolge „bis zu einer Höhe von 1,80 m über dem Nachbargrundstück“ in § 6 Abs. 4 lit. a Baugesetz das Gelände vor Beginn der Baumaßnahmen am 2. März 2018 („Urgelände“; so das angefochtene Erkenntnis) oder das gegenwärtige Gelände (so die Revision) zugrunde zu legen ist.
33 In seinem Erkenntnis vom 27. November 2011, 2006/06/0313, hat der Verwaltungsgerichtshof zur identen Wortfolge in § 7 Abs. 1 lit. e Baugesetz ausgeführt, dass die zulässige Höhe von 1,80 m „über dem Nachbargrundstück“ auf das gegenwärtige Gelände zu beziehen und dem Gesetz nicht zu entnehmen ist, dass ein früheres Geländeniveau (wie auch immer das zu ermitteln und welcher Zeitpunkt diesbezüglich maßgeblich wäre) maßgeblich wäre.
34 Diese Judikatur ist auch auf die hier in Rede stehende Bestimmung des § 6 Abs. 4 lit. a Baugesetz zu übertragen.
35 Der Argumentation des Verwaltungsgerichts, es sei das „Urgelände“ vor Beginn der Baumaßnahmen am 2. März 2018 heranzuziehen und nur eine konsentierte Geländeveränderung könne dazu führen, dass ein „neues Urgelände“ entstehe, an welchem die Bauführung eines Nachbarn zu messen sei, ansonsten es im Belieben eines Nachbarn stünde, durch Abtragung des Geländes an der Grundgrenze auf seinem Grundstück einen „neuen Urzustand“ zu schaffen, ist - fallbezogen - zu entgegnen, dass nach den im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen auch die mitbeteiligten Parteien ihr Bauvorhaben erst nach dessen Durchführung (nämlich am 17. April 2019) der Behörde angezeigt und davor ihre Aushubarbeiten - zeitgleich mit dem Revisionswerber - am 2. März 2018 und zu diesem Zeitpunkt konsenslos begonnen hatten.
36 Hinzu kommt - worauf auch die weitere Partei in ihrer Revisionsbeantwortung zutreffend verweist -, dass mit dem Vorarlberger Baugesetz, LGBl. Nr. 52/2001, ausschließlich betreffend die Abstandsflächen (§ 5 leg. cit.) - nicht jedoch betreffend die Mindestabstände (§ 6 leg. cit.) - eine von der bisherigen Rechtslage abweichende Regelung getroffen wurde. Entsprechend den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 45 BlgvlbgLT (2001) 27. GP) zu § 5 Abs. 4 Baugesetz, LGBl. Nr. 52/2001, sei nach der früheren Rechtslage für die Ermittlung des Fußpunktes und damit der Abstandsflächen die projektierte (bzw. die von der Behörde verfügte) Geländeoberfläche maßgeblich gewesen. Nach der neuen Rechtslage solle nach wie vor von der verfügten Geländeoberfläche ausgegangen werden, wenn die Behörde eine solche Verfügung nach § 3 Abs. 5 oder nach § 29 Abs. 2 treffe. Im Übrigen solle anstelle der projektierten jedoch die bestehende Geländeoberfläche maßgeblich sein. Die Wortfolge „durch eine Bauführung“ beziehe sich nicht nur auf die Bauführung betreffend das zu beurteilende Vorhaben. Wenn die Veränderung der Oberfläche des Geländes im Zusammenhang mit einer bereits erfolgten (und konsentierten) Bauführung durchgeführt worden sei, sei auch im Falle eines weiteren Bauvorhabens von der Geländeoberfläche vor der ersten Veränderung des Geländes auszugehen.
37 Eine vergleichbare Regelung findet sich im Zusammenhang mit § 6 Baugesetz hingegen nicht. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber im Zuge der Neugliederung des § 6 Baugesetz durch die Novelle LGBl. Nr. 54/2015 einen vergleichbaren Regelungsinhalt beabsichtigt hätte. Vielmehr waren zwei (hier nicht maßgebliche) Abweichungen von den bisherigen Regelungen über die Mindestabstände Inhalt der Novellierung des § 6, während es zur Frage des zeitlichen Bezugspunktes der Formulierung „bis zu einer Höhe von 1,80 m über dem Nachbargrundstück“ keine Änderungen gab (vgl. dazu auch die ErläutRV 54 BlgvlbgLT (2015) 30. GP).
38 Aufgrund der dargestellten Entwicklung der einschlägigen Bestimmungen des Baugesetzes und der zitierten hg. Judikatur ist somit festzuhalten, dass für § 6 Abs. 4 lit. a (und § 7 Abs. 1 lit. e) Baugesetz - anders als nach § 5 Abs. 4 zweiter Satz Baugesetz in den dort genannten Fällen - nicht das „Urgelände“, also das ursprünglich vor der ersten Veränderung bestehende Gelände maßgeblich ist.
39 Da das Verwaltungsgericht dies verkannte und seiner Beurteilung das Gelände vor Beginn der Baumaßnahmen am 2. März 2018 zugrunde legte, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
40 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Dezember 2022
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Auslegung Gesetzeskonforme Auslegung von Verordnungen Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen VwRallg3/3 Baurecht NachbarEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020060143.L00Im RIS seit
23.01.2023Zuletzt aktualisiert am
23.01.2023