TE Vfgh Erkenntnis 1993/11/30 B1235/93

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Veröffentlicht am 30.11.1993
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8
FremdenG §10 Abs1 Z4

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung eines Sichtvermerks wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit; denkunmögliche Gesetzesanwendung durch Unterlassung einer dem Gesetz entsprechenden Interessenabwägung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Bundespolizeidirektion Wien versagte mit Bescheid vom 27. Mai 1993 gemäß §10 Abs1 Z4 Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, dem Beschwerdeführer (einem türkischen Staatsangehörigen) die beantragte Erteilung eines Sichtvermerkes.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

3. Die Bundespolizeidirektion Wien als jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§70 Abs2 FrG).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.

2. Gemäß §10 Abs1 Z4 FrG ist die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen, wenn der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 30. Juni 1993, B302/93, dargetan, daß er gegen §10 Abs1 Z4 FrG keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt. Der Umstand, daß diese Norm vom Verfassungsgerichtshof bereits angewendet wurde, zeigt auch, daß sie einer Auslegung zugänglich und - entgegen den Annahmen des Beschwerdeführers - ausreichend determiniert ist.

Auch gegen die sonstigen präjudiziellen Gesetzesbestimmungen sind keine solchen Bedenken entstanden. Der Beschwerdeführer wurde sohin durch den bekämpften Bescheid nicht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.

3. Hingegen verletzt der angefochtene Bescheid den Beschwerdeführer in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:

a) Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 13. März 1993, G212-215/92 u.a. Zlen., Pkt. IV.3.a, mit näherer Begründung ausgeführt:

"Die Behörde hatte sich daher bei Vollziehung der litd des §25 Abs3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des konkreten Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen."

Gleiches gilt infolge seiner inhaltlichen Identität mit §25 Abs3 litd PaßG 1969 (siehe das oben zitierte Erkenntnis vom 30. Juni 1993, B302/93) auch für §10 Abs1 Z4 FrG.

b) Ein Eingriff in das durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:

Der Beschwerdeführer ist mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet. Dieser Umstand war der belangten Behörde auch bekannt. Die von der Behörde in diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen sind jedoch derart mangelhaft, daß von einer Interessenabwägung (wie sie nach dem oben - lita - Gesagten geboten ist) nicht die Rede sein kann:

Die belangte Behörde geht - unausgesprochen - davon aus, daß sie bei der vorzunehmenden Interessenabwägung auch die Intensität der familiären Beziehungen in ihre Überlegungen einzubeziehen hat und daß die Tatsache einer Ehe - mag diese auch formell bestehen - allein noch keine familiäre Beziehung iS des Art8 EMRK nachweist.

Diese Ausgangsposition trifft zwar zu. Dennoch ist der Behörde hier bei der Anwendung dieser grundsätzlichen Überlegungen ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen.

Die belangte Behörde führt nämlich im angefochtenen Bescheid zur Frage der mangelnden familiären Beziehungen lediglich an, daß die Ehegattin des Beschwerdeführers vor ihrer Verehelichung "bereits mit einem anderen türkischen Staatsbürger verheiratet gewesen ist". Es sei "somit der Verdacht der Scheinehe gegeben, um in den Genuß eines Befreiungsscheins und einer Aufenthaltsberechtigung zu kommen".

Der Umstand, daß eine österreichische Staatsbürgerin schon früher mit einem Mann verheiratet war, der dieselbe Staatsangehörigkeit besitzt wie ihr nunmehriger Ehegatte, läßt nun (für sich genommen) aber keinesfalls auch nur den Verdacht zu, daß die jetzige Ehe eine Scheinehe sei. Die Argumentation der belangten Behörde würde zu dem unhaltbaren Ergebnis führen, daß allein eine bestimmte Nationalität des (nunmehrigen und des früheren) Ehepartners die Annahme begründet, die Ehe sei (möglicherweise) aus unlauteren Motiven geschlossen worden.

Soweit die Behörde hinsichtlich des von ihr behaupteten Verdachts der Scheinehe erst nach Erlassung des angefochtenen Bescheides Erhebungen durchgeführt hat, ist deren Ergebnis für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides ohne Belang.

Nach Aufhebung des angefochtenen Bescheides (s. die folgende litd) wird die Behörde die tatsächlichen familiären Beziehungen des Beschwerdeführers zu klären haben, wobei sie allenfalls auch darauf Bedacht zu nehmen haben wird, daß die Eheschließung während des illegalen Aufenthaltes des Beschwerdeführers erfolgt ist.

d) Da die belangte Behörde somit jegliche dem Gesetz entsprechende Interessenabwägung unterlassen hat, wurde der Beschwerdeführer in seinem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Fremdenrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1993:B1235.1993

Dokumentnummer

JFT_10068870_93B01235_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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