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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des R N, vertreten durch MMag. Dr. Gerhard Hochedlinger als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Juni 2022, L504 2223333-2/38E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein staatenloser Palästinenser aus Gaza, beantragte am 12. Mai 2019 internationalen Schutz in Österreich.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Palästinensischen Autonomiegebiete/Gaza zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber sei in Gaza bei UNRWA als Flüchtling registriert. Der Schutz durch UNRWA sei nicht weggefallen. Dies ergebe sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und der Position des UNHCR zu Rückkehrern nach Gaza vom März 2022. Die Rückkehrentscheidung sei aus näher dargestellten Gründen kein unverhältnismäßiger Eingriff in seine durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte.
4 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend gemacht wird, das BVwG sei von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen, indem es seiner Entscheidung Länderberichte zugrunde gelegt habe, denen es an der gebotenen Aktualität fehle. Infolge dessen sei die Frage, ob eine Rückkehr nach Gaza möglich oder der Schutz von UNRWA weggefallen sei, unrichtig gelöst worden. Die Annahme des BVwG, der Revisionswerber könne in Gaza eine Lebensgrundlage vorfinden, mute schon unter Bedachtnahme auf die im angefochtenen Erkenntnis getroffenen, nicht einmal aktuellen Länderfeststellungen fern der Lebensrealität an. Die Lage in Gaza habe sich jüngst, wie einem näher bezeichneten Medienbericht zu entnehmen sei, aber weiter verschlechtert. Der Revisionswerber würde bei Rückkehr nach Gaza in eine ausweglose Lage geraten. Hinzu komme, dass dem Revisionswerber nach den - näher angeführten - Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis die Rückkehr in den Gazastreifen aufgrund der fast vollständigen Abriegelung dieses Gebietsteiles verwehrt sei. Auch deshalb sei ein effektiver Schutz durch UNRWA nicht (mehr) möglich. Gegen die Rückkehrentscheidung führt die Revision ins Treffen, das BVwG habe die Rechte des Revisionswerbers gemäß Art. 8 EMRK, nämlich auf persönlichen Kontakt zu seinen in Österreich lebenden Kindern, unberücksichtigt gelassen.
5 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Der Revisionswerber ist nach den insoweit unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis bei UNRWA - einer Organisation der Vereinten Nationen im Sinne des Art. 1 Abschnitt D GFK - als Flüchtling registriert.
9 Asylwerbern, die bei UNRWA registriert sind und dessen Beistand tatsächlich in Anspruch genommen haben, ist nach der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts, die wiederum auf einschlägige Judikatur des EuGH verweist, „ipso facto“ Asyl zu gewähren, wenn der Beistand von UNRWA nicht länger gewährt wird und keiner der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 1 lit. b oder Abs. 2 und 3 Statusrichtlinie vorliegt.
10 Der Wegfall des Beistandes von UNRWA erfordert die Prüfung, ob der Wegzug des Asylwerbers durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen des Gebietes gezwungen haben und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0274; VwGH 1.3.2018, Ra 2017/19/0273; VwGH 15.2.2021, Ra 2021/01/0011; vgl. auch aus jüngerer Zeit VfGH 14.6.2022, E 761/2022; EuGH 17.6.2010, C-31/09, Bobol; EuGH 19.12.2012, C-364/11, El Kott; EuGH 25.7.2018, C-585/16, Alheto; EuGH 13.1.2021, C-507/19, Bundesrepublik Deutschland; EuGH 3.3.2022, C-349/20, NB und AB).
11 Die Frage, ob ein Staatenloser palästinensischer Herkunft imstande ist, den Beistand von UNRWA in Anspruch zu nehmen, hängt auch von seiner konkreten Möglichkeit ab, in das Gebiet, zu dem das Operationsgebiet von UNRWA gehört, einzureisen (vgl. dazu insbesondere EuGH 13.1.2021, C-507/19, Bundesrepublik Deutschland, Rn. 57 ff).
12 Im gegenständlichen Fall hat sich das BVwG mit diesen rechtlichen Vorgaben insoweit beschäftigt, als es festgestellt hat, der Schutz durch UNRWA sei im gegenständlichen Fall nicht weggefallen. In seiner weiteren Begründung führt es zwar an, die Umstände des Einzelfalles und die Position des UNHCR zur Rückkehr nach Gaza vom März 2022 berücksichtigt zu haben; inwieweit insbesondere Letztere in die Überlegungen des BVwG Eingang gefunden hat, lässt sich der weiteren Begründung aber nicht entnehmen. Das ist vor allem deshalb nicht nachzuvollziehen, weil in dieser UNHCR-Position nach Schilderung der aktuell angespannten Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie der humanitären Situation im Gazastreifen die Auffassung des UNHCR wiedergegeben wird, wonach die aktuelle Situation in Gaza dafür spreche, palästinensische Flüchtlinge aus Gaza, die dem Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt D GFK unterfallen, außerhalb dieser Region „ipso facto“ Asyl zu gewähren.
13 Ohne an diese Empfehlung gebunden zu sein, wäre das BVwG gehalten gewesen, sich damit in seinen Erwägungen näher auseinanderzusetzen und darzulegen, weshalb es abweichend von dieser UNHCR-Position eine Schutzgewährung nicht für nötig erachtete.
14 Dazu hätte es aktueller Länderfeststellungen über die Lage in Gaza bedurft. Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass die Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis im Wesentlichen auf Berichten aus dem Frühjahr 2020 (oder älter) beruhen und die erforderliche Aktualität nicht aufweisen. Auf spätere Berichte, etwa das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation betreffend die Palästinensischen Gebiete - Gaza vom 2. Juni 2022, wurde ebensowenig Bedacht genommen wie auf die in der bereits erwähnten UNHCR-Position vom März 2022 zitierten Materialien, die ein bedenkliches Bild der Sicherheits- und Versorgungslage in Gaza zeichnen. Schon deshalb erweist sich das angefochtene Erkenntnis nicht als mangelfrei begründet.
15 Hinzu kommt, dass sich das BVwG, wie die Revision richtig geltend macht, in seinen fallbezogenen Erwägungen mit der Erreichbarkeit von Gaza nicht näher auseinandersetzte, obwohl schon die getroffenen - nicht aktuellen - Länderfeststellungen Hinweise dafür bieten, dass der Grenzübertritt von Israel oder Ägypten nach Gaza massiven Beschränkungen unterliegt. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass der Grenzübergang von Ägypten nach Gaza, den der Revisionswerber nach eigenen Angaben stets benützt haben will, schon nach den getroffenen Länderfeststellungen nur von Palästinensern mit gültigen Ausweispapieren der palästinensischen Autonomiebehörde benutzt werden können soll. Ausweispapiere, über die der Revisionswerber nach den Feststellungen des BVwG nicht (mehr) verfügt. Wäre Gaza für den Revisionswerber aber nicht mehr erreichbar, könnte vom Fortbestand des Schutzes von UNRWA nicht ausgegangen werden.
16 Da das angefochtene Erkenntnis somit nicht hinreichend begründet worden ist und an wesentlichen Ermittlungs- bzw. Feststellungsmängeln leidet, kann es keinen Bestand haben, ohne dass auf das Revisionsvorbringen zur Rückkehrentscheidung näher eingegangen werden muss.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 5. Dezember 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 62019CJ0507 Bundesrepublik Deutschland VORABSchlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022180179.L00Im RIS seit
09.01.2023Zuletzt aktualisiert am
09.01.2023