TE Lvwg Erkenntnis 2022/11/29 VGW-102/100/9983/2022

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Veröffentlicht am 29.11.2022
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Entscheidungsdatum

29.11.2022

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
90/01 Straßenverkehrsordnung

Norm

B-VG Art. 130 Abs1 Z2
StVO 1960 §95 Abs1
StVO 1960 §97 Abs5
  1. StVO 1960 § 95 heute
  2. StVO 1960 § 95 gültig ab 01.10.2022 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2022
  3. StVO 1960 § 95 gültig von 01.09.2012 bis 30.09.2022 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 50/2012
  4. StVO 1960 § 95 gültig von 01.07.2005 bis 31.08.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 52/2005
  5. StVO 1960 § 95 gültig von 22.07.1998 bis 30.06.2005 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/1998
  6. StVO 1960 § 95 gültig von 01.10.1994 bis 21.07.1998 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 518/1994
  7. StVO 1960 § 95 gültig von 01.10.1969 bis 30.09.1994 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 209/1969
  1. StVO 1960 § 97 heute
  2. StVO 1960 § 97 gültig ab 06.10.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2015
  3. StVO 1960 § 97 gültig von 01.07.2005 bis 05.10.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 52/2005
  4. StVO 1960 § 97 gültig von 01.07.2005 bis 30.06.2005 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 151/2004
  5. StVO 1960 § 97 gültig von 22.07.1998 bis 30.06.2005 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/1998
  6. StVO 1960 § 97 gültig von 01.10.1994 bis 21.07.1998 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 518/1994
  7. StVO 1960 § 97 gültig von 01.05.1986 bis 30.09.1994 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 105/1986

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seinen Richter Dr. Huber über die Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 iVm Art. 132 Abs. 2 B-VG der A. B., vertreten durch Rechtsanwalt, wegen Verletzung in Rechten in Folge Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 4.11.2022 durch Verkündung

zu Recht erkannt:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 und 6 VwGVG wird der Beschwerde Folge gegeben und die Modalitäten der Anhaltung der Beschwerdeführerin durch Anwendung von Körperkraft (Ergreifen des linken Oberarmes der Beschwerdeführerin, welche sich auf einem Fahrrad fortbewegte, mit beiden Händen) am 1.7.2022 um 17:56 Uhr an der Adresse 1030 Wien, Stubenring 1 (unmittelbar nach der Kreuzung mit dem Oskar-Kokoschka-Platz auf der Nebenfahrbahn beim Eingang des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) für rechtswidrig erklärt.

II. Der Bund als Rechtsträger der belangten Behörde hat gemäß § 35 VwGVG in Verbindung mit der VwG-Aufwandersatzverordnung – VwG-AufwErsV, BGBl. II Nr. 517/2013, der Beschwerdeführerin EUR 737,60 für Schriftsatzaufwand und EUR 922,00 für Verhandlungsaufwand, insgesamt somit EUR 1.659,60 an Aufwandersatz, binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu leisten. Das Begehren auf Ersatz der Eingabegebühren wird abgewiesen.

III. Gegen diese Entscheidung ist gemäß § 25a Abs. 1 VwGG eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.

Entscheidungsgründe

I. Maßgeblicher Verfahrensgang

1. Am 1.7.2022, um 17:56 Uhr, setzte Insp. C. D. die Anhaltung nach § 97 Abs. 5 StVO der Beschwerdeführerin, welche auf einem Fahrrad fuhr, an der Adresse 1030 Wien, Stubenring 1 (unmittelbar nach der Kreuzung mit dem Oskar-Kokoschka-Platz auf der Nebenfahrbahn beim Eingang des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz [BMSGPK]) durch Anwendung von Körperkraft durch.

2. Mit dem am 12.8.2022 beim Verwaltungsgericht Wien eingelangten Schriftsatz erhob die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin eine Maßnahmenbeschwerde gegen die konkrete Durchsetzung der Anhaltung mit körperlichen Zwang am 1.7.2022 um 17:56 Uhr. In ihrer Beschwerde bringt sie auf das Wesentliche zusammengefasst vor, dass nicht bestritten werde, dass sie bei Rotlicht den Kreuzungsbereich überquerte und eine Verwaltungsübertretung beging. Ein unmittelbar danach ergangener Befehl, anzuhalten, wäre daher rechtmäßig gewesen. Die konkret mit Zwangsgewalt durchgeführte Anhaltung sei jedoch rechtswidrig gewesen, weil der einschreitende Polizeibeamte nicht versucht habe, die Beschwerdeführerin mit Handzeichen oder akustischen Signalen in entsprechender Lautstärke zu stoppen. Zudem stehe die angewendete Zwangsgewalt in keinem angemessenen Verhältnis zum Ziel der Anhaltung wegen einer geringfügigen Verwaltungsübertretung. Dem Polizeibeamten hätte auch bewusst sein müssen, dass sein Vorgehen zu einem Sturz der Beschwerdeführerin führen musste. Dies sei letztlich auch geschehen und die Beschwerdeführerin habe sich dadurch Verletzungen zugezogen.

3. Das Verwaltungsgericht Wien übermittelte die Beschwerde der Landespolizeidirektion Wien (im Folgenden: belangte Behörde) mit dem Ersuchen um Vorlage der Verwaltungsakten und des kriminalpolizeilichen Aktes zu GZ: PAD/...7/001/KRIM samt Videoaufnahmen des Vorfalles. Zudem wurde die Möglichkeit zur Erstattung einer Gegenschrift eingeräumt.

Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift und legte den vom Polizeikommissariat Innere Stadt geführten Verwaltungsakt zu GZ: VStV/.../2022 samt Anzeige (GZ: PAD/...4/001/VStV) sowie den kriminalpolizeilichen Akt zu GZ: PAD/...7/001/KRIM vor. Zudem wurden zwei Überwachungsvideos vorgelegt, die den Vorfall zeigen (Überwachungsvideo Nr. 1: aufgenommen von „Aussen-Kamera 42“, welche beim Eingang des BMSGPK angebracht ist; Überwachungsvideo Nr. 2: aufgenommen von einer Kamera, welche beim Eingang des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft angebracht ist).

In der Gegenschrift führt die belangte Behörde auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass der einschreitende Polizeibeamte zunächst Blickkontakt mit der Beschwerdeführerin aufgenommen habe und laut und deutlich „Halt, Polizei, stehenbleiben!“ gerufen habe. Die Beschwerdeführerin habe jedoch ihre Geschwindigkeit nicht verringert und habe versucht, der Anhaltung zu entgehen. Deshalb habe für den Polizeibeamten keine andere Möglichkeit mehr bestanden, als die Beschwerdeführerin am Oberarm zu ergreifen, um sie anzuhalten. Da die Beschwerdeführerin dennoch nicht ihre Geschwindigkeit verringert habe, habe der Polizeibeamte den Oberarm wieder losgelassen, um einen Sturz zu verhindern. In der Folge habe die Beschwerdeführerin die Kontrolle über das Fahrrad verloren und sei gestürzt.

4. Die Gegenschrift wurde samt Kopien der vorgelegten Behördenakten der Beschwerdeführerin zur Kenntnisnahme übermittelt.

5. Mit Eingabe vom 30.9.2022 übermittelte die Beschwerdeführerin Lichtbilder von der Örtlichkeit, an dem sich der Vorfall ereignete, und führte ergänzend im Wesentlichen aus, dass der auf den Überwachungsvideos ersichtliche Verlauf der Fahrradfahrt nicht nahelegen würde, dass die Beschwerdeführerin sich einer Anhaltung entziehen hätte wollen. Zum Vorbringen der belangten Behörde, dass der Polizeibeamte Blickkontakt mit der Beschwerdeführerin aufgebaut habe, wird auf die am Video ersichtliche Sonnenbrille verwiesen, welche die Beschwerdeführerin getragen habe. Nochmals festgehalten wird, dass der Polizeibeamte es unterlassen habe, die Beschwerdeführerin wahrnehmbar verbal und mit Handzeichen zum Anhalten aufzufordern, obwohl ihm dies leicht möglich und zumutbar gewesen wäre.

6. Die ergänzende Stellungnahme wurde samt Kopien der vorgelegten Lichtbilder der belangten Behörde zur Kenntnisnahme übermittelt.

7. Beim Verwaltungsgericht Wien fand am 4.11.2022 eine öffentliche mündliche Verhandlung in der Beschwerdesache zur Einvernahme der Beschwerdeführerin sowie des Zeugen Insp. C. D. statt. Die Beschwerdeführerin war in Begleitung ihres Rechtsbeistandes Mag. E. und die belangte Behörde war durch Mag.a F. vertreten. Im Anschluss an die Verhandlung wurde die Entscheidung in der Beschwerdesache verkündet.

8. Mit Schriftsatz vom 9.11.2022 – beim Verwaltungsgericht Wien am 16.11.2022 eingelangt – beantragte die belangte Behörde die Ausfertigung der Entscheidung gemäß § 29 Abs. 2a Z 1 iVm Abs. 4 VwGVG, welche hiermit ergeht.

II. Sachverhalt

Für das Verwaltungsgericht Wien steht folgender entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:

1. Am 1.7.2022 um 17:56 Uhr befand sich Insp. D. aufgrund der Objektüberwachung des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) am Gehweg gegenüber dem Eingang des BMSGPK an der Adresse 1030 Wien, Stubenring 1. Insp. D. trug eine Uniform. Zu diesem Zeitpunkt nahm er die Lenkerin eines gelben Rennfahrrades (die Beschwerdeführerin) wahr, wie diese vom Stubenring 3 in seine Richtung auf dem Radweg kommend den Kreuzungsbereich des Stubenringes mit dem Oskar-Kokoschka-Platz überquerte, obwohl die Verkehrsampel für diese Fahrtrichtung mit rotem Licht leuchtete. Zu diesem Zeitpunkt war der Oskar-Kokoschka-Platz für den querenden Verkehr gesperrt, wobei einige Verkehrsteilnehmer diese Sperre immer wieder ignorierten bzw. Einsatzfahrzeuge queren durften.

Die Beschwerdeführerin fuhr leicht schräg nach rechts auf die Nebenfahrbahn unmittelbar beim BMSGPK, um ihre Fahrt geradeaus Richtung Urania fortzusetzen. Dabei war sie mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit von circa 15 bis 20 km/h unterwegs. Die Beschwerdeführerin trug während dieser Fahrt Over-Ear-Kopfhörer, wobei sie diese in jenem Funktionsmodus eingestellt hatte, welcher die Umgebungsgeräusche verstärkt. Zudem trug die Beschwerdeführerin eine Sonnenbrille. Die Beschwerdeführerin war nicht alkoholisiert. Sie war gerade auf dem Weg zu ihrem Arbeitsort, weil sie ihrer Vorgesetzten noch Datensätze zusenden musste.

2. Aufgrund der wahrgenommenen Überquerung des Kreuzungsbereiches bei roter Ampel wollte Insp. D. die Beschwerdeführerin anhalten, um sie auf die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens hinzuweisen. An diesem Tag hatte Insp. D. bereits mehrere Fahrradfahrer, die bei roter Ampel den Kreuzungsbereich überquerten, angehalten und dann abgemahnt.

2.1. Er ging mit langsamen Schritt vom Gehweg in Richtung Eingang des BMSGPK auf die Nebenfahrbahn und blickte in Richtung der herankommenden Beschwerdeführerin. Dabei hatte er beide Hände auf seinem Polizeigürtel aufliegen (siehe Sekunde 00:03 bis 00:06 des Überwachungsvideos Nr. 1). Insp. D. ging davon aus, dass die Beschwerdeführerin anhalten würde, diese fuhr jedoch mit unverminderter Geschwindigkeit geradeaus weiter. Konkret verlief die Fahrbahn der Beschwerdeführerin leicht schräg zur Nebenfahrbahn; ihre Fahrbahn verlief in Blickrichtung Urania von der linken Seite der Nebenfahrbahn im Kreuzungsbereich geradeaus nach rechts zum Beginn der eingezeichneten Parkplätze auf der Nebenfahrbahn vor dem Eingang des BMSGPK.

2.2. Die Beschwerdeführerin nahm den Polizisten zwar im Augenwinkel wahr, als sie bereits in die Nebenfahrbahn eingefahren war und sich nach dem dortigen Zebrastreifen befand. Sie ging in diesem Moment jedoch davon aus, dass es sich um eine Person handelte, die die Nebenfahrbahn überqueren wollte. Aus ihrer Sicht war genügend Platz vorhanden, um der Person auszuweichen und ihre Fahrt fortzusetzen. Einen direkten Blickkontakt zu dem Polizeibeamten baute die Beschwerdeführerin nicht auf. Für Insp. D. war die Entwicklung der Situation überraschend, weil er davon ausging, dass die Beschwerdeführerin ihn als Polizeibeamten wahrgenommen hätte und deshalb stehen bleiben würde.

2.3. Als die Beschwerdeführerin circa zwei Meter von Insp. D. entfernt war, begann der Beamte seine Arme zu heben und machte einen schnellen Ausfallschritt mit seinem linken Bein in Richtung der Fahrtlinie der Beschwerdeführerin. Ungefähr einen Meter von Insp. D. entfernt wich die Beschwerdeführerin leicht nach rechts aus und verlagerte ihren Körper nach links. Als sich die Beschwerdeführerin auf der Höhe von Insp. D. befand, ergriff dieser die Beschwerdeführerin mit beiden Händen am linken Oberarm, um sie festzuhalten (siehe Sekunde 00:06 bis 00:07 des Überwachungsvideos Nr. 1).

In diesem Moment ging Insp. D. davon aus, dass die Beschwerdeführerin sofort abbremsen und er sie festhalten könne. Allerdings bemerkte er beim Zupacken, dass er sie nicht festhalten werde können und ließ sie sofort wieder los, um Verletzungen der Beschwerdeführerin zu vermeiden. Nachdem er losgelassen hatte, brach die Beschwerdeführerin mit dem Fahrrad nach links aus und stürzte. Konkret versuchte die Beschwerdeführerin zunächst noch, sich an der in Fahrtrichtung rechts gelegenen Gehsteigkante mit ihrem rechten Bein zu fangen, verlor aber dann völlig das Gleichgewicht. In der Folge taumelte sie nach links und stürzte auf die Fahrbahn.

2.4. Insp. D. hat bis zu dem Moment, als er wie beschrieben seine Arme hob (siehe Sekunde 00:06 des Überwachungsvideos Nr. 1), keine deutlich wahrnehmbaren Hand- oder Armzeichen gegeben, die eine Aufforderung zum Anhalten indizieren würden. Ferner hat Insp. D. die Beschwerdeführerin auch nicht durch ein in der konkreten Situation deutlich wahrnehmbares akustisches Signal zum Anhalten aufgefordert.

Das Verwaltungsgericht Wien schenkt zwar den Ausführungen von Insp. D. in seiner Einvernahme in der mündlichen Verhandlung dahingehend Glauben, dass er etwa bei Sekunde 00:04 des Überwachungsvideos Nr. 1, als sich die Beschwerdeführerin etwa einen Meter nach dem Zebrastreifen auf der Nebenfahrbahn befand, „HALT, Polizei, stehenbleiben“ gerufen hat. Allerdings war dieser Ruf für die konkrete Situation nicht entsprechend laut genug, sodass die Beschwerdeführerin den Ruf akustisch nicht wahrnehmen konnte. Zudem spiegelte sich der Ruf auch nicht nonverbal in irgendeiner Gestik des Polizeibeamten wider. Die Beschwerdeführerin konnte daher weder akustisch noch nonverbal wahrnehmen, dass Insp. D. „HALT, Polizei, stehenbleiben“ gerufen hat. Zwei Passanten, welche sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe des Polizeibeamten am Gehsteig vor dem BMSGPK befanden, konnten diesen Ruf ebenfalls nicht wahrnehmen.

2.5. Die Beschwerdeführerin hat durch den Sturz Verletzungen – Prellungen und Hautabschürfungen am rechten Brustkorb, linken Oberarm, rechten Knie und rechten Knöchel sowie Prellung des linken Daumens – davongetragen. Zudem wurde dadurch das Fahrrad der Beschwerdeführerin beschädigt (verbogenes Vorderrad, verbogener/verdrehter Lenker).

III. Beweiswürdigung

1. Das Verwaltungsgericht Wien hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die von den Parteien vorgelegten Schriftsätze, Unterlagen, Überwachungsvideos, der unbedenklichen und unbestrittenen Aktenlage sowie Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 4.11.2022, in deren Rahmen die Beschwerdeführerin als Partei und Insp. C. D. als Zeuge einvernommen wurden.

2. Die Feststellungen stützen sich neben dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung insbesondere auf die von der LPD Wien vorgelegten Videoaufnahmen, welche in der Verhandlung mehrmals (mit verschiedener Geschwindigkeit) vorgeführt wurden:

?    Überwachungsvideo Nr. 1: aufgenommen von „Aussen-Kamera 42“, welche beim Eingang des BMSGPK angebracht ist;

?    Überwachungsvideo Nr. 2: aufgenommen von einer Kamera, welche beim Eingang des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft angebracht ist.

Die Feststellungen stützen sich ferner auf folgende im Akt einliegende Urkunden:

?    Befund des AUVA Traumazentrums vom 1.7.2022;

?    Amtsvermerk Verkehrsunfall vom 1.7.2022 samt Lichtbildbeilagen, Bearbeiterin: AI G. (GZ: PAD/...7/001/KRIM);

?    Lichtbildbeilage vom 8.7.2022, Bearbeiter: Mag. H. (GZ: PAD/...7/001/KRIM);

?    Lichtbildbeilage vom 1.7.2022, Bearbeiter: Insp. D. (GZ: PAD/...4/001/VStV).

Die Echtheit und Richtigkeit dieser Urkunden wurde von den Parteien nicht bestritten und es sind im Rahmen des Beweisverfahrens auch keine Bedenken beim Verwaltungsgericht Wien entstanden.

3. Ort, Zeit, konkrete Durchführung und Folgen der Anhaltung der Beschwerdeführerin mit Körperkraft ergeben sich aus den übereinstimmenden Angaben der Parteien, der unbedenklichen Aktenlage sowie den Videoaufnahmen der Überwachungskameras. Die Fahrtlinie der Beschwerdeführerin ist im Überwachungsvideo Nr. 1 klar zu sehen. Aus dem Video ist weiters ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin Kopfhörer und Sonnenbrille trug. In der mündlichen Verhandlung führte die Beschwerdeführerin glaubwürdig aus, dass sie ihre Kopfhörer in dem Funktionsmodus eingestellt hatte, welcher die Umgebungsgeräusche verstärkt, und sie diese beim Fahrradfahren immer so eingestellt hat. Die ungefähre Fahrtgeschwindigkeit der Beschwerdeführerin basiert auf den Angaben des Zeugen Insp. D. (Anzeige vom 1.7.2022 sowie in der mündlichen Verhandlung), die sich mit der Videoaufnahme decken, auf welcher die zügige Fahrt ersichtlich ist.

Die Feststellung, wonach zum Vorfallszeitpunkt der Oskar-Kokoschka-Platz für den querenden Verkehr gesperrt war, einige Verkehrsteilnehmer diese Sperre aber immer wieder ignorierten bzw. Einsatzfahrzeuge queren durften, stützt sich ebenfalls auf die Angaben des Zeugen Insp. D. in der mündlichen Verhandlung. In Übereinstimmung mit dem Beschwerdevorbringen räumte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich ein, dass sie wegen der Sperre den Kreuzungsbereich des Stubenringes mit dem Oskar-Kokoschka-Platz überquerte, obwohl die Ampel für ihre Fahrrichtung gerade rot leuchtete. Ferner führte sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft aus, dass sie gerade am Weg zu ihrem Arbeitsort war, um noch Datensätze an ihre Vorgesetzte zu senden.

4. Strittig war zwischen den Parteien, ob Insp. D. vor dem Ergreifen der Beschwerdeführerin am Oberarm diese durch Hand- oder Armzeichen oder durch Rufen zum Anhalten aufgefordert hat.

4.1. Die Feststellungen zum konkreten Ablauf des Anhaltevorganges stützen sich auf die ersten sieben Sekunden des Überwachungsvideos Nr. 1. Vor dem Moment, als Insp. D. in Sekunde 00:06 des Überwachungsvideos Nr. 1 seine Arme hob, sind auf der Aufnahme keine deutlich wahrnehmbaren Hand- oder Armzeichen oder andere visuell wahrnehmbare Zeichen ersichtlich, die eine Aufforderung zum Anhalten indizieren würden. In der mündlichen Verhandlung gab der Zeuge Insp. D. damit in Einklang stehend an, dass er zwar vorhatte, Handzeichen zu geben, es aber dazu in der dynamischen Situation nicht mehr gekommen ist.

Auf Basis des Überwachungsvideos Nr. 1 und der Ausführungen von Insp. D. sowie der Beschwerdeführerin gelangte das Verwaltungsgericht Wien auch zur Überzeugung, dass bis zu dem Moment, als Insp. D. seine Arme zum Zupacken hob, auch kein direkter Blickkontakt zwischen ihm und der Beschwerdeführerin aufgebaut wurde. In der mündlichen Verhandlung zeigte sich der Zeuge überrascht, als er in diesem Zusammenhang auf die Tatsache hingewiesen wurde, dass die Beschwerdeführerin eine Sonnenbrille trug. Dementsprechend geht das Verwaltungsgericht Wien davon aus, dass die Ausführungen des Zeugen über einen etwaigen Blickkontakt auf einer kognitiven Verzerrung seiner Erinnerung an den Vorfall beruhen.

4.2. Die Feststellungen, wonach Insp. D. die Beschwerdeführerin auch nicht durch ein in der konkreten Situation deutlich wahrnehmbares akustisches Signal zum Anhalten aufgefordert hat, stützen sich auf folgende Erwägungen:

Bis zur Sekunde 00:05 des Überwachungsvideos Nr. 1 sind im Vordergrund des Videos zwei Passanten zu sehen, die nebeneinander auf dem Gehsteig neben dem Ministeriumsgebäude in Richtung Urania gehen. Die beiden Personen tragen keine Kopfhörer oder Ähnliches. Bis zur Sekunde 00:05 ist keiner der beiden Passanten auf den unmittelbar neben ihnen laufenden Anhaltevorgang aufmerksam geworden. Wenn jedoch ein Polizist in unmittelbarer Nähe deutlich und laut „HALT, Polizei, stehenbleiben!“ gerufen hätte, wäre nach allgemeiner Lebenserfahrung zu erwarten, dass zumindest einer der beiden Passanten seinen Kopf gedreht hätte oder andere körpersprachliche Signale gezeigt hätte, welche indizieren würden, dass man auf den Polizisten aufmerksam geworden wäre. Auf dem Überwachungsvideo Nr. 2 ist zu sehen, dass sich die beiden Passanten in dem Moment zur Nebenstraße hinwenden, als die Beschwerdeführerin das Gleichgewicht verliert und stürzt (konkret Sekunden 00:08 bis 00:10 des Überwachungsvideo Nr. 2).

Es verbleibt somit noch der Zeitraum der Sekunde 00:05 bis 00:06 des Überwachungsvideos Nr. 1, in welchem die Passanten nicht mehr sichtbar sind und Insp. D. noch nicht den Oberarm der Beschwerdeführerin ergriffen hat. Bei Sekunde 00:05 des Überwachungsvideos Nr. 1 ist die Beschwerdeführerin noch etwa drei Meter von Insp. D. entfernt. In einer derart dynamischen Situation, in welcher eine Radfahrerin mit einer Geschwindigkeit von geschätzten 15 bis 20 km/h angehalten werden soll, und bei zwei bis drei Meter Entfernung noch kein Abbremsvorgang wahrnehmbar ist, ist nach allgemeiner Lebenserfahrung zu erwarten, dass ein Polizist bei einem lauten Rufen dies mit irgendwelchen sichtbaren Gesten begleiten würde. Derartige Gesten sind jedoch nicht erkennbar. Es ist für das Verwaltungsgericht lebensfremd, dass im Zeitraum der Sekunde 00:05 bis 00:06 des Überwachungsvideos Nr. 1 Insp. D. gerufen hat, aber dabei immer noch die Hände am Polizeigürtel liegen hat.

4.3. Nach Vorhalt des Überwachungsvideos Nr. 1 gab der Zeuge Insp. D. an, dass er vermute, ca. bei Sekunde 00:04 des Videos „HALT, Polizei, stehenbleiben!“ gerufen zu haben. Für das Verwaltungsgericht Wien vermittelte der Zeuge den Eindruck, dass er dies entsprechend seiner subjektiven Erinnerung wahrheitsgemäß ausführte. Es ist für das Verwaltungsgericht Wien nicht auszuschließen bzw. wahrscheinlich, dass diese Ausführungen auf einer kognitiven Verzerrung seiner Erinnerung an den Vorfall beruhen. Jedoch gab er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft an, dass er bei Anhaltesituationen immer mit der Wortfolge „HALT, Polizei, stehenbleiben!“ ruft, weshalb das Verwaltungsgericht Wien letztlich die entsprechende positive Feststellung traf.

Allerdings war ebenfalls die Feststellung zu treffen, dass der Polizeibeamte in der konkreten Situation nicht laut genug gerufen hat und die Beschwerdeführerin diesen Ruf bei Sekunde 00:04 des Überwachungsvideos Nr. 1 nicht wahrnehmen konnte. Hiezu ist wiederum auf die oben unter Punkt III.4.2. erwähnten Passanten zu verweisen. Wie bereits ausgeführt, ist bis zur Sekunde 00:05 des Videos keiner der beiden Passanten auf den unmittelbar neben ihnen laufenden Anhaltevorgang aufmerksam geworden. Wenn Insp. D. bei Sekunde 00:04 einen für die Situation ausreichend lauten Ausruf „HALT, Polizei, stehenbleiben!“ getätigt hätte, wäre nach allgemeiner Lebenserfahrung irgendeine körpersprachliche Reaktion der Passanten zu erwarten, wofür es jedoch am Überwachungsvideo Nr. 1 keinerlei Anhaltspunkte gibt. Zudem sind am Überwachungsvideo Nr. 1 auch keine körpersprachlichen Signale der Beschwerdeführerin erkennbar, die indizieren würden, dass sie einen Zuruf des Polizeibeamten wahrgenommen hätte. Vielmehr setzte sie ihre Fahrt bis zu dem Moment, als der Polizeibeamte sein Arme hob, gleichbleibend fort. Die Beschwerdeführerin führte für das Verwaltungsgericht glaubhaft aus, dass sie bis zum Moment des Zupackens keine Signale des Polizeibeamten wahrgenommen hat.

Für das Verwaltungsgericht Wien ist es naheliegend, dass Insp. D. sein eigenes Verhalten aufgrund der sich letztlich schnell entwickelnden dynamischen Situation nicht richtig einschätzte und auch deshalb seiner subjektiven Erinnerung nach davon ausgeht, laut gerufen zu haben. In der mündlichen Verhandlung gab der Zeuge selbst an, dass die konkrete Situation für ihn „überraschend“ war. Er hatte erwartet, dass man als Fahrradfahrer unabhängig von Handzeichen langsamer werden oder stehen bleiben würde, wenn ein Polizist vor einem die Fahrbahn betritt.

Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen steht für das Verwaltungsgericht Wien insgesamt fest, dass Insp. D. kein für die Beschwerdeführerin deutlich wahrnehmbares akustisches Signal zum Anhalten gesetzt hat.

5. Das Verwaltungsgericht Wien hält fest, dass sowohl die Beschwerdeführerin als auch der Zeuge in der mündlichen Verhandlung insgesamt einen glaubhaften Eindruck hinterließen. Ihre Schilderungen deckten sich zudem weitgehend. Auffassungsunterschiede zur konkreten Situation waren aufgrund der subjektiven Sichtweise – wie in den bisherigen Ausführungen in der Beweiswürdigung beschrieben – jeweils nachvollziehbar. Vor diesem Hintergrund konnte das Verwaltungsgericht Wien die Feststellungen, wovon die Beschwerdeführerin und der Zeuge Insp. D. jeweils im Zuge des Vorfalls subjektiv ausgingen, auf die entsprechenden Angaben in der mündlichen Verhandlung stützen.

6. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin durch den Sturz mehrere Prellungen und Hautabschürfungen erlitten hat, ergibt sich aus dem Befund des AUVA Traumazentrums vom 1.7.2022, dem Amtsvermerk vom 1.7.2022 (Bearbeiterin AI G.) sowie der von Insp. D. gelegten Anzeige vom 1.7.2022. Die festgestellten Beschädigungen des Fahrrads stützen sich ebenfalls auf den Amtsvermerk vom 1.7.2022 (Bearbeiterin AI G.) sowie der idZ im Akt GZ: PAD/...7/001/KRIM einliegenden Lichtbildaufnahmen. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin zum Vorfallszeitpunkt nicht alkoholisiert war, stützt sich auf Seite 2 des Amtsvermerkes vom 1.7.2022 (Bearbeiterin AI G.).

IV. Rechtsgrundlagen

§ 97 des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO), BGBl. 159/1960 idF BGBl. I 123/2015, lautet:

„§ 97. Organe der Straßenaufsicht

(1) Die Organe der Straßenaufsicht, insbesondere der Bundespolizei und im Falle des § 94c Abs. 1 auch der Gemeindewachkörper, haben die Verkehrspolizei (§ 94b Abs. 1 lit. a) zu handhaben und bei der Vollziehung dieses Bundesgesetzes durch

a) Vorbeugungsmaßnahmen gegen drohende Verwaltungsübertretungen,

b) Maßnahmen, die für die Einleitung von Verwaltungsstrafverfahren erforderlich sind,

c) Anwendung körperlichen Zwanges, soweit er gesetzlich vorgesehen ist,

mitzuwirken.

Darüber hinaus können Mitglieder eines Gemeindewachkörpers mit Zustimmung der Gemeinde von der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde in dem Umfang und unter den Voraussetzungen wie die sonstigen Organe der Straßenaufsicht zur Mitwirkung bei der Vollziehung dieses Bundesgesetzes durch die in lit. a bis c angeführten Maßnahmen ermächtigt werden. In diesem Fall unterstehen die Mitglieder des Gemeindewachkörpers in fachlicher Hinsicht der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde.

(1a) Zollorgane haben im Bereich des Amtsplatzes im Sinne des § 11 des Zollrechts-Durchführungsgesetzes, BGBl. Nr. 659/1994, an der Vollziehung dieses Bundesgesetzes im Rahmen der ihnen sonst obliegenden Aufgaben in dem in Abs. 1 bezeichneten Umfang mitzuwirken und gelten hiebei als Organe der Straßenaufsicht. Im Bereich einer Mautstelle dürfen auch die mit der Mauteinhebung betrauten Organe den Verkehr durch Arm- oder Lichtzeichen regeln.

(2) Organe der Straßenaufsicht, ausgenommen Organe der Bundespolizei oder einer Gemeindesicherheitswache oder Zollorgane, sind auf ihre Dienstpflichten zu vereidigen und mit einem Dienstabzeichen auszustatten. Form, Ausstattung und Tragweise des Dienstabzeichens sind unter Bedachtnahme auf seinen Zweck und seine Erkennbarkeit durch Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie zu bestimmen.

(3) Bei Gefahr im Verzuge, wie zum Beispiel bei Bränden oder Unfällen, oder in besonderen Ausnahmefällen, wie zum Beispiel bei Straßenbauten, kann die Behörde, wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs erfordert, außer den Organen der Straßenaufsicht auch andere geeignete Personen mit der Regelung des Verkehrs auf den in Betracht kommenden Straßenteilen vorübergehend betrauen. Sie hat diese Personen nach Möglichkeit mit einer weißen Armbinde kenntlich zu machen und mit einem Ausweis, aus dem diese Betrauung hervorgeht, zu versehen. Wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs erfordert, kann die Behörde auch Organe eines Straßenbahnunternehmens mit der Regelung des Verkehrs im Bereiche von Straßenbahnhaltestellen betrauen.

(4) Die Organe der Straßenaufsicht sowie die nach Abs. 3 betrauten Organe sind, wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs erfordert, berechtigt, einzelnen Straßenbenützern für den Einzelfall Anordnungen für die Benützung der Straße zu erteilen, und zwar auch solche, die von den sonstigen diesbezüglichen Bestimmungen abweichen. Diese Anordnungen dürfen

a) nur gegeben werden, wenn ihre Befolgung ohne Gefährdung von Personen und ohne Beschädigung von Sachen möglich ist,

b) nur befolgt werden, wenn dies ohne Gefährdung von Personen und ohne Beschädigung von Sachen möglich ist.

(5) Die Organe der Straßenaufsicht sind berechtigt, durch deutlich sichtbare oder hörbare Zeichen Fahrzeuglenker zwecks Lenker- oder Fahrzeugkontrolle, zwecks anderer, den Fahrzeuglenker oder eine beförderte Person betreffende Amtshandlungen oder zwecks Durchführung von Verkehrserhebungen (wie Verkehrszählungen u. dgl.) zum Anhalten aufzufordern. Der Fahrzeuglenker hat der Aufforderung Folge zu leisten. Bei solchen Amtshandlungen sind die Organe der Straßenaufsicht auch berechtigt, die aus Gründen der Verkehrssicherheit allenfalls notwendigen Verkehrsbeschränkungen (zB sogenannte Geschwindigkeitstrichter) anzuordnen und durch Straßenverkehrszeichen kundzumachen sowie eine allenfalls notwendige Regelung mit Lichtzeichen vorzunehmen. Art, Zeit und Dauer der angeordneten Verkehrsbeschränkungen sind in einem Aktenvermerk (§ 16 AVG) festzuhalten.

(5a) Die Organe der Straßenaufsicht während der bescheidmäßig vorgeschriebenen Begleitung von Sondertransporten sowie die im § 29 Abs. 3 genannten Soldaten und Angehörigen der Heeresverwaltung während der Begleitung eines Sondertransports gemäß § 97 Abs. 3 KFG 1967 sind nicht an die Bestimmungen über das Verhalten bei Bodenmarkierungen gebunden und überdies berechtigt, durch Anbringung der Straßenverkehrszeichen gemäß § 52 Z 4a und 4c an dem hinter dem Sondertransport fahrenden Begleitfahrzeug Fahrzeuglenkern das Überholen zu verbieten, soweit dies im Bescheid bzw. nach den vom Bundesminister für Landesverteidigung und Sport entwickelten Regeln für Transportabsicherung und Transportbegleitung vorgesehen ist. Hinsichtlich der Anbringung der Zeichen und deren Geltungsbereich gilt § 48 Abs. 3.

(6) Alle Personen, die auf Grund der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes mit der unmittelbaren Regelung des Verkehrs befaßt sind, müssen während dieser Tätigkeit so ausgerüstet sein und sich so aufstellen, daß sie von allen Straßenbenützern bei gehöriger Aufmerksamkeit leicht gesehen werden können.“

V. Rechtliche Beurteilung

1. Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG erkennen Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wegen Rechtswidrigkeit. Eine Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt liegt dann vor, wenn ein Verwaltungsorgan im Rahmen der Hoheitsverwaltung einseitig gegen einen individuell bestimmten Adressaten einen Befehl erteilt oder Zwang ausübt und damit unmittelbar (d.h. ohne vorangegangenen Bescheid) in subjektive Rechte des Betroffenen eingreift. Das ist im Allgemeinen dann der Fall, wenn physischer Zwang ausgeübt wird oder die unmittelbare Ausübung physischen Zwangs bei Nichtbefolgung eines Befehls droht. Es muss ein Verhalten vorliegen, das als Ausübung von „Zwangsgewalt“, zumindest aber als Ausübung von „Befehlsgewalt“ gedeutet werden kann (vgl. VwGH 07.08.2018, 2018/02/0010). Rechtswidrig sind solche Akte, wenn sie entweder ohne gesetzliche Ermächtigung gesetzt werden oder wenn die gesetzliche Ermächtigung überschritten wird (zB VwGH 6.7.2010, 2009/05/0231).

Im Rahmen eines Maßnahmenbeschwerdeverfahrens ist Gegenstand der Prüfung durch das Verwaltungsgericht alleine, ob der angefochtene Verwaltungsakt für rechtswidrig zu erklären ist (VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163). Ausgehend von diesem Prozessgegenstand ist jene Sach- und Rechtslage maßgebend, die im Zeitpunkt der Setzung des Verwaltungsaktes bestand (VwGH 24.11.2015, Ra 2015/05/0063). Zu berücksichtigen sind nur solche Sachverhaltselemente, die dem einschreitenden Organ bei Anwendung der im Hinblick auf den Zeitfaktor zumutbaren Sorgfalt bekannt sein mussten (ex ante-Betrachtung aus dem Blickwinkel des einschreitenden Organs; VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0373; 25.1.1990, 89/16/0163; 6.8.1998, 96/07/0053). Im Ergebnis ist daher zu prüfen, ob die einschreitenden Organe in zumindest vertretbarer Weise das Vorliegen der Voraussetzungen für ihr Einschreiten annehmen durften (VwGH 4.12.2020, Ra 2019/01/0163; 24.11.2015, Ra 2015/05/0063; 20.10.1994, 94/06/0119).

Prüfungsgegenstand in einem Verfahren gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG ist die vom Beschwerdeführer gemäß § 9 Abs. 1 VwGVG zu bezeichnende angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (VwGH 23.9.1998, 97/01/0407; 26.5.2009, 2005/01/0203; 20.10.2016, Ra 2016/21/0287).

2. Die Beschwerdeführerin richtet sich mit ihrer Beschwerde ausdrücklich nur gegen die Modalitäten der Anhaltung. Es wird von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, dass sie bei Rotlicht den Kreuzungsbereich überquert und somit eine Verwaltungsübertretung begangen hat. Der einschreitende Polizist habe die Beschwerdeführerin jedoch weder durch Handzeichen noch durch Rufen zum Anhalten aufgefordert. Vielmehr habe der einschreitende Polizist die Beschwerdeführerin unvermittelt am Oberarm ergriffen, was in der Folge zu einem Sturz der Beschwerdeführerin führte. Die Anhaltung sei daher durch den Einsatz unmittelbarer Zwangsgewalt durchgesetzt worden, die sich unabhängig von der angewendeten Rechtsgrundlage als nicht erforderlich und sohin rechtswidrig erweise.

Die belangte Behörde bringt demgegenüber zusammengefasst vor, dass der einschreitende Polizist auf Grundlage von § 97 Abs. 5 StVO versucht habe, die Beschwerdeführerin wegen der wahrgenommenen Verwaltungsübertretung anzuhalten, indem er mit der Beschwerdeführerin Blickkontakt aufgebaut und laut „HALT, Polizei, stehenbleiben!“ gerufen habe. Die Beschwerdeführerin habe diesen Befehl jedoch ignoriert. Der darauffolgende Versuch des Beamten, der Beschwerdeführerin den Weg zu versperren, sei durch einen Spurwechsel und das Beschleunigen der Beschwerdeführerin zu vereiteln versucht worden. Letztlich habe für den Beamten keine andere Möglichkeit mehr bestanden, als die Beschwerdeführerin am Oberarm zu ergreifen und so anzuhalten. Dies sei das gelindeste zum Ziel führende Mittel gewesen. Die Anwendung von Körperkraft sei daher durch § 97 Abs. 1 StVO und § 2 Z 2 iVm § 4 WaffGG gerechtfertigt gewesen.

3. Die Organe der Straßenaufsicht haben die Verkehrspolizei zu handhaben und bei der Vollziehung der StVO unter anderem durch Anwendung körperlichen Zwanges, soweit er gesetzlich vorgesehen ist, mitzuwirken (§ 97 Abs. 1 lit. c StVO). Gemäß § 97 Abs. 5 StVO sind die Organe der Straßenaufsicht berechtigt, durch deutlich sichtbare oder hörbare Zeichen Fahrzeuglenker zwecks Lenker- oder Fahrzeugkontrolle, zwecks anderer, den Fahrzeuglenker oder eine beförderte Person betreffende Amtshandlungen oder zwecks Durchführung von Verkehrserhebungen (wie Verkehrszählungen u. dgl.) zum Anhalten aufzufordern. Der Fahrzeuglenker hat der Aufforderung Folge zu leisten. Eine Anhaltung nach § 97 Abs. 5 StVO kann grundsätzlich auch durch Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden (VwGH 7.8.2018, Ro 2018/02/0010; VfGH 23.11.1984, B 560/78).

3.1. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts unterliegt auch die als weniger gefährliche Maßregel eingestufte Anwendung von Körperkraft im Rahmen exekutiver Zwangsbefugnisse derselben grundsätzlichen Einschränkung wie der Waffengebrauch. Sie muss demnach für ihre Rechtmäßigkeit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen und darf nur dann Platz greifen, wenn sie notwendig ist, um Menschen angriffs-, widerstands- oder fluchtunfähig zu machen (vgl. § 6 Abs. 1 WaffGG) und Maß haltend vor sich geht. Es darf jeweils nur das gelindeste Mittel, das zum Erfolg, etwa zur Abwehr eines Angriffes, führt, angewendet werden (vgl. VfSlg. 13.154/1992; VwGH 14.1.2003, 99/01/0013; 24.3.2011, 2008/09/0075).

3.2. Eine Aufforderung zum Anhalten hat gemäß § 97 Abs. 5 StVO durch deutlich sichtbare oder hörbare Zeichen zu erfolgen. Die Durchsetzung der Anhaltung durch körperlichen Zwang kann vor diesem Hintergrund nur dann als verhältnismäßig erachtet werden, wenn eine Aufforderung durch sichtbare oder hörbare Zeichen erfolglos geblieben ist (vgl. LVwG Tirol 17.12.2018, LVwG-2018/23/2305-7).

3.3. Unter Berücksichtigung der Wertungen des § 97 Abs. 4 StVO, wonach Anordnungen im Sinne dieser Bestimmung nur gegeben werden dürfen, wenn ihre Befolgung ohne Gefährdung von Personen und ohne Beschädigung von Sachen möglich ist, ergibt sich zudem, dass auch bei Ausübung der Befugnis nach § 97 Abs. 5 StVO, Fahrzeuglenker zum Anhalten aufzufordern, entsprechende Verkehrssicherheitsaspekte zu beachten sind (Pürstl, StVO-ON15.00 § 97 [Stand 1.10.2019, rdb.at] Anm 13). Dementsprechend ist die Durchsetzung der Anhaltung nach § 97 Abs. 5 StVO durch körperlichen Zwang lediglich dann verhältnismäßig, wenn das Organ der Straßenaufsicht im Zeitpunkt des Einschreitens vertretbar annehmen konnte, dass die gewählten Zwangsmittel nicht zur Gefährdung von Personen und zur Beschädigung von Sachen führen wird.

4. Die konkrete Durchsetzung der Anhaltung der Beschwerdeführerin durch körperlichen Zwang am 1.7.2022, um 17:56 Uhr, an der Adresse 1030 Wien, Stubenring 1 (unmittelbar nach der Kreuzung mit dem Oskar-Kokoschka-Platz auf der Nebenfahrbahn beim Eingang des BMSGPK) ist im Ergebnis als unverhältnismäßig zu werten:

4.1. Die Beschwerdeführerin wurde von Insp. D. mit beiden Händen am linken Oberarm ergriffen, während sie sich auf einem Fahrrad fortbewegte. Insp. D. wollte auf diese Weise die Beschwerdeführerin anhalten, um sie auf die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens hinzuweisen. Dies ist unzweifelhaft als Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu qualifizieren (vgl. VwGH 7.8.2018, Ro 2018/02/0010).

Der einschreitende Polizist Insp. D. war gemäß § 95 Abs. 1 StVO im Zuge der Amtshandlung als Organ der Straßenaufsicht tätig und somit iSd § 97 Abs. 5 StVO berechtigt, die Beschwerdeführerin als Fahrzeuglenkerin zum Zweck einer Lenker- oder Fahrzeugkontrolle zum Anhalten aufzufordern.

4.2. Das Verwaltungsgericht Wien erachtet es aufgrund der Ergebnisse des Beweisverfahrens als erwiesen, dass Insp. D. vor der Anwendung körperlichen Zwanges die Beschwerdeführerin nicht durch deutlich sichtbare oder hörbare Zeichen zum Anhalten aufgefordert hat. Die konkreten Umstände hätten es jedoch zeitlich zugelassen, zunächst entsprechende Zeichen zu geben und erst in der Folge, wenn die Beschwerdeführerin dennoch ihre Fahrt fortgesetzt hätte, die Anhaltung mit körperlichen Zwang durchzusetzen. Die Modalitäten der Anhaltung waren daher in der konkreten Situation unverhältnismäßig (siehe hiezu Punkt V.3.2).

Für das Verwaltungsgericht Wien haben die Schilderungen in der mündlichen Verhandlung durch die Beschwerdeführerin und den Zeugen Insp. D. gezeigt, dass die schnelle und dynamische Situation vom einschreitenden Polizeibeamten nicht korrekt erfasst wurde. Der von ihm in der mündlichen Verhandlung beschriebene Ruf „HALT, Polizei, stehenbleiben!“ war für die im Umkreis befindlichen Verkehrsteilnehmer – wie am Überwachungsvideo Nr. 1 ersichtlich – nicht wahrnehmbar.

4.3. Selbst wenn man – entgegen den getroffenen Feststellungen – davon ausginge, dass Insp. D. vor der Anwendung körperlichen Zwanges die Beschwerdeführerin durch ein deutlich hörbares Zeichen zum Anhalten aufgefordert hätte, wäre der gesetzte Zwangsakt als unverhältnismäßig zu beurteilen (siehe hiezu Punkt V.3.3). Wie in den Feststellungen ausgeführt, war die Beschwerdeführerin mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit von etwa 15 bis 20 km/h auf einem Rennrad unterwegs. In einer Betrachtung ex ante liegt es innerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung, dass das Ergreifen einer Radfahrerin am Oberarm bei dieser Geschwindigkeit deren körperliche Integrität gefährden kann. Der einschreitende Polizeibeamte konnte in der konkreten Situation nicht vertretbar davon ausgehen, dass das Ergreifen der Beschwerdeführerin in voller Fahrt nicht zu deren Gefährdung (oder auch zur Beschädigung von Sachen) führen würde.

4.4. Die Beschwerde erweist sich daher als begründet, weshalb spruchgemäß zu entscheiden und der gesetzte Zwangsakt für rechtswidrig zu erklären war.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 35 Abs. 1, 2 und 4 Z 3 VwGVG iVm § 1 Z 1 und 2 VwG-AufwErsV. Mangels Nachweises, dass der Beschwerdeführerin die von ihr angesprochenen Eingabegebühren tatsächlich erwachsen sind bzw. sie dafür ausgekommen ist, war das darauf gerichtete Begehren abzuweisen.

6. Die ordentliche Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (siehe zur Anwendung von Zwangsgewalt auf Basis des § 97 Abs. 5 StVO: VwGH 7.8.2018, Ro 2018/02/0010 mit Verweis auf VfGH 23.11.1984, B 560/78). Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Im vorliegenden Fall waren Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen, denen als regelmäßig nicht über den Einzelfall hinausreichend keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG zukommt (vgl. zB VwGH 18.8.2017, Ra 2017/11/0218).

Schlagworte

Maßnahmenbeschwerde; Befehls- und Zwangsgewalt; Verwaltungsübertretung; Anhaltung; Modalitäten; Anwendung von Körperkraft; Verhältnismäßigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2022:VGW.102.100.9983.2022

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2023
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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