TE Vwgh Erkenntnis 1996/1/23 94/08/0290

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Veröffentlicht am 23.01.1996
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Index

20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB);
40/01 Verwaltungsverfahren;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ABGB §1294;
ASVG §203 Abs1;
ASVG §357 Abs1;
AVG §37;
AVG §38;
AVG §39 Abs2;
AVG §46;
AVG §69 Abs1 Z2;
AVG §69 Abs3;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Hnatek und den Senatspräsident Dr. Knell sowie die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des H in G, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Oberösterreich vom 10. November 1994, Zl. SV (SanR)-366/5-1994-Ho/Ha, betreffend Wiederaufnahme eines Leistungsverfahrens (mitbeteiligte Partei: Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Wien XX, Adalbert Stifter-Straße 65), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Begehren auf Stempelgebührenersatz wird abgewiesen.

Begründung

Mit Bescheid vom 18. Dezember 1991 sprach die mitbeteiligte Sozialversicherungsanstalt - gestützt auf ein fachärztliches Gutachten des ärztlichen Leiters der Sonderkrankenanstalt für interne Berufskrankheiten T Dr. X und des Arztes Dr. Z vom 1. Oktober 1991 - aus, daß die Erkrankung, die sich der Beschwerdeführer als Schweißer in verschiedenen Betrieben zugezogen habe, gemäß § 177 ASVG, Anlage 1, Nr. 41 als Berufskrankheit anerkannt werde und dem Beschwerdeführer gemäß den §§ 203 bis 205, 209 Abs. 1 und 252 ASVG ab 14. Mai 1991 eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 30 % der Vollrente monatlich gebühre. Nach der Bescheidbegründung seien für die Entschädigung nachstehende ärztlich festgestellte Folgen der Berufskrankheit maßgebend: "Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lunge mit objektivem Nachweis einer Leistungsminderung von Atmung oder Kreislauf."

Mit Bescheid vom 5. Jänner 1993 stellte die mitbeteiligte Partei - gestützt auf ein lungenfachärztliches Gutachten des Dr. A vom 26. November 1992 - fest, daß ab 1. Februar 1993 anstelle der vorläufigen Rente gemäß § 209 Abs. 1 ASVG eine Dauerrente in der Höhe von 30 % der Vollrente gebühre.

Im erstgenannten Gutachten vom 1. Oktober 1991 heißt es in der Zusammenfassung:

"(Der Beschwerdeführer) übt seit 21 Jahren den Beruf eines Schweißers aus, gelegentliche Schweißarbeiten wurden bereits in den Jahren 64 bis 70 durchgeführt. Aufgrund deutlicher radiologischer Progredienz erfolgte am 1. 4. 1988 die BK-Anzeige (Anzeige über eine Berufskrankheit) durch Herrn Dr. S sowie eine Untersuchung des Arbeitsplatzes durch die ÖSBS (Österreichische Staub/Silikose-Bekämpfungsstelle) am 17. 8. 1988. Aus dem Gutachten geht hervor, daß der Versicherte sehr häufig grenzwertüberschreitenden Schweißrauchkonzentrationen ausgesetzt war und ist. 1989 sowie Juni 91 erfolgten jeweils Begutachtungen durch Herrn Hofrat Prim. Dr. P wegen Siderosilikose ohne funktionelle Rückwirkungen, es wurde keine MdE zuerkannt.

Radiologisch besteht eine Lungenfibrose mit alten spezifischen Veränderungen im linken Obergeschoß der ILO-Klassifikation t/u 2/3, hi, tbu. Zum Ausschluß einer anderen Erkrankung wäre eine Biopsie sinnvoll. In Anbetracht jedoch der Anamnese ist die Lungenfibrose mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch die berufliche Exposition bedingt, aufgrund funktioneller Rückwirkungen im Sinne einer restriktiven Ventilationsstörung und Gasaustauschstörung unter Belastung wird die BK-bedingte MdE mit 30 % veranschlagt. Nachuntersuchung in einem Jahr ..."

Im zweitgenannten Gutachten vom 26. November 1992 gelangte der Gutachter abschließend zum Ergebnis, daß gegenüber dem Vorgutachten vom 1. Oktober 1991 keine wesentliche Verbesserung oder Verschlimmerung der Befundlage festgestellt werden könne und daher "die Beibehaltung der MdE von 30 % empfohlen" werde.

Mit Bescheid vom 1. März 1993 anerkannte die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter gemäß den §§ 86, 254 Abs. 1 Z. 1 ASVG den Anspruch des Beschwerdeführers auf Invaliditätspension ab 1. Dezember 1992.

Mit Bescheid vom 6. Juni 1994 nahm die mitbeteiligte Partei das Verfahren betreffend die Leistungsansprüche des Beschwerdeführers aus der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 69 Abs. 1 "lit. b" (richtig: Z. 2) und Abs. 3 AVG wieder auf. Begründet wurde diese Entscheidung damit, daß im Rahmen eines stationären Aufenthaltes des Beschwerdeführers in der Sonderkrankenanstalt für interne Berufskrankheiten vom 6. April 1994 bis 4. Mai 1994 erstmals festgestellt worden sei, daß nicht eine Lungenfibrose, sondern eine Sarkoidose III vorliege. Diese Diagnose sei erstmals durch Biopsie gesichert worden. Eine derartige Erkrankung stelle keine Berufskrankheit im Sinne des § 177 Anlage 1 ASVG dar. Da die Diagnose bzw. das neue Untersuchungsergebnis neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 69 Abs. 1 "lit. b" AVG darstelle und die dreijährige Wiederaufnahmsfrist des § 69 Abs. 3 leg. cit. noch nicht abgelaufen sei, sei spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

In dem gegen diesen Bescheid erhobenen Einspruch wandte der Beschwerdeführer ein, es handle sich bei der erstmals im Jahre 1994 festgestellten Sarkoidose III um eine nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens neu entstandene Tatsache, die die Wiederaufnahme des Leistungsverfahren nicht rechtfertige. Aus dem im Jahre 1994 erhobenen Befund ergebe sich nur, daß im Jahre 1994 auch eine Sarkoidose III diagnostiziert worden sei. Daraus könne aber keinesfalls geschlossen werden, daß die ursprünglich festgestellte Lungenfibrose nicht vorhanden gewesen sei bzw. nicht nach wie vor vorhanden sei. Die mitbeteiligte Partei habe aufgrund eines Befundes aus dem Jahre 1994 nur eine andere Bewertung des dem Bescheid vom 18. Dezember 1991 zugrunde liegenden ärztlichen Gutachtens über die gesundheitlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruches vorgenommen. Dies stelle aber keinen Wiederaufnahmegrund dar. Im übrigen sei nicht sichergestellt, daß eine Sarkoidose III keine Berufskrankheit im Sinne des § 177 Anlage 1 ASVG darstelle.

Die mitbeteiligte Partei legte zur Widerlegung des Einspruchsvorbringens eine Stellungnahme des ärztlichen Leiters des obgenannten Sonderkrankenhauses (vom 5. September 1994) vor, aus der sich eindeutig das Vorliegen einer einzigen Erkrankung mit ursprünglich anderer Diagnose und nicht, wie vom Beschwerdeführer behauptet werde, der Bestand bzw. das Hinzukommen einer zweiten Krankheit, nämlich der Sarkoidose III, ergebe. Diese Stellungnahme lautet:

"Obwohl bereits mehr als 100 Ursachen für die diffuse infiltrative Lungenkrankheit beschrieben wurden, kommt für die übergroße Mehrheit der Fälle nur eine kleine Gruppe von Ursachen in Frage. Auf Grund der häufig recht unspezifischen klinischen, röntgenologischen und mitunter pathologischen Merkmale, ist die Differentialdiagnose von entscheidender Bedeutung. In allen Fällen überprüft man die Anamnese, vor allem die Arbeitsanamnese, Thoraxröntgen und Lungenfunktion. Meist führen diese Untersuchungsmethoden zur eindeutigen Diagnose oder helfen mit hoher Wahrscheinlichkeit zugrunde liegende Ursachen herauszuarbeiten.

Die Sarkoidose ist eine Erkrankung, die in Stadien verläuft und im Stadium I und II durchaus bei entsprechender Anamnese auch mit dem Bild einer Pneumokoniose verwechselt werden kann. Die einzelnen Stadien der Erkrankung können sich über Jahre hinziehen, bis es zur Progression und letztlich zum Stadium III der Sarkoidose, wie im vorliegenden Fall kommt. In differentialdiagnostischer Hinsicht wird man bei entsprechender Exposition erst dann an eine andere Ursache denken, wenn das morphologische Bild nicht mehr dazupaßt. Hier bringt dann meist nur mehr eine Lungenbiopsie ein eindeutiges Ergebnis. Die Lungenbiopsie ist aber ein duldungspflichtiger Eingriff, der im Rahmen von Begutachtungen selten zur Anwendung kommt. Im vorliegenden Fall hätte man, retrospektiv betrachtet, schon Jahre vorher die Diagnose "Sarkoidose" stellen können, schon in den Stadien I oder II, allerdings nur mittels - am ehesten offener - Lungenbiopsie. Da aber damals von der Exposition und dem röntgenmorphologischen Erscheinungsbild her, die Erstdiagnose einer Pneumokoniose durchaus wahrscheinlich war, ist kein entsprechender Verdacht aufgetreten, sodaß man damals auch noch nicht zur Biopsie geraten hat. Erst anläßlich der Begutachtung im Jahre 1991, wo erstmals der dringende Verdacht auf eine andere Ursache, nämlich ev. der Sarkoidose im Stadium III auf Grund der mehrjährigen Beobachtungszeit und des Verlaufsvergleiches aufgetreten ist. Solche Verdachtsdiagnosen ergeben sich speziell bei der Diagnose der Pneumokoniose oft erst nach Jahren im Rahmen von Verlaufsbeobachtungen, denn es wäre ja nicht zumutbar, jeden Fall primär einer Biopsie zuzuführen, bzw. die Diagnose grundsätzlich davon abhängig zu machen."

In seiner Stellungnahme vom 27. Oktober 1994 wendete der Beschwerdeführer unter Bezug auf § 69 Abs. 1 "lit. b" AVG nachstehendes ein: Die von der mitbeteiligten Partei als Beweismittel für die Wiederaufnahme des Verfahrens angebotenen Untersuchungen seien im Rahmen eines stationären Aufenthaltes des Beschwerdeführers in der Zeit vom 6. April bis 4. Mai 1994 erstmals festgestellt worden, wobei auch erstmals die Diagnose durch Biopsie gesichert worden sei. Diese Beweismittel seien jedoch erst nach Erlassung des das wiederaufzunehmende Verfahren abschließenden Bescheides erhoben worden, was voll zu Lasten der mitbeteiligten Partei gehe. Es habe nämlich diese Untersuchungsmethoden auch schon vor Erlassung des das wiederaufzunehmende Verfahren abschließenden Bescheides gegeben und es wäre in der Hand der mitbeteiligten Partei gelegen gewesen, diese Beweise bereits vor Erlassung des ursprünglichen Bescheides einzuholen. Daß die mitbeteiligte Partei dies unterlassen habe, könne nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde dem Einspruch keine Folge und bestätigte den bekämpften Bescheid. In der Bescheidbegründung wird nach Wiedergabe des bisherigen Verwaltungsgeschehens, insbesondere der Stellungnahme des ärztlichen Leiters der genannten Sonderkrankenanstalt vom 5. September 1994, und nach Zitierung der anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen zu den Einwänden des Beschwerdeführers in seiner Stellungnahme vom 27. Oktober 1994 ausgeführt, es sei zwar richtig, daß es die wissenschaftliche Methode der Biopsie bereits im Jahre 1991 gegeben habe; die Lungenbiopsie stelle jedoch einen duldungspflichtigen Eingriff dar, der im Rahmen von Begutachtungen selten zur Anwendung komme und einen riskanten Eingriff darstelle. Im Sinne der Ausführungen des genannten ärztlichen Leiters habe die belangte Behörde daher zum Schluß kommen müssen, daß die erst Jahre später hervorgekommene Sarkoidose sehr wohl ein neu hervorgekommenes "Beweismittel" (gemeint wohl: eine neu hervorgekommene Tatsache) darstelle, das (die) im Verfahren ohne Verschulden der mitbeteiligten Partei nicht früher habe geltend gemacht werden können. Die amtswegige Wiederaufnahme des Leistungsverfahrens durch die mitbeteiligte Partei erscheine daher rechtens.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, nach der sich der Beschwerdeführer in dem ihm nach § 69 Abs. 1 "lit. b" AVG eingeräumten Recht verletzt erachtet, daß das rechtskräftig abgeschlossene Leistungsverfahren nur aufgenommen werden dürfe, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkämen, die im Verfahren ohne Verschulden der mitbeteiligten Partei nicht hätten geltend gemacht werden können. In Ausführung dieses Beschwerdepunktes bringt der Beschwerdeführer vor, es ergebe sich aus dem gesamten Verfahren, insbesondere der Stellungnahme des ärztlichen Leiters der genannten Sonderkrankenanstalt vom 5. September 1994, daß die Tatsache der behaupteten Diagnose Sarkoidose schon seit Jahren vorliege und keinesfalls eine neue Tatsache darstelle und daß unter Zuhilfenahme des nunmehr herangezogenen Beweismittels, nämlich der Lungenbiopsie, die nunmehr gestellte Diagnose schon vor Jahren zu stellen gewesen wäre. Die jetzt vorliegende Diagnose Sarkoidose hätte schon Jahre vorher, und zwar schon in den Stadien I oder II, festgestellt werden können. Es seien sohin weder eine neue Tatsache noch ein neues Beweismittel hervorgekommen, die im Verfahren ohne Verschulden der mitbeteiligten Partei nicht hätten geltend gemacht werden können. Vielmehr liege ein Versäumnis der mitbeteiligten Partei vor, das nicht in Form einer amtswegigen Wiederaufnahme nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens behoben werden könne. Daß der Beschwerdeführer die Anwendung der Lungenbiopsie, die es bereits im Jahre 1991 gegeben habe, verweigert hätte, sei gar nicht behauptet worden. Gegen eine solche Annahme spreche auch die Tatsache, daß er sich dieser Untersuchungsmethode im Jahre 1994 unterzogen habe.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete ebenso wie die mitbeteiligte Partei (diese allerdings ohne Kostenantrag) eine Gegenschrift.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die (gemäß § 357 Abs. 1 ASVG auch für das Verfahren in Verwaltungs- und Leistungssachen vor den Sozialversicherungsträgern anwendbaren) Bestimmungen des § 69 Abs. 1 Z. 2 und Abs. 3 AVG lauten:

"(1) Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und:

...

2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten,

...

(3) Unter den Voraussetzungen des Abs. 1 kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden ..."

Eine amtswegige Wiederaufnahme eines durch rechtskräftigen Bescheid eines Sozialversicherungsträgers abgeschlossenen Leistungsverfahrens durch den Sozialversicherungsträger nach § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 Z. 2 AVG setzt demnach voraus, daß nach rechtskräftigem Abschluß des Leistungsverfahrens neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Leistungsverfahren ohne Verschulden des Sozialversicherungsträgers nicht geltend gemacht werden konnten und denen für den Hauptinhalt des Bescheidspruches die im zweiten Halbsatz des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG genannte Bedeutung zukommt.

Daß die anläßlich des stationären Aufenthalts des Beschwerdeführers in der genannten Sonderkrankenanstalt im Jahre 1994 diagnostizierte Krankheit der Sarkoidose im Falle ihrer Feststellung vor der Erlassung des Bescheides der mitbeteiligten Partei vom 18. Dezember 1991 im Sinne des zweiten Halbsatzes des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG "voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt" hätte, ist nicht (mehr) strittig. Der Beschwerdeführer stellt - ausgehend von den Ermittlungsergebnissen (insbesondere vom "Entlassungsbericht" vom 6. Mai 1994 über seinen stationären Aufenthalt in der genannten Sonderkrankenanstalt, auf den die mitbeteiligte Partei den Bescheid vom 6. Juni 1994 gestützt hat, und die Stellungnahme des ärztlichen Leiters der Sonderkrankenanstalt vom 5. September 1994) - auch zu Recht nicht (mehr) in Abrede, daß es sich bei dieser Krankheit um keine neu entstandene, sondern um eine bereits vor Abschluß des Verfahrens im Jahre 1991 vorliegende Tatsache handelt. Ob die Untersuchungen anläßlich seines stationären Aufenthaltes in der Sonderkrankenanstalt im Jahre 1994 - unter Bedachtnahme auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Eignung von Sachverständigengutachten als Wiederaufnahmsgrund (vgl. u.a. die Erkenntnisse vom 2. Juni 1982, Zl. 81/03/0151, vom 22. März 1983, Slg. Nr. 11013/A, und vom 25. Oktober 1994, Zl. 93/08/0123) - neue Befundergebnisse geliefert haben, die, wie die mitbeteiligte Partei und die belangte Behörde meinen, als neu hervorgekommene Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG zu werten sind, oder ob, wie der Beschwerdeführer meint, eine solche Beurteilung zu verneinen ist, kann dahingestellt bleiben, weil - im Sinne der Beschwerdeausführungen - der mitbeteiligten Partei, ausgehend von den Ermittlungsergebnissen, aus nachstehenden Gründen ein Verschulden daran zur Last fällt, daß die Erkrankung des Beschwerdeführers an Sarkoidose nicht schon vor dem rechtskräftigen Abschluß des Vorverfahrens festgestellt wurde:

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u. a. die Erkenntnisse vom 22. Mai 1981, Slg. Nr. 10465/A, vom 26. November 1982, Zlen. 82/08/0127, 0128, und vom 25. Oktober 1994, Zl. 93/08/0123, jeweils mit weiteren Judikaturhinweisen) handelt es sich bei dem (auch bei der amtswegigen Wiederaufnahme beachtlichen) Verschulden im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG um ein Verschulden im Sinne des § 1294 ABGB. Es vermag daher auch ein Mangel der gehörigen Aufmerksamkeit ein Verschulden nach der erstgenannten Gesetzesstelle zu begründen. Ein solches Verschulden kann auch in einem Verfahrensmangel gelegen sein, der zur Folge hatte, daß die erst nachträglich hervorgekommene Tatsache nicht schon im abgeschlossenen Verfahren verwertet werden konnte. Im Ermittlungsverfahren unterlaufene Fehler schließen die Annahme einer unverschuldeten Unkenntnis einer Tatsache auf seiten der Behörde und damit die Zulässigkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen unter Berufung auf § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG aus. Der Umstand, daß im § 357 Abs. 1 ASVG die Bestimmungen des AVG über das Ermittlungsverfahren (mit Ausnahme des § 38) nicht für anwendbar erklärt wurden, enthebt die Sozialversicherungsträger - auch unter Berücksichtigung der Intention des Sozialversicherungsgesetzgebers auf rationelle Gestaltung der Massenverfahren nach diesen Gesetzen - nicht der Verpflichtung, den maßgebenden Sachverhalt in ausreichendem Maße festzustellen (vgl. u. a. das schon zitierte Erkenntnis vom 26. November 1982, Zlen. 82/08/0127, 0128).

Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so ist - ausgehend von den festgestellten Ermittlungsergebnissen - ein Verschulden der mitbeteiligten Partei im aufgezeigten Sinn zu bejahen, weil die fehlende Feststellung der Erkrankung des Beschwerdeführers an Sarkoidose im Vorverfahren auf Ermittlungsfehler der mitbeteiligten Partei zurückzuführen sind:

Nach der oben wiedergegebenen Stellungnahme des ärztlichen Leiters des genannten Sonderkrankenhauses vom 5. September 1994 hätte man, retrospektiv betrachtet, schon Jahre vorher die Diagnose "Sarkoidose", und zwar schon in den Stadien I oder II, stellen können, allerdings nur mittels - am ehesten offener - Lungenbiopsie. Damals sei aber "von der Exposition und dem röntgenmorphologischen Erscheinungsbild her" die Erstdiagnose einer Pneumokoniose durchaus wahrscheinlich gewesen und kein entsprechender Verdacht aufgetreten, sodaß man damals auch nicht zur Biopsie geraten habe. "Erst" (zu ergänzen: ein solcher Rat sei erst erfolgt) "anläßlich der Begutachtung im JAHRE 1991, wo erstmals der dringende Verdacht auf eine andere Ursache, nämlich ev. der Sarkoidose im Stadium III ... aufgetreten ist".

Das bedeutet, daß nach der Stellungnahme des ärztlichen Leiters des genannten Sonderkrankenhauses bereits anläßlich der Erstellung des Gutachtens vom 1. Oktober 1991 durch ihn und Dr. Z der eben genannte dringende Verdacht eventuell auch der Sarkoidose im Stadium III bestanden und deshalb mit dem Satz "Zum Ausschluß einer anderen Erkrankung wäre eine Biopsie sinnvoll" in der Zusammenfassung des Gutachtens vom 1. Oktober 1991 zur Durchführung einer Biopsie geraten wurde. Die mitbeteiligte Partei hat aber weder diesen Rat befolgt noch, was im Hinblick auf den eben genannten Satz zumindest erforderlich gewesen wäre, eine Ergänzung des Gutachtens dahingehend veranlaßt, aufgrund welcher konkreten Verdachtsmomente - ungeachtet der überwiegenden Wahrscheinlichkeit einer anderen Ursache für die bestehenden Krankheitssymptome - eine Biopsie "sinnvoll (wäre)". Da sich - entsprechend der mehrfach genannten Stellungnahme vom 5. September 1994, auf die die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid gestützt hat - im Falle einer solchen Gutachtensergänzung herausgestellt hätte, daß der Gutachter schon damals den dringenden Verdacht auf eine andere Ursache, eventuell auch der Sarkoidose im Stadium III, hatte und bei Durchführung einer deshalb "sinnvollen" Biopsie schon im Jahre 1991 die tatsächliche Erkrankung des Beschwerdeführers an

Sarkoidose festgestellt worden wäre, liegt - entgegen der

Auffassung der belangten Behörde und der mitbeteiligten Partei - in der Unterlassung zumindest einer Gutachtensergänzung im Jahre 1991 ein die Wiederaufnahme des Leistungsverfahrens ausschließendes Verschulden der mitbeteiligten Partei im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG. Daran ändert der von der belangten Behörde hervorgehobene Umstand, daß "die Lungenbiopsie einen duldungspflichtigen Eingriff dar(stellt), der im Rahmen von Begutachtungen selten zu Anwendungen kommt und doch einen riskanten Eingriff darstellt" (nach den Ausführungen der mitbeteiligten Partei in der Gegenschrift: "doch ein gewisses Risiko in sich birgt"), nichts:

Der mitbeteiligten Partei ist zwar darin beizupflichten, daß ihr die Nichtveranlassung eines medizinisch möglichen Eingriffs zum Zwecke der Diagnose im Interesse des Versicherten nicht ohne weiteres als Verschulden zur Last gelegt werden kann. Dies ist zunächst dann zu verneinen, wenn dem Versicherten der Eingriff nicht zugemutet werden konnte. Dessen Zumutbarkeit hängt vom Grad der Erforderlichkeit im Licht der Beweislage und der Rechtserheblichkeit der mit einem solchen Eingriff erreichbaren Differenzierung des Krankheitsbildes einerseits und vom Grad der Belastung des Versicherten andererseits, d.h. von den Risken des Eingriffs und von den damit allenfalls verbundenen Schmerzen, ab. Wenn daher nach der Sachlage im Zeitpunkt der Zuerkennung einer Leistung die rechtserheblichen Umstände des Leidenszustandes (im Beschwerdefall: der Kausalzusammenhang mit der Berufstätigkeit) hinreichend aufgeklärt erscheinen und die konkrete Möglichkeit eines anderen - Grund und Ausmaß der Leistung berührenden - Sachverhaltes nicht erkennbar ist oder nach Maßgabe der erhobenen Befunde als unwahrscheinlich erscheinen muß, so wird man dem Versicherten nicht zumuten können, einen belastenden, unter Umständen riskanten oder schmerzhaften Eingriff nur zu diagnostischen Zwecken (und in Wahrheit nur im Dienste eines Erkundungsbeweises des Versicherungsträgers) zu dulden.

Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, weil - nach dem Ergebnis der medizinischen Begutachtung und der Aktenlage - die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Kausalverlaufes für die mitbeteiligte Partei zwar noch nicht aufgrund der nicht näher begründeten Empfehlung im Gutachten, wohl aber im Falle der - aufgrund dieser Empfehlung indizierten - Nachfrage nach deren Gründen erkennbar gewesen wäre.

Zum Vorbringen der mitbeteiligten Partei in der

Gegenschrift, es werde "eine solche Untersuchung ... erst bei

Vorliegen eines dringenden Verdachtes auf andere Ursachen - im vorliegenden Fall der Sarkoidose im Stadium III - in Erwägung gezogen", ist zum einen zu bemerken, daß nach der mehrfach genannten Stellungnahme vom 5. September 1994 ein solcher dringender Verdacht schon im Jahre 1991 bestand. Zum anderen ist - entgegen den Ausführungen der mitbeteiligten Partei - ein (nach der auch in der Beschwerde nicht in Zweifel gezogenen Aktenlage) relativ gefahrloser und mit keinen besonderen Schmerzen verbundener Eingriff dem Versicherten nicht erst bei Vorliegen eines dringenden Verdachtes einer anderen Krankheitsursache (oder einer anderen Krankheit als Auslöserin unspezifischer Symptome) zumutbar, sondern schon bei der ernsthaften Möglichkeit eines anderen Ursachenzusammenhanges und bei Vorliegen der Unmöglichkeit, anders als durch den belastenden Eingriff endgültige Klarheit zu schaffen.

Der Hinweis der belangten Behörde in der Gegenschrift auf die Entscheidung des OGH vom 26. April 1994, 10 Ob S 112/94, geht deshalb fehl, weil es darin nicht um die Frage ging, inwieweit eine Pflicht zur Duldung medizinischer Eingriffe zu Diagnosezwecken besteht, sondern um die ganz andere Frage, welche Nachteile ein Versicherter dadurch in Kauf nehmen muß, daß der Krankenversicherungsträger nur die Kosten einer zwar mit etwas größeren Unannehmlichkeiten verbundenen, aber bei gleichwertigem Heilungserfolg deutlich billigeren Behandlungsmethode zu tragen hat.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994, allerdings begrenzt durch das (den in dieser Verordnung festgelegten Pauschalsatz für Schriftsatzaufwand unterschreitende) Begehren des Beschwerdeführers. Das Begehren auf Stempelgebührenersatz war wegen der bestehenden sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 Abs. 1 Z. 2 ASVG) abzuweisen.

Schlagworte

SachverständigengutachtenNeu hervorgekommene entstandene Beweise und Tatsachen nova reperta nova productaVerschuldenSachverhalt Sachverhaltsfeststellung Materielle WahrheitVerhältnis zu anderen Materien Normen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1994080290.X00

Im RIS seit

27.11.2000

Zuletzt aktualisiert am

27.12.2012
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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