TE Vfgh Erkenntnis 2022/9/19 E3074/2021

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Veröffentlicht am 19.09.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3
VfGG §7 Abs2
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten betreffend einen staatenlosen Flüchtling; mangelhafte Auseinandersetzung mit dem Fluchtvorbringen und aktuellen Länderberichten

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist staatenlos, gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Bis zu seiner Ausreise im November 2019 lebte er durchgehend in Syrien, danach in der Türkei. Am 3. April 2020 stellte er im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 9. März 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Beschwerdeführer jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).

3. Die ausschließlich gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 5. Juli 2021 als unbegründet ab. Der Beschwerdeführer habe keine individuell gegen seine Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Auch die Durchsicht aktueller Länderberichte erlaube es nicht anzunehmen, dass sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorlägen.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der ua die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Der Beschwerdeführer bringt insbesondere vor, die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen nicht maßgeblich wahrscheinlich sei, stehe im Widerspruch zu den zugrunde liegenden Länderinformationen, zumal die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur kurdischen Volksgruppe als glaubhaft festgestellt worden sei.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungs-verfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Der Beschwerdeführer brachte als Fluchtgründe einerseits eine drohende Verfolgung auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden durch türkische Streitkräfte bzw türkisch-nahe Milizen in Nordsyrien vor, andererseits eine drohende Verfolgung auf Grund seiner Weigerung, sich kurdischen Streitkräften anzuschließen bzw von der syrischen Armee eingezogen zu werden.

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht legt im Rahmen seiner Beweiswürdigung dar, weshalb es das Vorbringen des Beschwerdeführers zur drohenden Gefahr einer Rekrutierung durch das syrische Regime für nicht glaubhaft erachtet. Weiters führt es aus, dass keine konkrete individuelle Bedrohung gegenüber dem Beschwerdeführer durch staatliche Organe "oder durch andere Gruppierungen" erkannt werden könne und auch sonst im Verfahren keine Anhaltspunkte hervorgekommen seien, die eine konkret gegen die Person des Beschwerdeführers gerichtete asylrelevante Verfolgung für wahrscheinlich erscheinen ließen.

3.3. Damit übersieht das Bundesverwaltungsgericht aber, dass der Beschwerdeführer insbesondere in seiner Befragung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass er nicht nur der Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee, sondern auch durch kurdische Kämpfer ausgesetzt sei und unterlässt es in der Folge, sich mit diesem maßgeblichen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen, obwohl es den Feststellungen folgende Information des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation vom 23. Februar 2021 zugrunde legte:

"Laut UNHCR kann die Weigerung, den [kurdischen, Anm.] YPG [Volksverteidigungseinheiten, Anm.] beizutreten, Berichten zufolge schwerwiegende Konsequenzen haben, einschließlich Entführung, Inhaftierung und Misshandlung der inhaftierten Personen sowie Zwangsrekrutierung, da die Verweigerung des Kampfes als Ausdruck der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates oder als Opposition zu PYD [Partei der Demokratischen Union, Anm.]/YPG interpretiert werden kann (UNHCR 3.11.2017)."

Indem das Bundesverwaltungsgericht es somit unterlassen hat, zur Gefahr einer drohenden Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers durch kurdische Kämpfer Feststellungen zu treffen und den so ermittelten Sachverhalt einer Beweiswürdigung zu unterziehen, fehlt es an einer schlüssigen Begründung, warum diesbezüglich keine asylrelevante Verfolgung vorliegt (vgl VfGH 29.11.2021, E2994/2021, mwN).

3.4. Hinzu kommt, dass das Bundesverwaltungsgericht zwar feststellte, dass der Beschwerdeführer der Volksgruppe der Kurden angehört und auch im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Angaben des Beschwerdeführers wiedergab, wonach türkische Truppen in den damaligen Heimatort des Beschwerdeführers gekommen seien und begonnen hätten, Kurden festzunehmen. Das Bundesverwaltungsgericht unterließ es jedoch zur Gänze, sich auch mit diesem Fluchtvorbringen auseinanderzusetzen. Die Würdigung sonstiger Umstände kann eine Auseinandersetzung mit einem konkreten Fluchtvorbringen nicht ersetzen oder überflüssig machen (vgl abermals VfGH 29.11.2021, E2994/2021, mwN).

Das Bundesverwaltungsgericht hat insbesondere nicht beachtet, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Lage von Kurden in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien vom 13. April 2021 vorlag, welcher insbesondere folgende Informationen zu entnehmen sind (vgl S 2 ff.):

"Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte hat im September 2020 gewarnt, dass die Menschenrechtslage in Teilen des Nordens, Nordwestens und Nordostens Syriens, die von türkischen Streitkräften und türkisch nahestehenden bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, düster ist und die Gewalt und Kriminalität weit verbreitet sind. Während die Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts gegen die Zivilbevölkerung in ganz Syrien andauern, hat das UN-Menschenrechtsbüro in den letzten Monaten ein alarmierendes Muster schwerer Verstöße in diesen Gebieten festgestellt, darunter in Afrin, Ras al-Ain und Tel Abyad, wo vermehrt Tötungen, Entführungen, rechtswidrige Verlegungen von Menschen, Beschlagnahmungen von Land und Eigentum und gewaltsame Vertreibungen dokumentiert worden sind. […]

Im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der - mit den türkischen Truppen affiliierten - Milizen der SNA (Syrische Nationalarmee) sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen wie auch gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen. […]

Zudem gab es Berichte von Vertriebenen, vor allem von Kurdinnen und Kurden, deren Häuser und Wohnungen nach ihrer Flucht von Mitgliedern von Milizen geplündert und/oder besetzt worden seien. Andere Besitztümer sollen nur gegen sehr hohe Geldzahlungen rücküberlassen worden sein. Anderen sei bei ihrer Rückkehr der Zugang zu ihrem Besitz aufgrund von tatsächlicher oder vermeintlicher Nähe zur YPG verweigert worden."

Indem das Bundesverwaltungsgericht sohin das Parteivorbringen ignoriert und die Ermittlung des Sachverhalts in einem wesentlichen Punkt unterlassen hat, hat es sein Erkenntnis mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E3074.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.12.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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