TE Vfgh Beschluss 2022/7/1 G143/2022

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Veröffentlicht am 01.07.2022
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Index

25/01 Strafprozess

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
StPO §3, §5, §101, §106, §112, §157 Abs2
VfGG §7 Abs2, §62 Abs1
  1. B-VG Art. 140 heute
  2. B-VG Art. 140 gültig ab 01.01.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 114/2013
  3. B-VG Art. 140 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. B-VG Art. 140 gültig von 01.07.2008 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 2/2008
  5. B-VG Art. 140 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  6. B-VG Art. 140 gültig von 06.06.1992 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 276/1992
  7. B-VG Art. 140 gültig von 01.01.1991 bis 05.06.1992 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 685/1988
  8. B-VG Art. 140 gültig von 01.07.1988 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 341/1988
  9. B-VG Art. 140 gültig von 01.07.1976 bis 30.06.1988 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 302/1975
  10. B-VG Art. 140 gültig von 19.12.1945 bis 30.06.1976 zuletzt geändert durch StGBl. Nr. 4/1945
  11. B-VG Art. 140 gültig von 03.01.1930 bis 30.06.1934
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Zurückweisung eines Parteiantrags auf Aufhebung näher bezeichneter Bestimmungen der StPO mangels Darlegung und Zuordnung der Bedenken, mangelnder Präjudizialität, Unzulässigkeit der Geltendmachung von Vollzugsmängeln im Normenprüfungsverfahren und zu engen Anfechtungsumfangs

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B-VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, der Verfassungsgerichtshof möge "gemäß Artikel 140 Abs1 Z1 litd B-VG iVm §64 Abs1 VfGG die Bestimmungen der §§3 StPO, 5 StPO, 101 StPO, 106 StPO, 112 StPO und 157 Abs2 StPO teilweise oder zur Gänze als verfassungswidrig aufheben".

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen der Strafprozessordnung 1975 (StPO), BGBl 631/1975, idF BGBl I 26/2016 lauten (die angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):

"Objektivität und Wahrheitserforschung

§3. (1) Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht haben die Wahrheit zu erforschen und alle Tatsachen aufzuklären, die für die Beurteilung der Tat und des Beschuldigten von Bedeutung sind.

(2) Alle Richter, Staatsanwälte und kriminalpolizeilichen Organe haben ihr Amt unparteilich und unvoreingenommen auszuüben und jeden Anschein der Befangenheit zu vermeiden. Sie haben die zur Belastung und die zur Verteidigung des Beschuldigten dienenden Umstände mit der gleichen Sorgfalt zu ermitteln.

[…]

Gesetz- und Verhältnismäßigkeit

§5. (1) Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht dürfen bei der Ausübung von Befugnissen und bei der Aufnahme von Beweisen nur soweit in Rechte von Personen eingreifen, als dies gesetzlich ausdrücklich vorgesehen und zur Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Jede dadurch bewirkte Rechtsgutbeeinträchtigung muss in einem angemessenen Verhältnis zum Gewicht der Straftat, zum Grad des Verdachts und zum angestrebten Erfolg stehen.

(2) Unter mehreren zielführenden Ermittlungshandlungen und Zwangsmaßnahmen haben Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht jene zu ergreifen, welche die Rechte der Betroffenen am Geringsten beeinträchtigen. Gesetzlich eingeräumte Befugnisse sind in jeder Lage des Verfahrens in einer Art und Weise auszuüben, die unnötiges Aufsehen vermeidet, die Würde der betroffenen Personen achtet und deren Rechte und schutzwürdige Interessen wahrt.

(3) Es ist unzulässig, Personen zur Begehung von strafbaren Handlungen in einer dem Grundsatz des fairen Verfahrens (Art6 Abs1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958) widerstreitenden Weise zu verleiten, oder durch heimlich bestellte Personen zu einem Geständnis zu verlocken.

[…]

Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren

Aufgaben

§101. (1) Die Staatsanwaltschaft leitet das Ermittlungsverfahren und entscheidet über dessen Fortgang und Beendigung. Gegen ihren erklärten Willen darf ein Ermittlungsverfahren weder eingeleitet noch fortgesetzt werden.

(2) Die Staatsanwaltschaft stellt die erforderlichen Anträge bei Gericht, soweit ihre Anordnungen einer gerichtlichen Bewilligung bedürfen. Abgesehen von den in den §§149 Abs3 und 165 Abs2 vorgesehenen Fällen hat die Staatsanwaltschaft gerichtliche Beweisaufnahmen zu beantragen, wenn an solchen wegen der Bedeutung der aufzuklärenden Straftat und der Person des Tatverdächtigen ein besonderes öffentliches Interesse besteht.

(3) Die Staatsanwaltschaft hat ihre Anträge nach Abs2 zu begründen und sie dem Gericht samt den Akten zu übermitteln. Bewilligt das Gericht eine Maßnahme, so entscheidet die Staatsanwaltschaft über die Durchführung. Wenn die Voraussetzungen, unter denen der Antrag bewilligt wurde, weggefallen sind oder sich derart geändert haben, dass die Durchführung rechtswidrig, unverhältnismäßig oder nicht mehr zweckmäßig wäre, hat die Staatsanwaltschaft von ihr abzusehen und das Gericht hievon zu verständigen.

(4) Die Staatsanwaltschaft prüft die Berichte der Kriminalpolizei und trifft die erforderlichen Anordnungen. Soweit dies aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erforderlich ist, kann sie jederzeit weitere Ermittlungen und die Ausübung von Zwang durch die Kriminalpolizei anordnen.

[…]

Einspruch wegen Rechtsverletzung

§106. (1) Einspruch an das Gericht steht jeder Person zu, die behauptet, im Ermittlungsverfahren durch Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil

1. ihr die Ausübung eines Rechtes nach diesem Gesetz verweigert oder

2. eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde.

Im Fall des Todes der zum Einspruch berechtigten Person kommt dieses Recht den in §65 Z1 litb erwähnten Angehörigen zu. Eine Verletzung eines subjektiven Rechts liegt nicht vor, soweit das Gesetz von einer bindenden Regelung des Verhaltens von Staatsanwaltschaft oder Kriminalpolizei absieht und von diesem Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde.

(2) Soweit gegen die Bewilligung einer Ermittlungsmaßnahme Beschwerde erhoben wird, ist ein Einspruch gegen deren Anordnung oder Durchführung mit der Beschwerde zu verbinden. In einem solchen Fall entscheidet das Beschwerdegericht auch über den Einspruch.

(3) Der Einspruch ist binnen sechs Wochen ab Kenntnis der behaupteten Verletzung in einem subjektiven Recht bei der Staatsanwaltschaft einzubringen. In ihm ist anzuführen, auf welche Anordnung oder welchen Vorgang er sich bezieht, worin die Rechtsverletzung besteht und auf welche Weise ihm stattzugeben sei. Sofern er sich gegen eine Maßnahme der Kriminalpolizei richtet, hat die Staatsanwaltschaft der Kriminalpolizei Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

(4) Die Staatsanwaltschaft hat zu prüfen, ob die behauptete Rechtsverletzung vorliegt, und dem Einspruch, soweit er berechtigt ist, zu entsprechen sowie den Einspruchswerber davon zu verständigen, dass und auf welche Weise dies geschehen sei und dass er dennoch das Recht habe, eine Entscheidung des Gerichts zu verlangen, wenn er behauptet, dass seinem Einspruch tatsächlich nicht entsprochen wurde.

(5) Wenn die Staatsanwaltschaft dem Einspruch nicht,binnen vier Wochen entspricht oder der Einspruchswerber eine Entscheidung des Gerichts verlangt, hat die Staatsanwaltschaft den Einspruch unverzüglich an das Gericht weiter zu leiten. Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei hat das Gericht dem Einspruchswerber zur Äußerung binnen einer festzusetzenden, sieben Tage nicht übersteigenden Frist zuzustellen.

[…]

§112. (1) Widerspricht die von der Sicherstellung betroffene oder anwesende Person, auch wenn sie selbst der Tat beschuldigt ist, der Sicherstellung von schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträgern unter Berufung auf ein gesetzlich anerkanntes Recht auf Verschwiegenheit, das bei sonstiger Nichtigkeit nicht durch Sicherstellung umgangen werden darf, so sind diese Unterlagen auf geeignete Art und Weise gegen unbefugte Einsichtnahme oder Veränderung zu sichern und bei Gericht zu hinterlegen. Auf Antrag des Betroffenen sind die Unterlagen jedoch bei der Staatsanwaltschaft zu hinterlegen, die sie vom Ermittlungsakt getrennt aufzubewahren hat. In beiden Fällen dürfen die Unterlagen von Staatsanwaltschaft oder Kriminalpolizei nicht eingesehen werden, solange nicht über die Einsicht nach den folgenden Absätzen entschieden worden ist.

(2) Der Betroffene ist aufzufordern, binnen einer angemessenen, 14 Tage nicht unterschreitenden Frist jene Teile der Aufzeichnungen oder Datenträger konkret zu bezeichnen, deren Offenlegung eine Umgehung seiner Verschwiegenheit bedeuten würde; zu diesem Zweck ist er berechtigt, in die hinterlegten Unterlagen Einsicht zu nehmen. Unterlässt der Betroffene eine solche Bezeichnung, so sind die Unterlagen zum Akt zu nehmen und auszuwerten. Anderenfalls hat das Gericht, im Fall eines Antrags nach Abs1 vorletzter Satz jedoch die Staatsanwaltschaft die Unterlagen unter Beiziehung des Betroffenen sowie gegebenenfalls geeigneter Hilfskräfte oder eines Sachverständigen zu sichten und anzuordnen, ob und in welchem Umfang sie zum Akt genommen werden dürfen. Unterlagen, die nicht zum Akt genommen werden, sind dem Betroffenen auszufolgen. Aus deren Sichtung gewonnene Erkenntnisse dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nicht für weitere Ermittlungen oder als Beweis verwendet werden.

(3) Gegen die Anordnung der Staatsanwaltschaft kann der Betroffene Einspruch erheben, in welchem Fall die Unterlagen dem Gericht vorzulegen sind, das zu entscheiden hat, ob und in welchem Umfang sie zum Akt genommen werden dürfen; Abs2 letzter Satz gilt. Einer Beschwerde gegen den Beschluss des Gerichts kommt aufschiebende Wirkung zu.

[…]

Aussageverweigerung

§157. (1) Zur Verweigerung der Aussage sind berechtigt:

1. Personen, soweit sie ansonsten sich oder einen Angehörigen (§156 Abs1 Z1) der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder im Zusammenhang mit einem gegen sie geführten Strafverfahren der Gefahr aussetzen würden, sich über ihre bisherige Aussage hinaus selbst zu belasten,

2. Verteidiger, Rechtsanwälte, Patentanwälte, Verfahrensanwälte in Untersuchungsausschüssen des Nationalrats, Notare und Wirtschaftstreuhänder über das, was ihnen in dieser Eigenschaft bekannt geworden ist,

3. Fachärzte für Psychiatrie, Psychotherapeuten, Psychologen, Bewährungshelfer, eingetragene Mediatoren nach dem Zivilrechts-Mediations-Gesetz, BGBl I Nr 29/2003, und Mitarbeiter anerkannter Einrichtungen zur psychosozialen Beratung und Betreuung über das, was ihnen in dieser Eigenschaft bekannt geworden ist,

4. Medieninhaber (Herausgeber), Medienmitarbeiter und Arbeitnehmer eines Medienunternehmens oder Mediendienstes über Fragen, welche die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes von Beiträgen und Unterlagen betreffen oder die sich auf Mitteilungen beziehen, die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemacht wurden,

5. Wahlberechtigte darüber, wie sie ein gesetzlich für geheim erklärtes Wahl- oder Stimmrecht ausgeübt haben.

(2) Das Recht der in Abs1 Z2 bis 5 angeführten Personen, die Aussage zu verweigern, darf bei sonstiger Nichtigkeit nicht umgangen werden, insbesondere nicht durch Sicherstellung und Beschlagnahme von Unterlagen oder auf Datenträgern gespeicherten Informationen oder durch Vernehmung der Hilfskräfte oder der Personen, die zur Ausbildung an der berufsmäßigen Tätigkeit nach Abs1 Z2 bis 4 teilnehmen. Dies gilt ebenso für Unterlagen und Informationen, die sich in der Verfügungsmacht des Beschuldigten oder eines Mitbeschuldigten befinden und zum Zwecke der Beratung oder Verteidigung des Beschuldigten durch eine in Abs1 Z2 genannte Person von dieser oder vom Beschuldigten erstellt wurden."

III. Anlassverfahren und Antragsvorbringen

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.1. Der Antragsteller ist Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren, das von der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (in der Folge: WKStA) gegen über 80 Beschuldigte geführt wird.

1.2. Im Zuge dieses Ermittlungsverfahrens kam es am 13. Oktober 2021 zu einer Einvernahme der Beschuldigten ***. Auf Wunsch der Beschuldigten und ihrer Verteidigung wurde die Vernehmung gemäß §96 Abs2 StPO zur Unterstützung der Anfertigung des schriftlichen Protokolles in Wort und Bild aufgezeichnet.

1.3. Der Antragsteller beantragte am 2. November 2021 die Übermittlung einer Aktenabschrift näher bezeichneter Aktenbestandteile.

1.4. Am 12. November 2021 teilte die WKStA in einer auch für den Antragsteller ersichtlichen Note mit, dass Akteneinsicht erst nach Fertigstellung des Protokolles und Unterfertigung durch die vernommene Person zustehe und das Protokoll noch nicht finalisiert worden sei.

1.5. Am 6. Dezember 2021 stellte der Antragsteller den Antrag auf Anfertigung und Übermittlung einer Kopie der Ton- und Bildaufnahme, die bei der genannten Vernehmung hergestellt worden sei, sowie einer allenfalls davon erfolgten schriftlichen Zusammenfassung.

1.6. Am 14. Dezember 2021 legte die WKStA ihre geplante Vorgangsweise gegenüber dem Antragsteller offen und teilte mit, dass Akteneinsicht erst nach Fertigstellung des Protokolles und Unterfertigung durch die vernommene Person zustehe.

1.7. Mit Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß §106 Abs1 StPO vom 16. Dezember 2021 beantragte der Antragsteller, das Landesgericht für Strafsachen Wien möge die Verletzung der subjektiven Rechte auf Akteneinsicht, auf andere Wiedergaben des Akteninhaltes nach §51 Abs1 StPO sowie auf ein faires Verfahren feststellen und die Zurverfügungstellung einer Kopie der Ton- und Bildaufnahme der genannten Vernehmung ermöglichen. Darüber hinaus solle das Landesgericht für Strafsachen Wien die Verletzung des Rechtes auf Akteneinsicht hinsichtlich näher bezeichneter Aktenbestandteile feststellen und die Herstellung derselben "über Cryptshare ermöglichen". Der Antragsteller brachte dazu im Wesentlichen vor, dass maßgebliche Teile seines Antrages vom 6. Dezember 2021 nicht behandelt worden seien, was zur Folge habe, dass die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit habe, das Transkript der Vernehmung mit der Aufnahme zu vergleichen, während dem Antragsteller diese Möglichkeit genommen werde. Der Antragsteller werde in seinem subjektiven Recht auf Akteneinsicht verletzt.

2. Mit Beschluss vom 8. April 2022 wies das Landesgericht für Strafsachen Wien den Einspruch wegen Rechtsverletzung – mit jeweils näherer Begründung – hinsichtlich des Rechtes auf Akteneinsicht, auf andere Wiedergaben des Akteninhaltes nach §51 Abs1 StPO und auf ein faires Verfahren sowie hinsichtlich der beantragten Zurverfügungstellung einer Kopie der Ton- und Bildaufnahme der Vernehmung ab, hinsichtlich des Rechtes auf Akteneinsicht in näher bezeichnete Aktenbestandteile hingegen zurück.

3. Der Antragsteller erhob gegen diesen Beschluss Beschwerde und stellte aus Anlass dieses Rechtsmittels den vorliegenden Antrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG.

Begründend führt der Antragsteller hiezu zusammengefasst aus, er werde durch die Anwendung der vor dem Verfassungsgerichtshof angefochtenen Bestimmungen in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK, auf Schutz des Redaktionsgeheimnisses gemäß Art10 EMRK sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art7 B-VG verletzt. Es lägen verfassungsrechtlich bedeutsame Rechtsschutzdefizite vor. Es sei zwar durchaus möglich, die angefochtenen Bestimmungen verfassungskonform zu interpretieren; diese Möglichkeit werde jedoch vom Landesgericht für Strafsachen Wien nicht wahrgenommen. Dem Antragsteller werde Akteneinsicht in wesentliches Beweismaterial, dessen Kenntnis für die Wahrnehmung der Beschuldigtenrechte unabdingbar sei, ohne hinreichenden Grund verweigert.

IV. Zur Zulässigkeit

1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels.

Gemäß §62 Abs1 VfGG muss der Antrag begehren, "dass entweder das Gesetz seinem ganzen Inhalt nach oder dass bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden. Der Antrag hat die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen."

2. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit – in überprüfbarer Art– präzise ausgebreitet werden, mithin dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Rechtsvorschrift die zur Aufhebung beantragte Bestimmung in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl zB VfSlg 14.802/1997, 17.752/2006; spezifisch zum Parteiantrag VfGH 2.7.2015, G16/2015; G145/2015; 18.2.2016, G642/2015). Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes, pauschal vorgetragene Bedenken einzelnen Bestimmungen zuzuordnen und – gleichsam stellvertretend – das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren (VfSlg 17.099/2003, 17.102/2003, 19.825/2013, 19.832/2013, 19.870/2014, 19.938/2014; VfGH 22.9.2021, G210/2021).

3. Eben diesem Erfordernis wird der vorliegende Antrag nicht gerecht (vgl auch VfGH 1.7.2022, G118/2022). Der Antragsteller ist der Ansicht, die Anwendung der angefochtenen Bestimmungen durch das Landesgericht für Strafsachen Wien verletze ihn in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK, auf Schutz des Redaktionsgeheimnisses gemäß Art10 EMRK sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art7 B-VG.

Dem Antrag ist nicht zu entnehmen, welche der behaupteten Verfassungswidrigkeiten im Einzelnen hinsichtlich welcher der angefochtenen Bestimmungen (§3, §5, §101, §106, §112 und §157 Abs2 StPO) vorliegen sollen. In diesem Sinne enthält der Antrag keine hinreichende Zuordnung der Bedenken zu den einzelnen angefochtenen Bestimmungen im Sinne des §62 Abs1 VfGG. Soweit der Antragsteller pauschal vorgetragene verfassungsrechtliche Bedenken erhebt, ist es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes, diese Bedenken einzelnen Bestimmungen zuzuordnen und auf diesem Weg das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren.

Dabei handelt es sich um ein materielles Formgebrechen, das nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes einem Mängelbehebungsauftrag nicht zugänglich ist (vgl etwa VfSlg 15.342/1998, 17.553/2005; VfGH 29.4.2022, G29/2022).

4. Darüber hinaus macht der Antragsteller ausdrücklich geltend, dass er "durch die im Ergebnis verfassungswidrige Anwendung" der angefochtenen Bestimmungen in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt werde. Es bestünde "durchaus die Möglichkeit, die angefochtenen Bestimmungen auch verfassungskonform zu interpretieren".

Der Antragsteller macht somit lediglich Vollzugsmängel geltend. Solche Bedenken sind unzulässig, weil der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen entscheidet. Die Entscheidung eines Gerichtes ist nicht Prüfungsgegenstand eines Verfahrens nach Art140 B-VG (vgl VfGH 2.7.2015, G145/2015; 26.2.2016, G179/2015 ua; 22.9.2016, G607/2015).

5. Der Antrag ist überdies auch deswegen insoweit unzulässig, als §3, §5, §101 und §112 StPO im gerichtlichen Anlassverfahren nicht präjudiziell sind und dem Antrag auch kein Vorbringen zur Präjudizialität dieser Bestimmungen im Einzelnen zu entnehmen ist:

§3 und §5 StPO regeln die Grundsätze der Objektivität sowie der Gesetz- und Verhältnismäßigkeit. Selbstverständlich hat das Landesgericht für Strafsachen Wien diese Grundsätze bei seinen Entscheidungen stets zu beachten. Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat diese Bestimmungen in seiner Entscheidung aber nicht iSd Art140 Abs1 Z1 litd B-VG angewendet.

§101 StPO regelt die Aufgaben der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und sieht insbesondere vor, dass die Staatsanwaltschaft die hiefür erforderlichen Anträge bei Gericht zu stellen und diese zu begründen hat. Für den Verfassungsgerichtshof ist nicht nachvollziehbar, inwiefern diese Bestimmung in einem Verfahren betreffend einen Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß §106 StPO (zur Gänze) präjudiziell sein sollte. Dasselbe gilt sinngemäß auch für §112 StPO; insbesondere handelt es sich bei der Entscheidung des Landesgerichtes für Strafsachen Wien gerade um keine Aufforderung nach §112 Abs2 StPO, weswegen die Bestimmung insofern nicht als präjudiziell anzusehen ist.

6. Im Übrigen erweist sich auch die Anfechtung (nur) des §157 Abs2 StPO vor dem Hintergrund der (pauschalen) Bedenken des Antragstellers als zu eng gefasst; der Antragsteller hätte jedenfalls auch §157 Abs1 Z4 StPO anfechten müssen, weil zwischen den genannten Bestimmungen eine untrennbare Einheit besteht und eine allfällige Verfassungswidrigkeit durch Aufhebung des §157 Abs2 StPO nicht beseitigt werden könnte.

7. Der Antragsteller führt in seinem Antrag abschließend aus, dass er "als Nichtjurist und Medienmitarbeiter beim besten Willen nicht [wüsste], wie man in Fällen wie im vorliegenden, die durch kaskadenhafte und ineinander verschränkte Verfassungswidrigkeiten infolge falscher Auslegung einfacher gesetzlicher Regelungen durch Strafverfolgungsbehörden und Gerichte einen ausreichenden Rechtsschutz für die dadurch verletzten Grundrechte sicherstellen kann", wenn der Verfassungsgerichtshof den Antrag wegen zu geringen oder zu weiten Anfechtungsumfanges als unzulässig zurückweisen sollte. Der Antragsteller verkennt, dass aus eben diesem Grund im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof grundsätzlich Rechtsanwaltszwang besteht, um Rechtsschutzsuchende vor formalen und inhaltlichen Fehlern zu bewahren, die zur Zurückweisung von Anträgen führen können. Bei Rechtsanwälten ist davon auszugehen, dass sie über die notwendigen Kenntnisse hinsichtlich der Erfordernisse eines Antrages an den Verfassungsgerichtshof verfügen.

V. Ergebnis

1. Der Antrag ist daher aus den genannten Gründen zurückzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nicht öffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Strafprozessrecht, VfGH / Parteiantrag, VfGH / Prüfungsgegenstand, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Bedenken, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Formerfordernisse, VfGH / Mängelbehebung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:G143.2022

Zuletzt aktualisiert am

16.12.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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