TE Vwgh Erkenntnis 2022/11/11 Ro 2020/10/0036

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Veröffentlicht am 11.11.2022
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Magistrats der Stadt Wien, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 9. April 2020, Zl. VGW-122/043/1597/2019-97, betreffend Widerruf der Bewilligung zum Betrieb eines Kindergartens (mitbeteiligte Partei: Verein M in W, vertreten durch Mag. Silvia Fessel, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Schubertring 6, diese vertreten durch Mag. Petra Trauntschnig, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Schubertring 6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Antrag der revisionswerbenden Partei auf Zuspruch von Aufwandersatz wird abgewiesen.

Begründung

1        Mit Bescheid der belangten Behörde vom 29. Oktober 2018 wurde die der mitbeteiligten Partei mit Bescheid vom 18. Mai 1998 erteilte Bewilligung zum Betrieb eines näher genannten Kindergartens gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 und 3 iVm §§ 1, 2 Abs. 1, und 4 Abs. 3 Wiener Kindergartengesetz (WKGG) sowie in Verbindung mit näher genannten Bestimmungen der Wiener Kindergartenverordnung (WKGVO) widerrufen.

2        Begründend argumentierte die belangte Behörde, dass bestimmte, in den Mängelberichten vom 18. Mai 2018 und vom 11. Juni 2018 vorgeworfene Mängel nicht fristgerecht behoben worden seien.

3        Die mitbeteiligte Partei erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde.

4        Im Rahmen der am 10. September 2019 durchgeführten mündlichen Verhandlung verkündete das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) das Erkenntnis mit nachstehendem Spruch:

„I. Gemäß § 28 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG wird aufgrund der Beschwerde festgestellt, dass der gegenständliche Widerruf der Bewilligung zum Betrieb des Kindergartens nicht rechtmäßig war.“

5        Weiters sprach es aus, dass die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei (II).

6        Begründend führte das Verwaltungsgericht im Verkündungsprotokoll zusammengefasst aus, es könne festgestellt werden, dass zum Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichtes der Kindergarten den Vorgaben einer elementarpädagogischen Bildungseinrichtung entspreche und die für den Widerruf maßgeblichen [seinerzeitigen] Mängel weggefallen seien. Aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Z 2 und 3 WKGG sei abzuleiten, dass nicht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des Widerrufsbescheides maßgeblich sei, sondern es auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ankomme. Die Voraussetzungen für den Widerruf des Betriebes müssten sowohl im Zeitpunkt der Erlassung der behördlichen Entscheidung als auch im Zeitpunkt der Erlassung der Beschwerdeentscheidung gegeben sein. Falle während des Verfahrens eine dieser Voraussetzungen weg, so sei ein „vergangenheitsbezogener Feststellungsbescheid“ zu erlassen. Der angefochtene Bescheid sei weder mit formeller noch inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, doch sei ihm durch die zwischenzeitliche Veränderung im Kindergarten die Grundlage entzogen.

7        Mit Beschluss vom 12. September 2019 berichtigte das Verwaltungsgericht das Erkenntnis vom 10. September 2019 dahingehend, dass dessen Spruchpunkt I. zu lauten habe:

„Gemäß § 28 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG wird festgestellt, dass der gegenständliche Widerruf zum Betrieb eines Kindergartens zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde rechtmäßig war. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.“

8        Mit Erkenntnis vom 5. November 2020, Ra 2020/10/0060, wurde dieser Berichtigungsbeschluss vom 12. September 2019 gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

9        Das nunmehr mit Revision angefochtene Erkenntnis vom 9. April 2020 stellt aus Sicht des Verwaltungsgerichts die schriftliche Ausfertigung des eingangs erwähnten, am 10. September 2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses, und zwar unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Berichtigungsbeschlusses vom 12. September 2019 dar. Der Spruch dieser Ausfertigung lautet wie folgt:

„Gemäß § 28 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG wird festgestellt, dass der gegenständliche Widerruf zum Betrieb eines Kindergartens zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde rechtmäßig war. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.“ (Spruchpunkt I.)

10       Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.), berichtigte diesen Spruchpunkt in der Folge aber dahin, dass die Revision zulässig ist.

11       Das Verwaltungsgericht führte darin begründend wie bereits im Berichtigungsbeschluss vom 12. September 2019 aus, dass nicht nur die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des Widerrufsbescheides zu beurteilen sei, sondern es für die Beurteilung der anzuwendenden Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ankomme. Der Verstoß gegen Normen, die zur Verwirklichung eines Widerrufsgrundes nach § 11 Abs. 1 WKGG führe, müsse daher sowohl im Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde als auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bestehen, sodass bei einem nachträglichen Wegfall eines Widerrufsgrundes selbst nach Ablauf der behördlich eingeräumten Frist, oder in dem Fall, in dem sich erst aufgrund späteren Wissensstandes erweise, dass es an einer Voraussetzung für die Maßnahme fehle, ein vergangenheitsbezogener Feststellungsbescheid zu erlassen sei.

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - die mitbeteiligte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13       Die Revision ist u.a. deshalb zulässig, weil - wie in der Revision aufgezeigt - noch keine Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs über die Auslegung des § 11 Abs. 1 WKGG vorliegt, ob das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung an die im angefochtenen Bescheid herangezogenen Widerrufsgründe gebunden ist oder es eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen gemäß § 11 Abs. 1 WKGG vorzunehmen hat.

14       Im Fall einer zulässigen Revision ist der Verwaltungsgerichtshof nicht auf die in der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen beschränkt (vgl. VwGH 19.4.2018, Ra 2017/15/0075, mwN).

15       Mit dem bereits erwähnten Erkenntnis vom 5. November 2020, Ra 2020/10/0060, hat der Verwaltungsgerichtshof den Berichtigungsbeschluss vom 12. September 2019, dessen Spruchpunkt I. gleichlautend mit dem angefochtenen ersten Spruchpunkt der verfahrensgegenständlichen schriftlichen Ausfertigung ist, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben und ausgeführt, dass durch diesen Berichtigungsbeschluss eine Veränderung des normativen Gehalts des früheren - mündlich verkündeten - Erkenntnisses erfolgt sei. Im mündlich verkündeten Erkenntnis sei nämlich festgestellt worden, dass der Widerruf der Bewilligung zum Betrieb des Kindergartens nicht rechtmäßig gewesen sei. „Damit wurde der Widerruf der Bewilligung ex tunc für rechtswidrig erklärt. Im Berichtigungsbeschluss wurde demgegenüber - gegenteilig - festgestellt, dass der gegenständliche Widerruf zum Betrieb des Kindergartens zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde rechtmäßig gewesen sei; im Übrigen wurde der Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid - mit Wirkung ex nunc - behoben.“

Nichts Anderes gilt im vorliegenden Revisionsfall:

16       Nach der Aufhebung des Berichtigungsbeschlusses vom 12. September 2019 durch das hg. Erkenntnis Ra 2020/10/0060 ist die angefochtene schriftliche Ausfertigung anhand des am 10. September 2019 mündlich verkündeten Spruches und nicht nach dem Berichtigungsbeschluss zu beurteilen, da die Aufhebung dieses Berichtigungsbeschlusses gemäß § 42 Abs. 3 VwGG „ex tunc“ wirkt.

17       Da das Verwaltungsgericht mit der angefochtenen schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses daher vom mündlich verkündeten Spruch des Erkenntnisses vom 10. September 2019 abweicht und der schriftlichen Ausfertigung einen anderen normativen Inhalt verliehen hat (vgl. zu dieser Beurteilung abermals die Begründung des Erkenntnisses vom 5. November 2020, Ra 2020/10/0060, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird), liegt schon wegen des Verstoßes gegen das Prinzip der Unwiederholbarkeit und Unabänderlichkeit (res iudicata) eine Rechtswidrigkeit des Inhaltes vor (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558, mwN).

18       Das angefochtene Erkenntnis war daher - aufgrund des inneren Zusammenhangs der beiden Spruchinhalte des ersten Spruchpunktes (vgl. VwGH 18.6.2020, Ra 2019/10/0080, mwN), ungeachtet der eingeschränkten Anfechtung durch den Revisionswerber (vgl. dazu VwGH 20.9.2017, Ra 2016/11/0169), - zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben. Eine Trennbarkeit der beiden Sätze des Spruchpunktes I. des angefochtenen Erkenntnisses vom 9. April 2020 scheidet schon deshalb aus, weil (unter Berücksichtigung des Spruches des Bescheides vom 29. Oktober 2018) die Reichweite der Wortfolge „Im Übrigen“ gänzlich unklar bleibt und damit jedenfalls dieser Spruchteil keinen eigenständigen Bestand haben kann.

19       Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG abgesehen werden. Den Erfordernissen des Art. 6 Abs. 1 EMRK und des Art. 47 GRC wurde durch die Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Genüge getan.

20       Gemäß § 47 Abs. 4 VwGG besteht in dem hier vorliegenden Fall einer Amtsrevision gemäß Art. 133 Abs. 6 Z 2 B-VG kein Anspruch auf Aufwandersatz, weshalb der diesbezügliche Antrag abzuweisen war (vgl. VwGH 26.2.2019, Ra 2018/02/0116).

Wien, am 11. November 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RO2020100036.J00

Im RIS seit

15.12.2022

Zuletzt aktualisiert am

15.12.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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