TE OGH 2022/10/18 10ObS44/22a

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Veröffentlicht am 18.10.2022
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Claudia Biegler, MA (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*, Ungarn, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Lackner & Hausmann Rechtsanwälte OG in Eisenstadt, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. August 2021, GZ 10 Rs 47/21m-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 20. Jänner 2021, GZ 24 Cgs 117/20a-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird von Amts wegen fortgesetzt.

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

[1]       Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Klägerin als Bezieherin einer Leistung nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG) zu deren Rückersatz auch dann verpflichtet werden kann, wenn die Auszahlung der Leistung aufgrund eines Irrtums des Trägers der Krankenversicherung erfolgte, ohne dass der Klägerin die Unrechtmäßigkeit des Bezugs erkennbar sein musste.

[2]       Die Klägerin stand seit 21. 1. 2016 als Arbeiterin in einem der vollen Sozialversicherungspflicht nach den österreichischen Rechtsvorschriften unterliegenden Dienstverhältnis und war auf Grundlage dieser Beschäftigung in der Zeit von 21. 1. 2016 bis 20. 12. 2017 nach den österreichischen Rechtsvorschriften zur Sozialversicherung gemeldet.

[3]       Im Zeitraum von 21. 12. 2017 bis 12. 4. 2018 galt für die Klägerin anlässlich der Geburt ihres Kindes am 9. 2. 2018 ein Beschäftigungsverbot nach dem Mutterschutzgesetz; die Klägerin bezog Wochengeld.

[4]       Für den Zeitraum von 13. 4. 2018 bis 27. 4. 2018 meldete die Dienstgeberin hinsichtlich der Klägerin den Bezug von „Urlaubsabfindung, Urlaubsentschädigung“ an die Sozialversicherung.

[5]       Nach der Geburt beantragte die Klägerin am 9. 7. 2018 die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante „365 Tage ab Geburt des Kindes“ für den Zeitraum ab der Geburt bis zur höchstmöglichen Bezugsdauer. Zusammen mit diesem Antrag legte die Klägerin auch eine Karenzvereinbarung vom 27. 2. 2018 und ein als „Kündigung des Arbeitsverhältnisses“ bezeichnetes Schreiben vom 6. 4. 2018 vor.

Die Karenzvereinbarung vom 27. 2. 2018 lautet auszugsweise:

Vereinbarung über den Karenzurlaub der Mutter

Entbindungstag:          09.02.2018

Mutterschutz bis: (8 bzw 12 Wochen nach Geburt) 06.04.2018

Karenzurlaub:

Hiermit wird einvernehmlich zwischen dem Dienstgeber […] und der Dienstnehmerin […] die Dauer des Karenzurlaubs wie folg [sic] vereinbart:

Beginn der Karenz:          07.04.2018

Ende der Karenz:          08.02.2020“

Das Schreiben vom 6. 4. 2018 lautet auszugsweise:

Kündigung des Arbeitsverhältnisses

Sehr geehrte Frau [Klägerin]!

Hiermit wird das Dienstverhältnis, beschäftigt seit 21.01.2016,

? einvernehmlich

? durch Zeitablauf (befristet bis: __________)

? durch den Dienstgeber [handschriftlich:] wegen Karenzierung

? durch den Dienstnehmer

per 06.04.2018 gekündigt.“

[6]       Aufgrund des Antrags der Klägerin vom 9. 7. 2018 stellte die Rechtsvorgängerin der nun beklagten Österreichischen Gesundheitskasse, die Burgenländische Gebietskrankenkasse, am  6. 5. 2019 eine Leistungsmitteilung gemäß § 27 Abs 1 KBGG aus, in der die Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld von 13. 4. 2018 bis 31. 12. 2018 mit 23,99 EUR pro Tag bemessen wurde.

[7]       Mit Bescheid vom 17. 7. 2020 widerrief die Beklagte die Gewährung des Kinderbetreuungsgelds und verpflichtete die Klägerin zur Rückzahlung von 6.309,37 EUR.

[8]       Die Klägerin begehrt erkennbar die Feststellung, dass der Rückforderungsanspruch nicht zu Recht bestehe.

[9]            Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete zusammengefasst ein, dass sich aus der Gesamtabwägung aller Umstände ergeben habe, dass aufgrund der Scheinkarenz keine der Beschäftigung gleichgestellte Situation iSd VO (EG) 883/2004 gegeben sei, weshalb kein grenzüberschreitendes Element zu Österreich vorliege und ausschließlich Ungarn für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum für die Gewährung von Familienleistungen zuständig sei. In Österreich bestehe demgegenüber kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, weil die Klägerin mit ihrer Familie nicht in Österreich lebe und auch keine Erwerbstätigkeit in Österreich vorliege. Die Vereinbarung vom 27. 2. 2018 stelle keine Karenzvereinbarung dar, weil bereits für den Zeitraum von 13. 4. 2018 bis 27. 4. 2018 eine Urlaubsentschädigung an die Klägerin ausgezahlt worden sei. Anhand der vorgelegten Vereinbarungen, der Urlaubsentschädigung und auch der Erklärungen der Klägerin sei ersichtlich, dass sie nach der gesetzlichen Karenzzeit keine Rückkehr zu ihrem Arbeitsplatz geplant bzw gewusst habe, dass das Dienstverhältnis einvernehmlich aufgelöst worden sei. Die bloße Aufrechterhaltung eines Dienstverhältnisses durch die Vereinbarung einer Karenz, jedoch ohne die Absicht, die zuvor ausgeübte Beschäftigung wieder aufzunehmen, könne aber keinerlei Wirkung entfalten.

[10]           Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Rechtlich ging es davon aus, dass die Beklagte nur den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 KBGG geltend mache, woran es gebunden sei. Danach sei der Leistungsempfänger auch dann zur Rückzahlung verpflichtet, wenn der zugrunde liegende Fehler für den Leistungsempfänger gar nicht erkennbar gewesen sei. Eine so weitgehende Überwälzung des Risikos selbst nicht erkennbarer Behördenfehler allein und einseitig auf den Leistungsempfänger sei sachlich nicht zu rechtfertigen. Der Tatbestand konkretisiere auch nicht, welcher Gestalt ein „Irrtum“ sein müsse, um eine Rückzahlungsverpflichtung zu begründen. Zur Vermeidung eines ansonsten verfassungswidrigen Ergebnisses sei es angezeigt, diesen Rückforderungstatbestand einschränkend in dem Sinn auszulegen, dass nicht jede beliebige Neubewertung der bereits ursprünglich bekannten Umstände eine Grundlage für eine Rückforderung bieten könne. Ein Eingehen auf die Gebührlichkeit der der Klägerin gewährten Leistung im Lichte der von der Beklagten behaupteten „Scheinkarenz“ erübrige sich daher.

[11]           Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es würden weder Umstände vorliegen, die bei Gewährung schon verwirklicht, jedoch nicht bekannt gewesen seien (nova reperta) und daher nicht berücksichtigt werden hätten können, noch solche, die erst nach der Gewährung des Anspruchs entstanden seien (nova producta). Der Rückforderung ausschließlich wegen eines Behördenfehlers oder eines Irrtums der Behörde, ohne dass sich ein Sachverhaltselement nachträglich als nicht vorliegend herausgestellt oder geändert hätte, und ohne dass der Klägerin deswegen ein Vorwurf zu machen sei (ein solcher sei dem festgestellten Sachverhalt nicht zu entnehmen), sei aus den dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenzutreten. Da der angezogene Rückforderungstatbestand nicht als erfüllt anzusehen sei, erübrige es sich auf den – den Grund des Anspruchs auf Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld betreffenden – sekundären Verfahrensmangel einzugehen, den die beklagte Partei geltend gemacht habe.

[12]     Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage der verfassungskonformen Auslegung der Bestimmung des § 31 Abs 2 Fall 2 KBGG vorliege.

[13]           Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinn, verbunden mit dem Ausspruch einer Verpflichtung der Klägerin zum Rückersatz von 6.309,37 EUR.

[14]     Die Klägerin hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

In der Sache wurde erwogen:

Rechtliche Beurteilung

[15]           1.1. Der Oberste Gerichtshof hat mit seinem Beschluss vom 20. 4. 2022, 10 ObS 44/22a, die Revision für zulässig angesehen und die Rechtsansicht der Vorinstanzen, wonach der geltend gemachte Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG bei irrtümlicher Auszahlung durch den Krankenversicherungsträger ohne Verschulden des Leistungsempfängers und ohne Sachverhaltsänderung nicht anzuwenden sei, nicht geteilt. Aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken gegen diesen Rückforderungstatbestand stellte der Oberste Gerichtshof jedoch beim Verfassungsgerichtshof gemäß Art 89 Abs 2 B-VG den Antrag, den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG als verfassungswidrig aufzuheben. Mit der Fortführung des Revisionsverfahrens wurde gemäß § 62 Abs 3 VfGG bis zur Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs innegehalten.

[16]           1.2. Unter anderem aufgrund dieses Antrags hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 28. 9. 2022, GZ G 181/2022-11, G 203/2021-10, G 232/2022-4, die Wortfolge „oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte,“ in § 31 Abs 2 KBGG als verfassungswidrig auf. Weiters wurde ausgesprochen, dass die Aufhebung mit Ablauf des 31. 10. 2023 in Kraft tritt und frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten.

[17]           1.3. Auch wenn der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen hat, dass die Aufhebung erst mit Ablauf des 31. 10. 2023 in Kraft tritt, ist die aufgehobene Norm doch auf den vorliegenden „Anlassfall“ nicht anzuwenden (Art 140 Abs 7 B-VG). Dieser Anlassfall ist daher so zu entscheiden, als ob die aufgehobene Bestimmung im maßgeblichen Zeitpunkt dem Rechtsbestand nicht angehört hätte (RIS-Justiz RS0054005; VfGH B 581/03 VfSlg 17.470/2005; Grabenwarter/Frank, B-VG Art 140 Rz 67), sodass der Rückforderungstatbestand der irrtümlichen Auszahlung nach § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG hier nicht mehr anzuwenden ist.

[18]           2.1. Obwohl der Rückzahlungspflichtige im Verfahren vor dem Sozialgericht formell als Kläger aufzutreten und ein negatives Feststellungsbegehren zu stellen hat, kommt die materielle Klägerrolle dem beklagten Versicherungsträger zu, der bereits erbrachte Leistungen zurückfordert. Der beklagte Versicherungsträger hat die einen Rückforderungsanspruch begründenden Tatsachen zu behaupten und zu beweisen (10 ObS 80/16m SSV-NF 30/74 [Pkt 3.1]; 10 ObS 116/14b SSV-NF 29/63 [Pkt 3.1.]). Wird das Rückforderungsbegehren ausdrücklich auf einen bestimmten Rechtsgrund gestützt, so ist das Gericht daran gebunden und darf dem Begehren nicht aus einem anderen Rechtsgrund stattgeben (RS0086067).

[19]           2.2. Die Beklagte stützte ihr Rückzahlungsbegehren nach Erörterung durch das Erstgericht ausdrücklich auf eine irrtümlich erfolgte Auszahlung, sodass bereits die Vorinstanzen ihre Prüfung auf den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG beschränkten; das Berufungsgericht sah das über diesen Rückforderungstatbestand hinausgehende Berufungsvorbringen überdies – in der Revision unbekämpft – aufgrund Verstoßes gegen das Neuerungsverbot als unbeachtlich an. Auch dem Obersten Gerichtshof ist eine Prüfung allfälliger anderer Rückforderungsgründe verwehrt.

[20]           2.3. Die Behauptung einer irrtümlichen Auszahlung des Kinderbetreuungsgelds an die Klägerin vermag den von der Beklagten geltend gemachten Rückforderungsanspruch mangels Anwendbarkeit des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG nicht (mehr) schlüssig zu begründen, sodass die in der Revision begehrte Abweisung des Klagebegehrens unter Auferlegung einer Rückersatzpflicht der Klägerin darauf nicht gestützt werden kann.

[21]           3. Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (RS0037300 [T46]). Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten (9 ObA 95/21t [Pkt 6.]; 9 ObA 59/21y; 8 ObA 33/19i; 9 ObA 63/19h). Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten (RS0037300 [T26]).

[22]           Das bedeutet, dass der Beklagten, die sich in erster Instanz – nach damaliger Rechtslage schlüssig und für die Gerichte bindend – auf einen nicht mehr anzuwendenden Rückforderungstatbestand berief, Gelegenheit zu geben ist, den von ihr geltend gemachten Rückforderungsanspruch schlüssig darzulegen.

[23]           4.1. Der Revision der Beklagten ist daher Folge zu geben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[24]     4.2. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, weil Kosten nicht verzeichnet wurden.

Textnummer

E136592

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00044.22A.1018.000

Im RIS seit

07.12.2022

Zuletzt aktualisiert am

07.12.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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