TE Vwgh Erkenntnis 2022/11/9 Ra 2022/01/0152

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.11.2022
beobachten
merken

Index

Auswertung in Arbeit!

Norm

Auswertung in Arbeit!

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Fasching sowie Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Röder, über die Revision des H A in W, vertreten durch Mag.a Astrid A. Haider, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Gluckgasse 1/8, als Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. April 2022, Zl. W225 2206701-1/25E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seines angefochtenen Spruchpunktes A) I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 13. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst mit einer Verfolgung durch die Taliban im Hinblick auf die vor der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan ausgeübte berufliche Tätigkeit seines Vaters für die gestürzte Regierung, und zwar als mit ehemals höchsten Vertretern des Staates bekannter Journalist einer staatlichen Agentur, begründete.

2        Mit Bescheid vom 28. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt (IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).

3        Die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis ab (Spruchpunkt A I.), erkannte dem Revisionswerber jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A III.) und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

4        Begründend führte das Verwaltungsgericht - soweit hier wesentlich - aus, der Revisionswerber werde im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung verfolgt werden. Beweiswürdigend begründete das Verwaltungsgericht diese Feststellung in Bezug auf das Fluchtvorbringen, wonach der Revisionswerber aufgrund der journalistischen Tätigkeit seines Vaters durch Mitglieder der Taliban bedroht worden sei, mit der aus verschiedenen im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegten Widersprüchen in den Aussagen des Revisionswerbers abgeleiteten fehlenden „Glaubhaftigkeit und Authentizität“ des Revisionswerbers. Daraus schloss das Verwaltungsgericht, dass der Revisionswerber in Afghanistan keiner individuellen Bedrohung ausgesetzt gewesen sei. Zwar habe der Revisionswerber „zum Nachweis der journalistischen Tätigkeit seines Vaters ein Konvolut an Fotos und Kopien von Ausweisen seines Vaters“ vorgelegt, jedoch sei im Verfahren nicht hervorgekommen, dass dem Revisionswerber „selbst bei einer Wahrunterstellung der beruflichen Tätigkeit seines Vaters (Journalist), eine Verfolgungsgefahr drohen könnte“. Selbst wenn der Revisionswerber „aufgrund des beruflichen Werdegangs seines Vaters ein erhöhtes Risikoprofil aufweisen würde“, sei anzumerken, „dass das bloße Erfüllen eines Risikoprofils noch nicht dazu“ führe, „dass alleine daraus eine aktuelle und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bestehende Gefahr einer Verfolgungshandlung abzuleiten wäre (siehe auch EASO, 2.7. Journalists, media workers and human rights defenders)“. Zudem sei der Vater des Revisionswerbers „nicht am Kampf gegen die Taliban beteiligt“ gewesen und wäre der Revisionswerber „bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht als Sohn eines ehemaligen Journalisten erkennbar“.

5        Gegen Spruchpunkt A I. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung erstattete die belangte Behörde nicht - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6        Die Revision ist in Bezug auf die zu ihrer Zulässigkeit in Zusammenhang mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zur aktuellen Verfolgungsgefahr als Sohn eines für die von den Taliban gestürzte Regierung tätigen Journalisten geltend gemachten Begründungsmängel zulässig und berechtigt.

7        Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht. Dem Vorbringen des Asylwerbers kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Es muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen (vgl. zu alldem VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, mwN).

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0083, Rn. 8, mwN; 2.6.2022, Ra 2021/01/0419, Rn. 7).

9        Das Verwaltungsgericht hat sich zwar mit dem Vorbringen des Revisionswerbers, wonach er in Afghanistan auf Grund der journalistischen Tätigkeit seines Vaters durch Mitglieder der Taliban bedroht worden sei, auseinandergesetzt und dieses Fluchtvorbringen mit näherer beweiswürdigender Begründung für unglaubwürdig erachtet. Das weitere Vorbringen des Revisionswerbers im Beschwerdeverfahren, dass ihm nach der Machtergreifung der Taliban eine asylrelevante Verfolgungsgefahr bereits als Sohn eines wichtigen und bekannten Medienvertreters der gestürzten Regierung mit Kontakten zu den damals höchsten Vertretern des Staates drohe, hat das Verwaltungsgericht jedoch nicht behandelt. Das Verwaltungsgericht traf keine Feststellungen, ob der Vater des Revisionswerbers vor der Machtergreifung der Taliban als Journalist für eine staatliche Agentur der gestürzten Regierung tätig gewesen sei, und - sollte er eine solche Tätigkeit ausgeübt haben - keine Feststellungen über dessen Bekanntheit und Bedeutung als Medienvertreter der abgesetzten Regierung, obwohl das Verwaltungsgericht zur Lage in Afghanistan nicht nur gezielte Tötungen von wichtigen Journalisten und Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben, feststellte (vgl. Seite 11 des angefochtenen Erkenntnisses), sondern auch die Bedrohung deren Angehöriger (vgl. Seiten 13 und 37 des angefochtenen Erkenntnisses).

10       Ebenso zeigt die Revision zu Recht auf, dass sich das Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit dem Vorbringen des Revisionswerbers, sein Vater sei von den Taliban bereits vor deren Machtergreifung am Kopf verletzt worden, nur mit dem dazu vom Revisionswerber vorgelegten Lichtbild auseinandergesetzt habe, nicht jedoch auch mit den vom Revisionswerber zu diesem Lichtbild vorgelegten schriftlichen Stellungnahmen (von nach dem Vorbringen des Revisionswerbers Journalistenkollegen) im Internet.

11       Der Alternativbegründung des Verwaltungsgerichts, dass selbst bei „Wahrunterstellung“ der beruflichen Tätigkeit des Vaters als Journalist eine dem Revisionswerber drohende Verfolgungsgefahr nicht hervorgekommen sei, hält die Revision zu Recht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei einer „Wahrunterstellung“ vom gesamten Vorbringen des Revisionswerbers auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 26.1.2021, Ra 2020/14/0122, Rn. 15, mwN).

12       Diesem Erfordernis hat das Verwaltungsgericht insofern nicht entsprochen, als sich das nach der Machtergreifung der Taliban im Beschwerdeverfahren ergänzte Vorbringen des Revisionswerbers nicht bloß auf die Verfolgungsgefahr als Sohn eines vor der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan tätig gewesenen Journalisten bezog, sondern vielmehr auf eine berufliche Tätigkeit des Vaters für die gestürzte Regierung als Journalist bei einer staatlichen Agentur, die Bekanntheit des Vaters als Journalist mit Beziehungen zu höchsten ehemaligen Regierungskreisen sowie eine körperliche Misshandlung des Vaters durch Taliban bereits vor deren Machtergreifung. Diesem Fluchtvorbringen zu einem erhöhten Risikoprofil kann im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht getroffenen Länderfeststellungen über gezielte Tötungen von wichtigen Journalisten und Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (vgl. Seite 11 des angefochtenen Erkenntnisses), und die Bedrohung deren Angehöriger (vgl. Seiten 13 und 37 des angefochtenen Erkenntnisses) nicht von vornherein jegliche Asylrelevanz abgesprochen werden.

13       Soweit die Revision einen Begründungsmangel im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung des Revisionswerbers erblickt, steht dem erstmals in der Revision erstatteten Vorbringen einer wohlbegründeten Furcht vor asylrelevanter Verfolgung maßgeblich auch auf Grund des psychischen Gesundheitszustandes des Revisionswerbers das im Verfahren vor dem Veraltungsgerichtshof geltende Neuerungsverbot (§ 41 erster Satz VwGG) entgegen (vgl. etwa VwGH 8.6.2021, Ra 2019/19/0190, Rn. 15, mwN).

14       Da das Verwaltungsgericht im Fall eines mängelfreien Verfahrens zu einem für den Revisionswerber günstigen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 9. November 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022010152.L00

Im RIS seit

02.12.2022

Zuletzt aktualisiert am

02.12.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten