Index
10/07 Verfassungs- und VerwaltungsgerichtsbarkeitNorm
B-VG Art140 Abs1 Z1 litdLeitsatz
Zurückweisung eines Parteiantrags gegen Bestimmungen der StPO und des StGB; Anfechtungsumfang zu eng; fehlende Bestimmtheit des AntragsSpruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
Begründung
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B-VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller
"in §16 Abs1 StGB das Wort 'freiwillig'";
"in §45 Abs1 zweiter Satz StPO die Wörter: 'Über einen während einer Verhandlung im Haupt- oder Rechtsmittelverfahren gestellten Antrag auf Ablehnung eines Richters hat das erkennende Gericht zu entscheiden.'" und
in "§238 Abs2 StPO die Wörter: 'Nach Abs1 ist auch vorzugehen, wenn von den Beteiligten des Verfahrens in der Hauptverhandlung sonst gegensätzliche Anträge gestellt werden oder der Vorsitzende einem unbestrittenen Antrag eines Beteiligten nicht Folge zu geben gedenkt.'"
als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
1. §16 des Bundesgesetzes vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB), BGBl 60/1974, lautet (die Wörter "freiwillig" sind hervorgehoben):
"Rücktritt vom Versuch
§16. (1) Der Täter wird wegen des Versuches oder der Beteiligung daran nicht bestraft, wenn er freiwillig die Ausführung aufgibt oder, falls mehrere daran beteiligt sind, verhindert oder wenn er freiwillig den Erfolg abwendet.
(2) Der Täter wird auch straflos, wenn die Ausführung oder der Erfolg ohne sein Zutun unterbleibt, er sich jedoch in Unkenntnis dessen freiwillig und ernstlich bemüht, die Ausführung zu verhindern oder den Erfolg abzuwenden."
2. §45 Strafprozeßordnung 1975 (StPO), BGBl 631/1975, idF BGBl I 40/2009 und §238 StPO idF BGBl I 93/2007 lauten (die angefochtenen Wortfolgen sind hervorgehoben):
"Entscheidung über Ausschließung
§45. (1) Über die Ausschließung hat der Richter zu entscheiden, dem sie nach §44 Abs2 anzuzeigen ist, über die Ausschließung des Präsidenten, des Vizepräsidenten oder eines Mitglieds des Obersten Gerichtshofs jedoch der Oberste Gerichtshof in einem Dreiersenat. Über einen während einer Verhandlung im Haupt- oder Rechtsmittelverfahren gestellten Antrag auf Ablehnung eines Richters hat das erkennende Gericht zu entscheiden. Gleiches gilt, wenn der Antrag unmittelbar vor der Verhandlung gestellt wurde und eine rechtzeitige Entscheidung durch den Vorsteher oder Präsidenten nicht ohne ungebührliche Verzögerung der Verhandlung möglich ist. Eine Entscheidung in der Verhandlung kann längstens bis vor Beginn der Schlussvorträge aufgeschoben werden.
(2) Der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn er von einer Person eingebracht wurde, der er nicht zusteht. Im Übrigen ist in der Sache zu entscheiden. Wird auf Ausschließung erkannt, so ist der Richter oder das Gericht zu bezeichnen, dem die Sache übertragen wird; der ausgeschlossene Richter hat sich von diesem Zeitpunkt an bei sonstiger Nichtigkeit der Ausübung seines Amtes zu enthalten.
(3) Gegen einen Beschluss nach Abs2 steht ein selbstständiges Rechtsmittel nicht zu.
§238. (1) Über Beweisanträge (§55 Abs1 und 2), die in der Hauptverhandlung gestellt werden, entscheidet das Schöffengericht mit Beschluss (§40 Abs2 und §116 Abs4 Geo), soweit ihnen der Vorsitzende (§254) nicht Folge zu geben gedenkt.
(2) Nach Abs1 ist auch vorzugehen, wenn von den Beteiligten des Verfahrens in der Hauptverhandlung sonst gegensätzliche Anträge gestellt werden oder der Vorsitzende einem unbestrittenen Antrag eines Beteiligten nicht Folge zu geben gedenkt.
(3) Der Beschluss ist samt seinen Entscheidungsgründen sofort, jedenfalls jedoch vor Schluss der Verhandlung mündlich zu verkünden. Den Beteiligten steht ein selbständiges, die weitere Verhandlung hemmendes Rechtsmittel gegen ihn nicht zu (§86 Abs3)."
III. Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren
1. Der Antragsteller wurde mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Schöffengericht vom 24. Jänner 2022 wegen des Verbrechens des schweren Betruges gemäß §15 Abs1, §146, §147 Abs3 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zum Teil bedingt nachgesehen wurde (§43a Abs3 StGB).
2. Aus Anlass der gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 24. Jänner 2022 erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde stellte der Antragsteller unter einem den vorliegenden Gesetzesprüfungsantrag. Darin legt er seine Bedenken wie folgt dar:
2.1. In Bezug auf das angefochtenen Wort "freiwillig" in §16 Abs1 StGB sei im "Sinn sachgerechter Differenzierung" nicht erklärlich, warum Straffreiheit wegen Rücktritts vom Versuch gemäß §16 Abs1 StGB Freiwilligkeit erfordere, während dies beim Strafaufhebungsgrund der Tätigen Reue (§167 StGB) nicht verlangt werde.
2.2. Hinsichtlich der angefochtenen Passagen in §45 Abs1 und §238 Abs2 StPO verstoße es gegen Art6 iVm Art13 EMRK, wenn über einen während einer Verhandlung im Hauptverfahren gestellten Antrag auf Ablehnung eines Richters das erkennende Gericht zu entscheiden habe. Dies führe nämlich dazu, dass sich eine Person erst einem nicht iSv Art6 EMRK fairen Verfahren unterziehen müsse, bevor dieses "durch Betätigung der Resettaste der Kassation erst nachträglich auf den zumindest formalrechtlichen Status 'nicht geschehen' bzw 'rechtlich unbeachtlich' zurückgeführt" werde. Diese Rechtslage nehme zumindest faktisch das Recht auf wirksame Beschwerde iSv Art13 EMRK.
3. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie den erhobenen Bedenken wie folgt entgegentritt (ohne die Hervorhebungen im Original):
"[…] 2. Zur Zulässigkeit:
2.1. Zur Darlegung der Bedenken:
2.1.1. Gemäß §62 Abs1 zweiter Satz VfGG hat der Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit – in überprüfbarer Art– präzise ausgebreitet werden, daher dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Verfassungsbestimmung die bekämpfte Gesetzesstelle in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl zB VfSlg 11.150/1986, 11.888/1988, 13.710/1994, 13.851/1994, 14.802/1997). Es genügt dabei nicht, dass im Antrag behauptet wird, dass die bekämpften Gesetzesstellen gegen eine oder mehrere – wenn auch näher bezeichnete – Verfassungsbestimmung(en) verstoßen; vielmehr muss konkret dargelegt werden, aus welchen Gründen den bekämpften Normen die behauptete Verfassungswidrigkeit anzulasten ist. Begnügt sich ein Antrag damit, den Verstoß gegen Verfassungsgebote zu behaupten, unterlässt er aber konkrete Darlegungen, warum die bekämpften Regelungen im Einzelnen gegen die genannten Verfassungsbestimmungen verstoßen, so ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen (vgl dazu etwa VfGH 7.6.2021, G45/2021; 30.11.2021, G211/2021).
2.1.2. Der Antragsteller beantragt zunächst, das Wort 'freiwillig' in §16 Abs1 StGB als verfassungswidrig aufzuheben, verabsäumt es jedoch Gründe darzulegen, warum die angefochtene Bestimmung verfassungswidrig ist und gegen welche Verfassungsbestimmungen sie verstößt. Die behauptete Verfassungswidrigkeit wird ausschließlich anhand des vom Antragsteller behaupteten Sachverhalts dargelegt; (verfassungs-)rechtliche Erwägungen werden – abgesehen von der Erwähnung des 'Gleichheitsgrundsatzes' (siehe Seite 6 des Antrags) – nicht vorgebracht.
2.1.3. Der Antragsteller beantragt ferner die Aufhebung des zweiten Satzes in §45 Abs2 StPO und behauptet die Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK sowie des Rechts auf wirksame Beschwerde gemäß Art13 EMRK, führt hierzu jedoch weder schlüssig noch präzise aus, worin genau die Gründe für die Verfassungswidrigkeit liegen und inwiefern diese durch die beantragte Aufhebung der Bestimmungen beseitigt werden könnte; seine Ausführungen beschränken sich vielmehr auf rechts- und gesellschaftspolitische Argumente. In Bezug auf die Anfechtung des §238 Abs2 StPO wird lediglich vorgebracht, dass diese Bestimmung 'in Abgang der sie als lex specialis überlagernden Bestimmung von §45 Abs1 Satz 2 StPO zum Tragen' käme.
2.1.4. Somit fehlt es an einer Darlegung der Verfassungswidrigkeit 'im Einzelnen', wie es §62 Abs1 VfGG zwingend voraussetzt (vgl VfSlg 11.888/1988, 15.877/2000).
2.2. Zum Anfechtungsumfang:
2.2.1. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden. Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011, 20.154/2017). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, die für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (vgl VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014; 22.9.2021, G153/2021).
2.2.2 Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Gesetzesstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre (vgl VfSlg 16.279/2001, 19.413/2011, 20.082/2016; VfGH 19.6.2015, G211/2014; 7.10.2015, G444/2015), der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl zB VfSlg 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Gesetzesvorschrift dieser ein völlig veränderter, dem Gesetzgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (vgl VfSlg 18.839/2009, 19.841/2014, 19.972/2015, 20.102/2016).
2.2.3. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung erweist sich der vorliegende Antrag nach Ansicht der Bundesregierung aufgrund der unrichtigen Abgrenzung des Anfechtungsgegenstandes als unzulässig:
2.2.3.1. Der Antragsteller beantragt, das Wort 'freiwillig' in §16 Abs1 StGB aufzuheben. Nachdem das Wort 'freiwillig' in diesem Absatz zweimal vorkommt, ist zunächst unklar, auf welches der beiden Wörter sich der Antrag bezieht oder ob allenfalls beide Wörter gemeint sind.
2.2.3.2. Der Wegfall des Wortes bzw der Wörter 'freiwillig' in §16 Abs1 StGB würde bedeuten, dass jede, auch unfreiwillige Aufgabe der Ausführung der strafbaren Handlung durch den Täter, etwa weil Organe der Sicherheitsverwaltung oder andere Personen ihn daran hindern, zur Straflosigkeit führen würde. Dies würde der Ratio des §16 StGB diametral widersprechen: Mit der Institution des strafbefreienden Rücktritts vom Versuch soll dem Täter die Möglichkeit geboten werden, im strafbaren Versuchsstadium durch freiwillige Aufgabe seiner deliktischen Tätigkeit oder durch freiwillige Erfolgsabwendung Straffreiheit zu erlangen. Dies beruht primär auf der Überlegung, dass bei einem solchen Rücktritt eine Bestrafung weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen erforderlich ist, weil die Störung des Rechtsfriedens und der Bewährung des Rechts vom Täter selbst wieder beseitigt wurde (vgl Durl/Schütz in Leukauf/Steininger, StGB4 §16 Rz. 1, Bauer/Plöchl in Höpfel/Ratz, WK² StGB §16 Rz. 126). Freiwillig ist ein Rücktritt vom Versuch dabei nur, wenn dieser aus autonomen Motiven erfolgt (RIS-Justiz RS0089892) und solange der Täter eine seinem Tatplan entsprechende Tatvollendung für möglich hält und nicht als aussichtslos beurteilt (RIS-Justiz RS0089897 [T3]).
2.2.3.3. Der Wegfall des Erfordernisses der Freiwilligkeit in §16 StGB würde im Ergebnis dazu führen, dass jeglicher Versuch straflos wäre und lediglich die vollendete Tat strafbar bliebe. Dies würde — wie dargelegt — dem §16 StGB einen völlig veränderten, der Gesetzgebung überhaupt nicht mehr zusinnbaren Inhalt geben. Gleichzeitig würde er die in §15 StGB normierte Strafbarkeit des Versuchs, einen zentralen Eckpfeiler des Strafrechts, ad absurdum führen. Dass die begehrte Aufhebung 'überschießende Ergebnisse erzeugen kann' wird im Übrigen sogar vom Antragsteller eingeräumt (siehe Seite 6 des Antrags).
2.2.3.4. Bei Wegfall des §45 Abs1 zweiter Satz StPO würde der nachfolgende Satz in §45 Abs1 StPO, der sich durch die einleitenden Worte 'Gleiches gilt, wenn …' auf den hier angefochtenen zweiten Satz bezieht, sinnlos.
3. Die Bundesregierung ist daher der Auffassung, dass der Antrag zur Gänze unzulässig ist.
Vor diesem Hintergrund wird von einer Stellungnahme in der Sache Abstand genommen. […]"
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
Der Antrag ist nicht zulässig.
1.1. Zur Unzulässigkeit des Antrages, soweit er sich gegen §16 Abs1 StGB richtet:
Gemäß §15 Abs2 VfGG hat ein Antrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG ein bestimmtes Begehren zu enthalten. Zudem bestimmt §62 Abs1 VfGG, dass ein Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, begehren muss, dass entweder das Gesetz seinem ganzen Inhalt nach oder dass bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden. Die bekämpfte Gesetzesstelle muss demnach genau und eindeutig bezeichnet werden; es darf also nicht offenbleiben, welche Gesetzesvorschrift oder welcher Teil einer Vorschrift aufgehoben werden soll (zB VfSlg 11.888/1988, 12.062/1989, 12.263/1990, 14.040/1995, 14.634/1996). Fehlt ein solches Begehren, leidet die Anfechtung an einem nicht verbesserbaren inhaltlichen Mangel (vgl zu §15 Abs2 iVm §67 Abs1 VfGG VfGH 24.11.2017, G278/2017 ua).
Der Antragsteller begehrt, in §16 Abs1 StGB das Wort "freiwillig" aufzuheben. Diese Bestimmung enthält allerdings zweimal das Wort "freiwillig". Es bleibt somit unklar, welches der beiden Wörter der Antragsteller anficht. Dem Antrag fehlt es somit an einem bestimmten Begehren iSv §15 Abs2 iVm §62 Abs1 VfGG, weswegen er als unzulässig zurückzuweisen ist.
1.2. Zur Unzulässigkeit des Antrages, soweit er sich gegen §45 Abs1 zweiter Satz StPO richtet:
1.2.1. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011; VfGH 14.3.2017, G311/2016). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014).
Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Gesetzesstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre (VfSlg 16.279/2001, 19.413/2011; VfGH 19.6.2015, G211/2014; 7.10.2015, G444/2015; 10.10.2016, G662/2015), der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl zB VfSlg 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Gesetzesvorschrift dieser ein völlig veränderter, dem Gesetzgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (VfSlg 18.839/2009, 19.841/2014, 19.972/2015; VfGH 15.10.2016, G339/2015).
Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit in Prüfung zu ziehender Vorschriften ergibt sich ferner, dass ein Prozesshindernis auch dann vorliegt, wenn es auf Grund der Bindung an den gestellten Antrag zu einer in der Weise isolierten Aufhebung einer Bestimmung käme, dass Schwierigkeiten bezüglich der Anwendbarkeit der im Rechtsbestand verbleibenden Vorschriften entstünden, und zwar in der Weise, dass der Wegfall der angefochtenen (Teile einer) Gesetzesbestimmung den verbleibenden Rest unverständlich oder auch unanwendbar werden ließe. Letzteres liegt dann vor, wenn nicht mehr mit Bestimmtheit beurteilt werden könnte, ob ein der verbliebenen Vorschrift zu unterstellender Fall vorliegt (VfSlg 16.869/2003 mwN).
1.2.2. Der Antragsteller begehrt die Aufhebung lediglich des zweiten Satzes des §45 Abs1 StPO. Damit würde aber der dritte Satz der leg. cit. unverständlich werden, weil dieser mit "Gleiches gilt" beginnt und somit nach Aufhebung des angefochtenen zweiten Satzes der leg. cit. nicht mehr an diesen anschließen würde, sondern in sinnwidriger und dem Gesetzgeber nicht mehr zusinnbarer Weise an den ersten Satz der leg. cit. Der Antragsteller hätte daher – zumindest – auch den dritten Satz des §45 Abs1 StPO mitanfechten müssen.
Dazu kommt, dass sich die Bedenken des Antragstellers im Kern dagegen richten, dass eine Anfechtung eines Beschlusses iSv §45 Abs1 zweiter Satz StPO erst mit dem Rechtsmittel gegen das Urteil im Hauptverfahren möglich ist (vgl §281 Abs1 Z1 StPO). Die Bedenken des Antragstellers richten sich daher inhaltlich – zumindest auch – gegen §45 Abs3 StPO, wonach gegen eine Sachentscheidung über einen Antrag iSv §45 Abs1 zweiter Satz StPO (vgl Abs2 zweiter Satz leg. cit.) kein selbstständiges Rechtsmittel zusteht. §45 Abs3 StPO wurde vom Antragsteller aber nicht mitangefochten, weshalb sich die Anfechtung des §45 Abs1 zweiter Satz StPO auch aus diesem Grund als zu eng erweist.
Der Antrag ist daher, soweit er sich auf §45 Abs1 zweiter Satz StPO bezieht, ebenfalls als unzulässig zurückzuweisen.
1.3. Zur Unzulässigkeit des Antrages, soweit er sich gegen §238 Abs2 StPO richtet:
1.3.1. Der Antragsteller bringt vor, dass der angefochtene zweite Satz des §45 Abs1 StPO lex specialis zu §238 Abs2 StPO sei. Würde daher §45 Abs1 zweiter Satz StPO aufgehoben werden, käme §238 Abs2 StPO zur Anwendung. Diese Vorschrift sei somit ebenfalls "konventionswidrig".
1.3.2. Nach dem Vorbringen des Antragstellers besteht also zwischen §45 Abs1 zweiter Satz und §238 Abs2 StPO eine untrennbare Einheit. Da aber §45 Abs1 zweiter Satz StPO nicht in zulässiger Weise angefochten wurde, erübrigt es sich, auf die ebenfalls angefochtene Bestimmung des §238 Abs2 StPO einzugehen.
Abgesehen davon gilt sinngemäß das oben zu §45 Abs1 zweiter Satz StPO Gesagte auch hier, denn §238 Abs3 StPO bestimmt, dass den Beteiligten ein selbständiges, die weitere Verhandlung hemmendes Rechtsmittel gegen einen Beschluss gemäß §238 Abs2 StPO nicht zusteht. §238 Abs3 StPO wurde vom Antragsteller aber nicht mitangefochten.
Der Antrag ist sohin, auch soweit er sich auf §238 Abs2 StPO bezieht, als unzulässig zurückzuweisen.
V. Ergebnis
1. Der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen.
2. Dies konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Strafprozessrecht, Strafrecht, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / ParteiantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:G86.2022Zuletzt aktualisiert am
28.11.2022