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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander betreffend die Nichtzuerkennung des Asylstatus an eine Familie von Staatsangehörigen Afghanistans; mangelhafte Auseinandersetzung mit dem Parteivorbringen der minderjährigen Beschwerdeführerin betreffend die mangelnde Bildungsmöglichkeit sowie mit den LänderberichtenSpruch
I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz Nr BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin und des minderjährigen Viertbeschwerdeführers. Sie alle sind Staatsangehörige Afghanistans und stammen aus Jalalabad. Nach ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet stellten die Beschwerdeführer am 3. März 2020 Anträge auf internationalen Schutz, die sie in erster Linie mit der schlechten Sicherheitslage und der Bedrohung durch die Taliban begründeten. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vor, dass sie Analphabetin sei, in Afghanistan habe sie keine Schule besuchen dürfen und ihre Fluchtgründe würden auch für ihre Kinder gelten.
2. Mit Bescheiden vom 26. und 27. August 2020 wies das BFA die Anträge auf internationalen Schutz jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte den Beschwerdeführern aber gemäß §8 Abs1 iVm §34 Abs3 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte zugleich befristete Aufenthaltsberechtigungen gemäß §8 Abs4 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.).
3. Die jeweils gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung mündlicher Verhandlungen mit Erkenntnis vom 29. Oktober 2021 ab. Hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers begründet es seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Erstbeschwerdeführer die Bedrohung seitens der Taliban weder plausibel und schlüssig noch nachvollziehbar dargelegt habe. In Bezug auf die Zweitbeschwerdeführerin seien keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine "westlich orientierte" Lebensweise hervorgekommen. Betreffend die minderjährigen beschwerdeführenden Parteien stützt sich die Begründung des Erkenntnisses darauf, dass diese alleine auf Grund ihres Alters bzw vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität zu befürchten hätten. Dass es der Drittbeschwerdeführerin und dem Viertbeschwerdeführer in Afghanistan grundsätzlich nicht möglich wäre, künftig ein selbstständiges Leben mit Schulausbildung und außerhäuslicher Erwerbsarbeit sowie freier Lebensgestaltung (im Rahmen der islamischen Religion) zu führen, sei auch im Hinblick auf die Berichtslage nicht dargetan worden.
4. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Die Beschwerdeführer bringen im Wesentlichen vor, das Bundesverwaltungsgericht habe sich mit ihrem, vor dem Hintergrund der Länderberichte hinreichend substantiierten Parteivorbringen, insbesondere zur Lage der Kinder und Frauen, nicht ausreichend auseinandergesetzt.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
II. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Länderfeststellungen, soweit sie sich auf die fehlenden Bildungschancen für afghanische Mädchen beziehen, Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand vom 11. Juni 2021 und 16. September 2021 sowie einen Auszug zum Risikoprofil nach den UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 zugrunde.
2.2. In den vom Bundesverwaltungsgericht zitierten Quellen der Staatendokumentation heißt es: "In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen." Weiter heißt es zu der Situation der "Kinder nach der Machtübernahme durch die Taliban": "In der ersten Hälfte des Jahres 2021 machten Kinder 32% aller zivilen Opfer aus, darunter die höchste Zahl von Mädchen, die jemals von der UNAMA erfasst wurde." Zum Risikoprofil nach den UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 30. August 2018 heißt es: "Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles ist UNHCR der Auffassung, dass bei Kindern, die unter folgende Kategorien fallen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz bestehen kann: […] e) Kinder im Schulalter, insbesondere Mädchen".
2.3. In der Begründung des die minderjährigen, schulpflichtigen Kinder betreffenden Erkenntnisses setzt sich das Bundesverwaltungsgericht mit dem Vorbringen hinsichtlich der Bildungsmöglichkeiten in Afghanistan, insbesondere hinsichtlich der minderjährigen weiblichen Drittbeschwerdeführerin, nicht ausreichend auseinander. Das Bundesverwaltungsgericht lässt sowohl einschlägige Länderberichte außer Acht, denen zu entnehmen ist, dass den Mädchen der Zugang zu Bildung verwehrt sein kann, als auch die zu dieser asylrelevanten Frage ergangene Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg 19.646/2012; VfGH 5.6.2014, U2029/2013 ua; 23.2.2015, U218/2014 ua; 11.6.2015, E602/2015 ua; VfSlg 20.215/2017).
Insbesondere aber fehlt jede Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die im August 2021 erfolgte Übernahme der Regierungsmacht durch die Taliban die Gefahr mit sich gebracht hat, dass Mädchen ? so wie in vergangenen Jahren (vgl VfSlg 20.215/2017) – wieder am Schulbesuch gehindert werden. Da die Beschwerdeführer die Frage der Schulbildung ihrer Kinder insbesondere im Hinblick der Diskriminierung von Frauen schon im Verfahren vor dem BFA vorgebracht haben, wäre das Bundesverwaltungsgericht verpflichtet gewesen, sich mit dieser Frage ? und der sich aus der Übernahme der Regierungsmacht durch die Taliban insofern ergebenden Konsequenzen ? auseinanderzusetzen.
3. Sollte das Bundesverwaltungsgericht vermeinen, das Vorbringen des Erstbe-schwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sei nicht zu berücksichtigen, soweit diese es selbst nicht als asylrelevant erachteten, so ist auf die in §18 Abs1 AsylG 2005 normierte amtswegige Ermittlungspflicht hinzuweisen, die auch das Bundesverwaltungsgericht trifft (siehe zB VwGH 20.10.2015, Ra 2015/18/0082; 23.5.2017, Ra 2017/18/0028). Demnach hat es insbesondere darauf hinzuwirken, dass allenfalls lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt werden. Das gilt in besonderem Maße bei der Beurteilung des Vorbringens von Minderjährigen, unabhängig davon, ob sie selbst oder ihre gesetzlichen Vertreter einvernommen wurden (zu den strengen Anforderungen an die Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen vgl VfGH 11.10.2017, E1803/2017 ua mwN).
4. Indem das Bundesverwaltungsgericht eine nähere Auseinandersetzung mit dem vor dem Hintergrund einschlägiger Länderberichte hinreichend substantiierten Parteivorbringen vermissen lässt, hat es in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen und das Erkenntnis betreffend die Drittbeschwerdeführerin und den Viertbeschwerdeführer daher mit Willkür belastet. Dieser Mangel schlägt gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidungen betreffend den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durch (VfSlg 19.671/2012, 19.855/2014; VfGH 24.11.2016, E1085/2016 ua); daher sind auch diese aufzuheben.
III. Ergebnis
1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag von 20 vH des Pauschalsatzes, zuzusprechen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 enthalten.
Schlagworte
Asylrecht / Vulnerabilität, Kinder, Ermittlungsverfahren, EntscheidungsbegründungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E4335.2021Zuletzt aktualisiert am
29.11.2022