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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen Syriens; mangelhafte Auseinandersetzung mit der Situation des Beschwerdeführers als Wehrdienstpflichtiger im HerkunftsstaatSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 2000 geborener, syrischer Staatsangehöriger, welcher der Volksgruppe der Araber angehört und sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bekennt. Am 18. Juli 2021 stellte er im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid vom 2. Dezember 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
2. Die ausschließlich gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 18. März 2022 als unbegründet ab. Der Beschwerdeführer habe Syrien im Alter von 14 Jahren gemeinsam mit seiner Familie verlassen. Er habe im Zuge der Erstbefragung angegeben, dass er keine Waffen tragen wolle. Zur allgemeinen Wehrpflicht in Syrien und zu seiner Rückkehrsituation habe der Beschwerdeführer während der Einvernahme durch das BFA am 14. September 2021 allerdings nicht ansatzweise geltend gemacht, den Wehrdienst im Falle der Rückkehr und Einberufung tatsächlich zu verweigern.
Der Beschwerdeführer habe den verpflichtenden Wehrdienst in der syrischen Armee noch nicht abgeleistet, weshalb er in absehbarer Zeit nach seiner Rückkehr mit einem Einberufungsbefehl zu rechnen habe. Er werde nach seiner Rückkehr nach Syrien nicht als politisch missliebige Person angesehen und es seien keine Gründe ersichtlich, warum er hinsichtlich einer Einberufung zum Militär im Vergleich zu anderen syrischen Männern nachteilig behandelt werden würde. Es handle sich beim Militärdienst um eine Pflicht, die jeder Staat seinen Bürgern auferlegen könne.
3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der ua die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Der Beschwerdeführer bringt insbesondere vor, dass sich das Bundesverwaltungsgericht nicht mit dem für die Beweiswürdigung maßgeblichen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, nämlich der Gefahr der Einziehung zum Militärdienst bzw der sofortigen Festnahme durch das syrische Regime im Falle seiner Rückkehr zu unterliegen, auseinandergesetzt habe und auf Grund der Widersprüche in der rechtlichen Begründung eine mündliche Verhandlung durchzuführen gewesen wäre.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
II. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
Wie der Verfassungsgerichtshof weiter zu dem aus dem Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander folgenden Willkürverbot in Zusammenhalt mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot der Begründung gerichtlicher Entscheidungen ausgesprochen hat, müssen die für die angefochtene Entscheidung maßgeblichen Erwägungen aus ihrer Begründung hervorgehen, da nur auf diese Weise die rechtsstaatlich gebotene Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof möglich ist (vgl jeweils mwN VfSlg 20.267/2018; VfGH 22.6.2021, E1690/2021).
2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Das Bundesverwaltungsgericht gibt die im Bescheid des BFA abgedruckten Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 5. Oktober 2021 (im Folgenden: Länderinformationsblatt vom 5. Oktober 2021) wieder, obwohl zum Zeitpunkt der Entscheidung das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 24. Jänner 2022 (im Folgenden: Länderinformationsblatt vom 24. Jänner 2022) bereits zur Verfügung stand.
2.2. Auf Grundlage des Länderinformationsblattes vom 5. Oktober 2021 und den Akten des Verfahrens vor dem BFA geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Beschwerdeführer den verpflichtenden Wehrdienst in der syrischen Armee noch nicht abgeleistet habe, sodass er in absehbarer Zeit nach seiner Rückkehr mit einem Einberufungsbefehl zu rechnen habe. Es seien für das Bundesverwaltungsgericht keine Gründe ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Einberufung zum Militär im Vergleich zu anderen syrischen Männern nachteilig behandelt würde. Eine unterschiedliche Behandlung von syrischen Staatsangehörigen hinsichtlich der Einberufung und Ableistung des Militärdienstes lasse sich auch den festgestellten Länderinformationen nicht entnehmen. Es handle sich beim Militärdienst um eine Pflicht, die jeder Staat seinen Bürgern auferlegen könne.
2.3. Nach Art9 Abs2 lite der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: StatusRL), ABl. 2011 L 337, 9, müssen die Verfolgungshandlungen, denen derjenige, der gemäß dieser Bestimmung als Flüchtling anerkannt werden möchte, nach seinen Angaben ausgesetzt ist, aus seiner Verweigerung des Militärdienstes resultieren (EuGH 19.11.2020, Rs C-238/19, EZ, Rz 27).
Die Verweigerung des Wehrdienstes muss das einzige Mittel darstellen, das es dem Betroffenen erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von Art12 Abs2 lita StatusRL zu entgehen (vgl EuGH 26.2.2015, C-472/13, Shepherd, Rz 44).
2.4. In diesem Zusammenhang geht aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020, Rs C-238/19, EZ, unter anderem hervor, dass es "[…] allein den staatlichen Behörden [obliegt], unter gerichtlicher Kontrolle zu prüfen, ob die Ableistung des Militärdienstes durch den Antragsteller, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von Art9 Abs2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95[/EU] begehrt, diesen zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlassen würde, Verbrechen im Sinne von Art12 Abs2 dieser Richtlinie zu begehen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2015, Shepherd, C-472/13, EU:C:2015:117, Rn. 40)."
2.5. Dem Länderinformationsblatt vom 24. Jänner 2022 zufolge bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, als Mitglied der syrischen Armee an Kriegsverbrechen beteiligt zu werden (Länderinformationsblatt vom 24. Jänner 2022, S 51 f., 81):
"Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder in der syrisch-arabischen Luftwaffe dient, per Definition kategorisch zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen schmutzigen Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird (Üngör 15.12.2021). Die syrische Armee ist nicht so sehr in Menschenrechtsverletzungen verwickelt wie der Mukhabarat (Geheimdienst). Im Krieg kann es jedoch zu Massakern kommen, ein Pilot könnte eine Stadt und Zivilisten bombardieren, ein Viertel beschießen. Wenn man in der Armee dient, ist man im Dienst und muss gehorchen, man kann sich nicht weigern, die Stadt zu beschießen (Balanche 13.12.2021). Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, da das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee, Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (Khaddour 24.12.2021).
[…]
Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Jahr 2020 nicht verbessert. Willkürliche Inhaftierungen, gewaltsames Verschwindenlassen, Folter, sexuelle Gewalt und schwerwiegende Einschränkungen der bürgerlichen und politischen Rechte waren weiterhin weit verbreitet. Das syrische Regime war der Hauptverantwortliche für diese Verstöße, aber auch verbotene terroristische Organisationen und andere bewaffnete Gruppen haben Verstöße begangen (FCO 8.7.2021). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen, die möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen (HRW 13.1.2022).
[…]"
3. Das Bundesverwaltungsgericht, das sich keinen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer im Zuge einer mündlichen Verhandlung verschafft hat, unterlässt es in seiner Entscheidung, sich mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers als Wehrdienstpflichtiger in Syrien auseinanderzusetzen. Es trifft keine Feststellungen darüber, welche Auswirkungen eine Rückkehr des Beschwerdeführers als – wie das Bundesverwaltungsgericht selbst feststellt – Wehrpflichtiger und potentiell zukünftiges Mitglied der syrischen Armee vor dem Hintergrund des herrschenden Bürgerkrieges (vgl Länderinformationsblatt vom 24. Jänner 2022, S 51 f.) in Syrien zur Folge hätte. Aus der Entscheidung geht insbesondere nicht hervor, ob der Beschwerdeführer als Wehrpflichtiger der syrischen Armee Gefahr liefe, selbst an der Begehung von Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu werden.
4. Soweit das Bundesverwaltungsgericht keine Feststellungen im Hinblick auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers als Wehrdienstpflichtiger in Syrien getroffen hat, hat es jegliche Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und daher Willkür geübt (siehe nur VfSlg 20.267/2018).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.
4. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Schlagworte
Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung, Verhandlung mündlicheEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E1138.2022Zuletzt aktualisiert am
29.11.2022