TE Vfgh Erkenntnis 2022/9/19 E4318/2020

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Veröffentlicht am 19.09.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AVG §68 Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen Afghanistans wegen entschiedener Sache; Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Am 2. Dezember 2015 stellte er den ersten Antrag auf internationalen Schutz und brachte im Wesentlichen vor, dass er mit seiner Familie im Alter von drei Jahren von Afghanistan in den Iran gezogen sei. Im Iran sei die wirtschaftliche Lage schlecht gewesen. Seine Familie sei später mit dem Beschwerdeführer zurück nach Afghanistan gereist. Dort habe er studieren wollen. Nachdem die Sicherheitslage in Afghanistan schlecht gewesen sei, habe er das Land verlassen. Ferner sei er nicht streng religiöser Moslem und könne sich nicht vorstellen, in einem islamischen Land zu leben.

2. Mit Bescheid vom 9. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.

3. Mit Erkenntnis vom 22. Februar 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Gegen dieses Erkenntnis erhob der Beschwerdeführer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Mit Beschluss vom 12. Juni 2019 wurde die Behandlung der Beschwerde vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt. Zudem erhob der Beschwerdeführer gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes Revision beim Verwaltungsgerichtshof. Mit Beschluss vom 2. Dezember 2019 wurde die Revision vom Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen.

4. Am 26. Februar 2020 stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte darin im Wesentlichen vor, dass er bisexuell sei. Zudem sei er eine Zeit lang konfessionslos gewesen und nunmehr zum Christentum konvertiert. Er habe bei der ersten Einvernahme auf Grund der Anwesenheit von einigen Frauen inklusive seiner Freundin nicht angegeben, bisexuell zu sein. Bereits im Iran habe er eine Beziehung mit einem anderen Mann gehabt. Auch in Österreich habe er sexuelle Beziehungen mit Männern gehabt.

5. Mit mündlich verkündetem Bescheid des BFA vom 20. März 2020 wurde der faktische Abschiebeschutz des Beschwerdeführers gemäß §12a Abs2 AsylG 2005 aufgehoben. Mit Beschluss vom 25. März 2020 sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes rechtmäßig sei.

6. Mit Bescheid vom 30. September 2020 wies das BFA den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, setzte keine Frist zur freiwilligen Ausreise und erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot.

7. Mit Erkenntnis vom 27. Oktober 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Angaben zur homosexuellen Beziehung im Iran nur sehr oberflächlich gewesen seien und dass dieses Vorbringen bis zum zweiten Antrag nicht erwähnt worden sei. Auch das Vorbringen, dass der Beschwerdeführer vor einem Jahr zum Christentum konvertiert sei, sei unglaubwürdig, weil der Beschwerdeführer nicht getauft sei und noch keinen Taufvorbereitungskurs besucht habe. Zudem habe er den religiösen Hintergrund des Osterfestes nicht darstellen können.

8. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

9. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 und 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001 und 16.383/2001).

2. Ein solches willkürliches Verhalten ist dem Bundesverwaltungsgericht vorzuwerfen:

Das Bundesverwaltungsgericht hat es unterlassen, sich mit den vom Beschwerdeführer namhaft gemachten Beweismitteln auseinanderzusetzen. Dieser beantragte in seiner Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht die Einvernahme mehrerer Zeugen, die mit ihm sexuellen Kontakt gehabt hätten. Diese wurden aber vom Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung nicht einvernommen, dass der Beschwerdeführer die Einvernahme dieser Zeugen bereits im Verfahren vor den BFA hätte beantragen können, zumal er bereits zu diesem Zeitpunkt rechtsfreundlich vertreten worden sei. Zudem hat das Bundesverwaltungsgericht – trotz eines diesbezüglichen Antrages in der Beschwerde – keine mündliche Verhandlung durchgeführt, "weil der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint". Die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers begründet das Bundesverwaltungsgericht aber lediglich damit, dass dieser seine behauptete Bisexualität erst im Folgeantrag vorgebracht habe, nicht die Nachnamen der Zeugen habe angeben können und nur oberflächliche Angaben zu seiner angeblichen homosexuellen Beziehung im Iran gemacht habe. Für den Verfassungsgerichtshof ist angesichts dessen nicht nachvollziehbar, warum das Bundesverwaltungsgericht keine mündliche Verhandlung anberaumt und die beantragten Zeugen einvernommen hat (vgl VfGH 26.6.2020, E902/2020).

Damit hat es das Bundesverwaltungsgericht verabsäumt, in entscheidungswesentlichen Punkten ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren zu führen, weshalb das Erkenntnis schon deshalb mit Willkür behaftet ist.

2.1. Überdies hat das Bundesverwaltungsgericht sein Erkenntnis nicht ausreichend begründet. Darin wird hinsichtlich der vorgebrachten Bisexualität und großteils auch hinsichtlich der vorgebrachten Konversion lediglich der Bescheid des BFA zitiert. Auch im Rahmen der Beweiswürdigung wird im Wesentlichen auf das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes zum faktischen Abschiebeschutz verwiesen und das Ergebnis damit begründet, dass der Beschwerdeführer unglaubwürdig sei, weil er seine "Homosexualität" im Verfahren über den ersten Antrag nur deshalb nicht erwähnt habe, weil er geglaubt habe, dass sein ursprünglicher Fluchtgrund ausreiche, und er unwillens sei, die österreichische Rechtsordnung zur Kenntnis zu nehmen. Die beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur behaupteten Bisexualität des Beschwerdeführers beschränken sich ansonsten auf folgenden Verweis: "Schließlich verweist das Bundesverwaltungsgericht auf folgende – schlüssige – Beweiswürdigung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid" Auch in der rechtlichen Beurteilung beschränken sich die auf die behauptete Verfolgung des Beschwerdeführers bezogenen Ausführungen zum Spruchpunkt Asyl auf folgende Formulierungen: "Zum nunmehrigen Vorbringen des Beschwerdeführers im Rahmen des zweiten Asyl- bzw Beschwerdeverfahrens wird zudem auf die Beweiswürdigung verwiesen (vgl oben, II., 2.3. – 2.7.)."

Da somit eine ausreichende Auseinandersetzung zu den entscheidungsrelevanten Umständen fehlt, wird den nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes statuierten verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht entsprochen (vgl VfGH 26.11.2018, E2786/2018; 26.6.2019, E967/2019).

Die angefochtene Entscheidung ist daher mit Willkür belastet (vgl VfSlg 18.861/2009 mwN).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Abkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Verhandlung mündliche

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E4318.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.11.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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