TE Vfgh Erkenntnis 2022/9/19 E2406/2021

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Veröffentlicht am 19.09.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §19, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen des Iraks; mangelhafte Auseinandersetzung mit der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens der Homosexualität und den Länderberichten

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatangehöriger des Irak, gehört der Volksgruppe der Araber an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er stammt aus Bagdad und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Am 28. September 2015 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1. Begründend führte der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 21. Oktober 2015 zunächst aus, dass er von Schiiten verfolgt und bedroht worden sei.

1.2. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 20. März 2018 brachte der Beschwerdeführer vor, im Irak auf Grund seines weiblichen Aussehens schikaniert worden zu sein und sich im Jahr 2013 im Irak einer ärztlichen Hormonbehandlung unterzogen zu haben. Er sei homosexuell und habe eine Beziehung mit einem Mann geführt, weshalb er von seinem Vater bestraft und von seinem Arbeitgeber entlassen worden sei. Nachdem er einen Drohbrief erhalten habe, sei er aus dem Irak geflohen.

1.3. Der Beschwerdeführer befindet sich in urologischer Behandlung und leidet laut vorgelegtem Befund an beidseitigem Hypogonadismus und Hodenatrophie. Im Jänner 2018 wurde eine Hormonsubstitutionstherapie begonnen.

2. Mit Bescheid vom 3. Mai 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig sei. Ferner wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen gesetzt.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 18. Oktober 2019 und am 23. Oktober 2020 sowie nach Ersuchen an die Staatendokumentation um Beantwortung konkreter Fragen samt Verweis auf die nur allgemein gehaltenen Angaben des Länderinformationsblattes zur Lage homosexueller Personen – mit Erkenntnis vom 29. April 2021 als unbegründet ab.

3.1. Dem Beschwerdeführer sei nicht gelungen, eine asylrelevante Verfolgung hinsichtlich der in der Ersteinvernahme behaupteten Bedrohung durch die Schiiten glaubhaft zu machen, da er sich im Laufe des Verfahrens nur mehr auf seine angebliche Homosexualität bzw sein weibliches Aussehen berufen habe.

3.2. Zur Lage sexueller Minderheiten im Irak stellt das Bundesverwaltungsgericht unter anderem Folgendes fest:

"Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert werden, wird Homosexualität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. Homosexuelle leben ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sehen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung (AA 12.1.2019) und Gewalt (FH 4.3.2020), bis hin zu Ehrenmorden durch Familienangehörige (AA 12.1.2019; vgl USDOS 11.3.2020). Konfessionelle Milizen haben in den letzten Jahren wiederholt Mitglieder sexueller Minderheiten bedroht und verfolgt und werden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht (AA 12.1.2019). Angehörige sexueller Minderheiten sind häufig Misshandlungen und Gewalt durch staatliche und nicht-staatliche Akteure ausgesetzt, die von der Regierung nicht wirksam untersucht werden. Die Polizei wird mitunter eher als Bedrohung, denn als Schutz empfunden (AA 12.1.2019). Trotz wiederholter Drohungen und Gewalttaten gegen Angehörige sexueller Minderheiten versäumt es die Regierung, Angreifer zu identifizieren, festzunehmen oder strafrechtlich zu verfolgen bzw mögliche Opfer zu schützen (USDOS 11.3.2020). Staatliche Rückzugsorte für Angehörige sexueller Minderheiten gibt es nicht, die Anzahl privater Schutzinitiativen ist sehr beschränkt (AA 12.1.2019)."

3.3. Hinsichtlich der sexuellen Orientierung des Beschwerdeführers stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass dieser nicht homosexuell sei. Begründend wird ausgeführt, dass es nicht plausibel sei, dass der Beschwerdeführer, wäre er tatsächlich homosexuell, diesen Umstand nicht bereits im Rahmen der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erwähnt habe, sondern erst in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Vielmehr sei zu erwarten, dass ein Fremder, der internationalen Schutz beantrage, initiativ alle ihm wesentlich erscheinenden Fluchtgründe, die zu seiner Flucht geführt hätten, den Behörden mitteile und nicht wesentliche Fluchtgründe erst bei späteren Einvernahmen vorbringe. Es sei daher von einem "gesteigerten" Vorbringen auszugehen, dem es an Glaubwürdigkeit fehle.

3.4. Zudem stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass selbst bei Zutreffen des Vorbringens des Beschwerdeführers zu seiner Homosexualität eine asylrelevante Verfolgungsgefahr im Irak nicht bestehe. Ihm sei es nicht gelungen, eine Verfolgung auf Grund seiner sexuellen Orientierung glaubhaft zu machen. Der bloße Umstand, homosexuell zu sein, vermöge im Irak, in dem seit dem Ende des Regimes Saddam Husseins 2003 Homosexualität nicht mehr strafbar sei, angesichts der Länderfeststellungen nicht für sich bereits die ernstliche Gefahr einer Verfolgung glaubhaft zu machen.

4. Gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29. April 2021 richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet wird.

Begründend wird dazu unter anderem ausgeführt, dass alleine die Tatsache, dass der Beschwerdeführer den wahren Fluchtgrund – seine Homosexualität – erst später vorgebracht habe, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union für sich alleine kein ausreichender Grund sein dürfe, einem Asylwerber Unglaubwürdigkeit zu attestieren. Das Bundesverwaltungsgericht verkenne zudem, dass dem Beschwerdeführer im Irak eine asylrelevante Verfolgung auf Grund seiner sexuellen Orientierung drohe, und es berücksichtige weiters auch nicht die gesundheitliche Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr in den Irak.

5. Das BFA und das Bundesverwaltungsgericht haben die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

1.1. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

1.2. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

2. Ein solches willkürliches Verhalten ist dem Bundesverwaltungsgericht vorzuwerfen:

2.1. Die Feststellung, wonach der Beschwerdeführer nicht homosexuell sei, stützt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer sein diesbezügliches Vorbringen erst nach der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, nämlich in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgebracht habe. Es sei daher von einem "gesteigerten" Vorbringen auszugehen. Begründend wird ausgeführt:

"Im konkreten Fall kommt hinzu, dass der Beschwerdeführer seinen Asylantrag am 28.09.2015 stellte, er hingegen erst knapp einen Monat später, nämlich am 21.10.2015, ersteinvernommen wurde. In diesem Monat wäre bei Wahrunterstellung des Vorbringens jedenfalls zu erwarten gewesen, dass sich der Beschwerdeführer mit der Einstellung der österreichischen Gesellschaft zur Homosexualität vertraut macht, um dann in weiterer Folge bei erster Gelegenheit – der Erstbefragung – seinen wahren Fluchtgrund vorzubringen. Der Beschwerdeführer erweist sich bereits dadurch, dass er in der Ersteinvernahme Bedrohung und Verfolgung durch Schiiten vorbrachte und diese in weiterer Folge nicht mehr erwähnt, sondern erst zweieinhalb Jahre später am 20.03.2018 vor der belangten Behörde angibt, aufgrund seiner Homosexualität und seines weiblichen Aussehens aus dem Irak geflohen zu sein, als persönlich unglaubwürdig. In diesem Zusammenhang ist auch auszuführen, dass der Bruder des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht als Zeuge befragt angab, nicht zu glauben, dass der Beschwerdeführer als Sunnit im Irak bedroht wurde (Protokoll vom 18.10.2019, S. 22), womit sich das ursprüngliche Fluchtvorbringen als Unwahrheit herausstellt. Beim Vorbringen der Homosexualität handelt es sich somit um ein gesteigertes nicht glaubhaftes Vorbringen."

2.2. Wie sich aus den vom United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) herausgegebenen "Guidelines on International Protection No. 9: Claims to Refugee Status based on Sexual Orientation and/or Gender Identity within the context of Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees" vom 23. Oktober 2012 (im Folgenden: SOGI-Richtlinien) ergibt, können sich Diskriminierung, Hass und Gewalt in all ihren Formen nachteilig auf die Fähigkeit eines Antragstellers auswirken, seine Ansprüche geltend zu machen: Manche Menschen litten unter Schamgefühlen, verinnerlichter Homophobie und Traumata, weshalb ihre Fähigkeit, ihren Fall vorzutragen, stark eingeschränkt sein könne. Wenn ein Antragsteller im Stadium sei, sich mit seiner Identität zu arrangieren, oder sich davor fürchte, seine sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität offen zu äußern, werde er möglicherweise zögern, das wahre Ausmaß der erlittenen oder befürchteten Verfolgung anzugeben. Die Tatsache, dass eine Person ihre sexuelle Ausrichtung oder Geschlechtsidentität in der "Screening-Phase" oder am Beginn des Gesprächs nicht angegeben hat, solle im Allgemeinen nicht zu einem negativen Urteil führen. Auf Grund ihrer oft komplexen Natur eigneten sich Anträge, die auf der sexuellen Ausrichtung oder der Geschlechtsidentität beruhen, im Allgemeinen nicht für eine beschleunigte Bearbeitung oder die Anwendung des Konzepts des "sicheren Herkunftslandes".

2.3. Den Berichten des UNHCR und des European Asylum Support Office (EASO) ist nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bei der Beurteilung von Anträgen auf internationalen Schutz besondere Beachtung zu schenken (vgl VfSlg 20.358/2019, 20.372/2020; VfGH 12.12.2019, E2692/2019; 23.6.2021, E865/2021). Dies gilt auch für die oben erwähnten SOGI-Richtlinien (vgl jüngst VfGH 26.6.2020, E902/2020; 27.9.2021, E1951/2021).

2.4. Auch der Gerichtshof der Europäischen Union meint, dass nicht alleine deshalb, weil eine Person zögert, intime Aspekte ihres Lebens – wie insbesondere ihrer Sexualität – zu offenbaren, auf die Unglaubwürdigkeit dieser Person geschlossen werden könne. Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die Sexualität betreffen würden, spreche alleine der Umstand, dass eine Person nicht sofort ihre Homosexualität angegeben hat, nicht gegen die Glaubwürdigkeit eines solchen Vorbringens (vgl EuGH 2.12.2014, Rs. C-148/13 bis C-150/13, A., B., C., Rz 69). Außerdem sei zu beachten, dass die in Art4 Abs1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vorgesehene Pflicht, "so schnell wie möglich" alle zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen, dadurch abgemildert werde, dass die zuständigen Behörden nach Art13 Abs3 lita der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und Art4 Abs3 der Richtlinie 2004/83/EG bei der Anhörung die persönlichen oder allgemeinen Umstände des Antrages einschließlich der Verletzlichkeit des Antragstellers zu berücksichtigen hätten und den Antrag individuell prüfen müssten, wobei die individuelle Lage und die persönlichen Umstände jedes Antragstellers zu berücksichtigen seien (EuGH, aaO, Rz 70). Es liefe somit auf einen Verstoß gegen das dargestellte Erfordernis hinaus, wenn ein Asylwerber allein deshalb als unglaubwürdig angesehen würde, weil er seine sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe offenbart hat (EuGH, aaO, Rz 71).

2.5. Mit all dem setzt sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung nicht ausreichend auseinander: Darin wird ausgeführt, dass es nicht plausibel sei, dass der Beschwerdeführer, wäre er tatsächlich homosexuell, diesen Umstand nicht bereits im Rahmen der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erwähnt habe, sondern erst in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Vielmehr sei zu erwarten, dass ein Fremder, der internationalen Schutz beantrage, initiativ alle ihm wesentlich erscheinenden Fluchtgründe, die zu seiner Flucht geführt hätten, den Behörden mitteile und nicht wesentliche Fluchtgründe erst bei späteren Einvernahmen vorbringe. Diese Begründung stellt sohin maßgeblich darauf ab, dass der Beschwerdeführer nicht bereits zu Beginn des Verfahrens Angaben zu seiner behaupteten Homosexualität gemacht hatte und deshalb von einem "gesteigerten" Vorbringen auszugehen sei. Abgesehen davon, dass §19 Abs1 AsylG 2005 bestimmt, dass die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl auch VfGH 19.11.2015, E1600/2014; 24.9.2019, E159/2019), spricht aber der alleinige Umstand, dass eine Person nicht sofort ihre Homosexualität angegeben hat, angesichts des sensiblen Charakters von Themen, die die Sexualität betreffen, nicht gegen die Glaubwürdigkeit eines solchen Vorbringens (EuGH 2.12.2014, Rs. C-148/13 bis C-150/13, A., B., C., Rz 69). Vor diesem Hintergrund erweist sich die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes als nicht nachvollziehbar.

2.6. Zudem führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass selbst bei Zutreffen des Vorbringens des Beschwerdeführers zu seiner Homosexualität eine solche in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak keinen asylrelevanten Fluchtgrund darstelle. Homosexualität sei im Irak nicht strafbar. Die im Länderinformationsblatt Irak angeführten Ressentiments bestimmter Gruppen seien nicht derart, dass von einer ernstlichen Gefahr einer Verfolgung homosexueller Menschen auf Grund ihrer sexuellen Neigung auszugehen sei. Zudem sei es auf Grund der Tabuisierung der Sexualität durch die islamisch geprägte Gesellschaft, die auf strikter Geschlechtertrennung aufbaue, keinem Iraker und keiner Irakerin möglich, ihre Sexualität in der Öffentlichkeit auszuleben, sodass sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Paare ihre Sexualität im Privaten auslebten. Dieser Umstand sei somit nicht tauglich, eine Gefahr einer Verfolgung homosexueller Personen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung als glaubhaft anzunehmen.

Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht seine eigenen Feststellungen zur Lage sexueller Minderheiten im Irak: Aus diesen geht hervor, dass Homosexualität im Irak weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt werde. Homosexuelle würden ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich ausleben und seien Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es bestehe ein hohes Risiko sozialer Ächtung und Gewalt bis hin zu Ehrenmorden durch Familienmitglieder. Konfessionelle Milizen hätten in den letzten Jahren wiederholt Mitglieder sexueller Minderheiten bedroht und verfolgt und würden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht. Angehörige sexueller Minderheiten seien häufig Misshandlungen und Gewalt durch staatliche und nicht-staatliche Akteure ausgesetzt, die von der Regierung nicht wirksam untersucht würden.

2.7. Im Ergebnis würde die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes dazu führen, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Irak gezwungen wäre, seine sexuelle Orientierung geheim zu halten, um sich nicht der Gefahr von Diskriminierung, Verfolgung und Gewalt auszusetzen. Dabei geht es nicht darum, ob es – wie das Bundesverwaltungsgericht meint – im Irak üblich sei, dass sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Menschen ihre Sexualität im Privaten auslebten, sondern vielmehr um das Bekenntnis zur eigenen sexuellen Ausrichtung, dessen Verzicht von niemandem verlangt werden darf (EuGH 7.11.2013, Rs. C-199 bis C-201/12, X ua, Rz 70 f.; VfSlg 20.170/2017; VfGH 18.9.2014, E910/2014; 11.6.2019, E291/2019; 25.2.2020, E4470/2019; 22.9.2020, E423/2020).

3. Das Erkenntnis ist aus diesen Gründen mit Willkür belastet und daher zur Gänze aufzuheben.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Abkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabegebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Homosexualität, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E2406.2021

Zuletzt aktualisiert am

21.11.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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