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20/13 SonstigesNorm
B-VG Art137 / KlagenLeitsatz
Abweisung einer – auf Ersatz der Prozesskosten eingeschränkten und dem Grunde nach zu Recht erhobenen – unionsrechtlichen Staatshaftungsklage gegen den Bund wegen Obsiegens mit einem verhältnismäßig geringfügigen Teil des Anspruchs; qualifizierter Verstoß gegen Unionsrecht und die Vorgaben des EuGH durch eine Bestimmung des VersicherungsvertragsG betreffend die Beschränkung der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung auf den Rückkaufswert im Falle eines Rücktritts von einem Lebensversicherungsvertrag; keine Möglichkeit einer "Sanierung" im Auslegungsweg durch die ordentlichen Gerichte; kein Verstoß gegen Unionsrecht auf der Ebene der Vollziehung; Wirksamkeit des unionsrechtlichen Rücktrittsrechts bei fehlender oder rechtswidriger Belehrung vor Vertragsabschluss durch Tragung des wirtschaftlichen Risikos durch die Versicherungsnehmer beeinträchtigtRechtssatz
Eine unionsrechtskonforme Auslegung des §176 Abs1, 1a und 5 VersVG wäre nicht möglich, wenn die behauptete Unionsrechtswidrigkeit der Beschränkung der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung auf den Rückkaufswert zuträfe:
Nach dem klaren Wortlaut und dem Willen des historischen Gesetzgebers der Novelle BGBl I 51/2018 sollte der Versicherungsnehmer in bestimmten Konstellationen nach einem Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag auf den Ersatz des Rückkaufswertes beschränkt werden. So heißt es in den Erläuterungen zu dem Initiativantrag, der letztlich zur Beschlussfassung des §176 Abs1a VersVG idF BGBl I 51/2018 führte: "Bei einem Spätrücktritt ab dem zweiten bis zum fünften Jahr nach Vertragsabschluss soll der Versicherungsnehmer den Rückkaufswert nach §176 Abs3 VersVG ohne Berücksichtigung der tariflichen Abschlusskosten und ohne Abzug nach §176 Abs4 erhalten. Bei einem Rücktritt nach Ablauf von fünf Jahren ab Vertragsabschluss erhält der Versicherungsnehmer den Rückkaufswert gemäß §176 Abs1 VersVG." Angesichts des klaren Wortlautes des §176 VersVG idF BGBl I 51/2018 und des Willens des Gesetzgebers verbietet es sich nach allgemeinen Auslegungsregeln, die Bestimmung unter Berufung auf eine richtlinienkonforme Auslegung (contra legem) unangewendet zu lassen.Für die Frage der Zulässigkeit der vorliegenden Klage bedeutet dies, dass eine Zurechnung des von der klagenden Partei behaupteten Verstoßes gegen Unionsrecht zur Vollziehung (der ordentlichen Gerichtsbarkeit) ausscheidet:
Den ordentlichen Gerichten wäre - träfe die behauptete Unionsrechtswidrigkeit zu - eine "Sanierung" des §176 VersVG idF BGBl I 51/2018 im Auslegungsweg nicht möglich gewesen, weil dies eine unzulässige Auslegung contra legem dargestellt hätte. Im Unterschied zu VfSlg 18600/2008 wäre der behauptete Verstoß gegen Unionsrecht somit auf Ebene der Vollziehung nicht zu vermeiden gewesen. Eine Zurechnung des behaupteten Unionsrechtsverstoßes an die Vollziehung - und damit eine Zuständigkeit der Amtshaftungsgerichte - kommt im vorliegenden Zusammenhang daher nicht in Betracht. Der VfGH ist somit zur Entscheidung über die vorliegende Staatshaftungsklage berufen.
Der VfGH ist der Auffassung, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung des §176 Abs1a und Abs5 VersVG idF BGBl I 51/2018 in qualifizierter Weise gegen Unionsrecht und die Vorgaben des EuGH verstoßen hat.
In EuGH 19.12.2019, Rs C-355/18 ua, Rust-Hackner ua wurde in Beantwortung der hier insbesondere relevanten vierten Vorlagefrage ausgeführt, dass "Art15 Abs1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung, Art35 Abs1 der Richtlinie 2002/83 und Art185 Abs1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat."
Diese Ausführungen ergingen zu §176 Abs1 VersVG, der durch die Novelle BGBl I 51/2018 nicht geändert worden ist. Wie die beklagte Partei in ihrer Gegenschrift ausführt, richteten sich die Rechtsfolgen im Falle eines Rücktrittes vom Versicherungsvertrag ab dem sechsten Jahr nach Vertragsabschluss nicht nach §176 Abs1a VersVG idF BGBl I 51/2018. Nach den Materialien sollte der Versicherungsnehmer diesfalls vielmehr den Rückkaufswert gemäß §176 Abs1 VersVG erhalten.
Diese Rechtslage hat der EuGH jedoch bereits als unionsrechtswidrig erkannt, indem er ausgesprochen hat, dass der Versicherungsnehmer nicht auf den Ersatz des Rückkaufswertes nach §176 Abs1 VersVG beschränkt werden darf. Eine zeitliche Differenzierung hat der EuGH dabei gerade nicht vorgenommen, sodass die Rechtslage jedenfalls bei einem Vertragsrücktritt ab dem sechsten Jahr nach Vertragsabschluss offenkundig unionsrechtswidrig war.
Die Rechtslage idF BGBl I 51/2018 hat aber auch bei einem Vertragsrücktritt ab dem zweiten bis zum fünften Jahr nach Vertragsabschluss gegen die unionsrechtlichen Vorgaben verstoßen:
Auch hier ordnete der Gesetzgeber im Widerspruch zur Rsp des EuGH an, dass dem Versicherungsnehmer der Rückkaufswert zu erstatten ist. Im Gegensatz zum Rückkaufswert nach §176 Abs1 VersVG wurde dieser zwar für den Versicherungsnehmer günstiger berechnet, weil der Versicherer die tariflichen Abschlusskosten und den Abzug gemäß §176 Abs4 VersVG nicht berücksichtigen durfte (§176 Abs1a VersVG idF BGBl I 51/2018). Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Versicherungsnehmer durch die genannte Regelung das wirtschaftliche Risiko des Vertragsrücktrittes zu tragen hatte. Dementsprechend konnten Versicherungsnehmer von der Ausübung ihres Rücktrittsrechtes abgehalten werden, nämlich in jenen Fällen, in denen der Ersatz (bloß) des Rückkaufswertes nach §176 Abs1a VersVG idF BGBl I 51/2018 wirtschaftlich nicht attraktiv war. Damit war aber entgegen der Rsp des EuGH eine Rechtslage geschaffen, welche die Wirksamkeit des unionsrechtlichen Rücktrittsrechtes beeinträchtigte.
Keine Verjährung des Anspruchs der klagenden Partei:
Der VfGH hat bereits mehrmals ausgesprochen, dass bei Staatshaftungsklagen die Bestimmung des §6 AHG anzuwenden ist, also abseits von hier nicht relevanten Sonderfällen eine Verjährung nach drei Jahren ab Kenntnis des Schadens eintritt. Die Novelle BGBl I 51/2018 wurde am 14.08.2018 im Bundesgesetzblatt I kundgemacht. Sie trat (erst) am 01.01.2019 in Kraft. Wie die beklagte Partei in ihrer Gegenschrift zutreffend ausführt, war der Hintergrund dieser knapp viereinhalbmonatigen Legisvakanz, dass den Versicherungsnehmern die Möglichkeit gegeben werden sollte, eine Abwicklung ihrer Versicherungsverträge nach "Altrecht" zu erwirken. Bis zum 31.12.2018 bestand somit die Möglichkeit, noch unter Geltung der alten Rechtslage vom Versicherungsvertrag zurückzutreten. Bei dieser Rechtslage kann nicht davon gesprochen werden, dass der Schaden, den die Versicherungsnehmer erlitten haben sollen, bereits vor dem 01.01.2019 eingetreten ist. Dies kann vielmehr erst mit dem Inkrafttreten des §176 Abs1a VersVG idF BGBl I 51/2018 der Fall gewesen sein, weswegen die Verjährungsfrist frühestens am 01.01.2019 zu laufen begonnen hat. Die am 31.12.2021 beim VfGH erhobene Klage ist daher rechtzeitig erhoben worden; der geltend gemachte Anspruch ist nicht verjährt.
Abhängigkeit des Staatshaftungsanspruchs vom Zeitpunkt des Rücktritts:
Ein Staatshaftungsanspruch kam nur hinsichtlich jener Versicherungsnehmer in Betracht, die ihren Rücktritt vom Versicherungsvertrag nach dem 31.12.2018 erklärt haben, weil nur hinsichtlich dieser Versicherungsnehmer der durch die als unionsrechtswidrig erkannte Bestimmung verursachte Schaden als Folge eines Vertragsrücktrittes beziffert werden konnte. Der Anspruch der klagenden Partei bestand daher - vor der VersVG-Novelle 2022 - nur insoweit zu Recht, als die Versicherungsnehmer (Zedenten) nach dem 31.12.2018 bis zum 31.07.2022 von ihren Lebensversicherungsverträgen zurückgetreten sind.
Kein Kostenzuspruch:
Kostenersatzansprüche sind bei Klagen gemäß Art137 B-VG vom Erfolgsprinzip beherrscht; sie hängen demnach vom Prozessausgang ab. Die klagende Partei hat ihre Klage nur insoweit zu Recht erhoben, als die Versicherungsnehmer (Zedenten) nach dem 31.12.2018 bis zum 31.07.2022 von ihren Lebensversicherungsverträgen zurückgetreten sind. Die Summe der geltend gemachten Ansprüche, auf die diese Voraussetzung nach den vorgelegten Beilagen zutrifft, beträgt € 94.921,17. Alle anderen Zedenten sind entweder von ihren Lebensversicherungsverträgen gar nicht oder bereits vor dem 01.01.2019 zurückgetreten oder haben den behaupteten Schaden nicht näher beziffert. Die von ihnen geltend gemachte Schadenssumme beträgt somit € 1.535.081,27. Die klagende Partei ist sohin nur mit einem verhältnismäßig geringfügigen Teil ihres Anspruches als obsiegend, im Übrigen aber als unterliegend anzusehen, sodass ihr keine Kosten zuzusprechen sind.
Schlagworte
EU-Recht, Versicherungsrecht, Staatshaftung, VfGH / Klagen, Prozesskosten, Vorabentscheidung, Verjährung, Geltungsbereich (zeitlicher) eines Gesetzes, VfGH / Kosten, VfGH / Fristen, Auslegung gemeinschaftsrechtskonforme, VfGH / ZuständigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:A27.2021Zuletzt aktualisiert am
16.11.2022