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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AVG §71 Abs1 Z1 idF 1990/357 ;Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):95/08/0314Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag der S in W, vertreten durch Dr. D, Rechtsanwalt in W, als Verfahrenshelferin, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einbringung der Beschwerde gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des AMS Wien vom 5. Juli 1995, Zl. 12/7022/7100 B, 920/4743241161, betreffend Anspruch auf Arbeitslosengeld, und 2. über die mit dem Antrag verbundene Beschwerde gegen den genannten Bescheid den Beschluß gefaßt:
Spruch
1.
Dem Wiedereinsetzungsantrag wird nicht stattgegeben.
2.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Begründung
Mit Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Juli 1995, Zl. VH 95/08/0043, wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 61 VwGG die Verfahrenshilfe, u.a. durch Beigebung eines Rechtsanwaltes, zur Einbringung einer Beschwerde gegen den obgenannten Bescheid bewilligt. Mit Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien vom 31. Juli 1995 wurde Dr. D zur Verfahrenshelferin bestellt. Eine Ausfertigung des Bewilligungsbeschlusses und des Bescheides wurde der Verfahrenshelferin am 8. September 1995 zugestellt.
Die Verfahrenshelferin gab die Beschwerde am 8. November 1995 und somit verspätet zur Post und verband sie mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Einbringung der Beschwerde. Die für die Kalendierung zuständige Kanzleisekretärin habe die Beschwerdefrist "am 12. 10. 1995 mit dem Hinweis auf den letzten Tag der Frist am 20. 10. 1995 kalendiert". Nach dem optimal passenden "System" in der Kanzlei der Verfahrenshelferin würden Fristen nicht "am Tag des tatsächlichen Fristendes", sondern "bereits rund eine Woche vorher" vermerkt. Damit solle gewährleistet werden, daß Fristerledigungen nicht erst gegen Fristende und unter Umständen ohne die notwendigen Erhebungen und Beischaffungen vorgenommen würden. Es werde nicht auch das Fristende in den Hauptkalender eingetragen, sondern der Vorkalender als Fixkalender behandelt, damit im Falle einer Weiterkalendierung die Zuständigkeit dafür klar beim bearbeitenden Juristen liege, der in einem solchen Fall auch dafür Sorge zu tragen habe, daß das Fristende in den Hauptkalender eingetragen werde. Im vorliegenden Fall habe die Verfahrenshelferin ihren Konzipienten Mag. U mit der Bearbeitung des Aktes beauftragt. Dieser habe noch im September 1995 eine Besprechung mit der Beschwerdeführerin veranlaßt und Anfang Oktober 1995 vom Arbeitsmarktservice eine Aktenabschrift angefordert. Für die Konzipierung der Beschwerde sei sodann Rechtsanwaltsanwärterin Dr. K eingeteilt worden. In deren Fristenliste sei für die Verfassung der Beschwerde der 12. Oktober 1995 eingetragen worden. Die Fristenlisten der einzelnen Mitarbeiter seien nur Hilfslisten. Die Kontrolle der Abfertigung erfolge anhand des Hauptkalenders. Am 11. Oktober 1995 sei der Kanzleiakt zusammen mit der beigeschafften Aktenabschrift Dr. K vorgelegt worden. Dr. K habe die Fertigstellung der Beschwerde bis zum 12. Oktober 1995 wegen großer Arbeitsüberlastung nicht bewerkstelligen können. Sie habe sich daher entschlossen, den Akt auf den letzten Tag der Beschwerdefrist weiterzukalendieren, wozu sie mit der Maßgabe, den neuen Kalender eigenverantwortlich zu setzen und für die Eintragung im Hauptkalender zu sorgen, ermächtigt gewesen sei. Während der Fristberechnung habe Dr. K einen Anruf ihres Bruders erhalten, der ihr mitgeteilt habe, daß in ihre Wohnung in Graz eingebrochen worden sei. Nach der Beendigung des Telefonats habe Dr. K die Kalendierung fortgesetzt, sich aber offensichtlich bei der Wochenzählung geirrt und den Fristablauf daher mit 27. Oktober 1995 in den Hauptkalender eingetragen. Da sie offensichtlich von der Nachricht über den Wohnungseinbruch noch betroffen gewesen sei, sei ihr der Fehler auch bei der vorgeschriebenen Kontrolle nicht aufgefallen. Ein solcher Fehler sei der sehr sorgfältigen und gewissenhaften Rechtsanwaltsanwärterin Dr. K zuvor noch nie unterlaufen. Dr. K sei seit 20 Monaten Rechtsanwaltsanwärterin in Wien und seit 1. Juli 1995 in der Kanzlei der Verfahrenshelferin beschäftigt. Den Umstand des Fristvortrages habe sie am Abend des 11. Oktober 1995 noch der Verfahrenshelferin mitgeteilt und gefragt, ob dies in Ordnung gehe. Die Verfahrenshelferin habe ihr Einverständnis gegeben und "routinemäßig" nachgefragt, ob Dr. K "auch für die ordnungsgemäße Neukalendierung Sorge getragen" hatte, was Dr. K bestätigt habe. Die Verfahrenshelferin habe sich auf diese Auskunft verlassen, weil ihr bekannt gewesen sei, daß Dr. K mit fristgebundenen Erledigungen vertraut und daß ihr die große Verantwortung einer derartigen Tätigkeit bekannt gewesen sei. Bei der Bearbeitung des Aktes am 26. Oktober 1995 habe Dr. K feststellen müssen, daß die Frist schon am 20. Oktober 1995 abgelaufen war. Die Falschkalendierung durch Dr. K sei auf die Ablenkung durch die telefonische Nachricht vom Wohnungseinbruch zurückzuführen. Sie beruhe daher auf einem minderen Grad des Versehens.
Die Tatsachenbehauptungen in diesem Vorbringen wurden durch die dem Antrag beigeschlossenen Urkunden, insbesondere Kopien aus dem Hauptkalender und der erwähnten Fristenliste, sowie durch die Einvernahme der Rechtsanwaltsanwärterin Dr. K mit der Maßgabe glaubhaft gemacht, daß ein Hinweis auf das tatsächliche Fristende - entgegen den Antragsbehauptungen - bei der Eintragung des Vorkalenders im vorliegenden Fall unterblieb. Ein solcher Hinweis erfolgt in der Kanzlei der Verfahrenshelferin "manchmal". Nach dem "System" der Verfahrenshelferin wird für den Vorkalender "in der Regel" der Tag gewählt, der dem Fristende um eine Woche vorangeht. Eine Abweichung erfolgt "etwa" dann, wenn der Vorfristtag auf ein Wochenende oder einen Feiertag fallen würde. Der Vorkalender wird in diesem Fall noch vorverlegt. Im vorliegenden Fall erfolgte die Vorverlegung um einen Tag, obwohl der 13. Oktober 1995 ein Arbeitstag gewesen wäre. Grundsätzlich ergibt sich das genaue Ende der Frist nicht durch bloße Hinzurechnung einer Woche aus dem Vorkalender. Es muß bei der Weiterkalendierung neu errechnet werden. Nach der Eintragung des Vorkalenders durch die Kanzleiangestellte wird der Akt der zuständigen Rechtsanwältin vorgelegt, die die Richtigkeit der Fristeintragung (gemeint: der Eintragung des Vorkalenders) überprüft. Weiterkalendierungen durch Konzipienten kontrolliert die Verfahrenshelferin "stichprobenweise". Im vorliegenden Fall unterblieb - abgesehen von der im Antrag beschriebenen Nachfrage - eine Kontrolle der von Dr. K vorgenommenen Kalendereintragung.
Nach § 46 Abs. 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
Das Verschulden des Vertreters einer Partei ist einem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten. Das gilt nicht nur für gesetzliche Vertreter und Bevollmächtigte der Partei (vgl. § 12 AVG; ähnlich § 39 ZPO), sondern im Hinblick auf § 64 Abs. 1 Z. 3 ZPO (§ 61 Abs. 1 VwGG) auch für ihren Verfahrenshelfer (Beschluß eines verstärkten Senates vom 19. Jänner 1977, VwSlgNF. 9226/A). Auf das Verschulden des Vertreters ist auch abzustellen, wenn die Fristversäumung auf einem Fehler eines Kanzleiangestellten oder Rechtsanwaltsanwärters (Konzipienten) des Vertreters beruht. Die Wiedereinsetzung ist in einem solchen Fall nur zu bewilligen, wenn dem Vertreter selbst weder eine über einen minderen Grad des Versehens hinausgehende Verletzung seiner Überwachungs- und Kontrollpflichten noch eine mangelhafte Organisation seines Kanzleibetriebes zur Last liegt (vgl. Gitschthaler in Rechberger, Anmerkung 9 zu § 146 ZPO mit Hinweisen u.a. auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes; zu Fehlern eines Rechtsanwaltsanwärters auch den Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 8. November 1988,
Zlen. 88/11/0159, 0236 u.a.).
Der Wiedereinsetzungsantrag beschreibt ein "System", in dem die Kontrolle der entscheidenden Fristeintragung durch den Rechtsanwalt nicht vorgesehen ist. Da das Fristende vor der Aktenvorlage nicht vorzumerken ist, kann sich die Kontrolle zunächst nur auf den Vorkalender beziehen. Über diesen dürfen sich die Mitarbeiter der Verfahrenshelferin eigenmächtig hinwegsetzen. Daß die Fristeintragungen dieser Mitarbeiter bei der Weiterkalendierung je überprüft würden, geht aus dem Antrag nicht hervor. Stichprobenweise Kontrollen, wie sie nach den Ergebnissen des Bescheinigungsverfahrens bei der Verfahrenshelferin stattfinden, werden der Verantwortung des Rechtsanwaltes (vgl. Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. Juni 1994, Zl. 94/05/0111) nicht gerecht. Das gilt zumindest dann, wenn die Mitarbeiterin, der die Weiterkalendierung überlassen wird, erst seit kurzer Zeit - im vorliegenden Fall wenig mehr als drei Monate - beim betreffenden Rechtsanwalt tätig ist (vgl. Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. Oktober 1994, Zl. 94/07/0003). Das Kontrollsystem der Verfahrenshelferin war in bezug auf die Rechtsanwaltsanwärterin Dr. K daher nicht ausreichend. Dazu kommt noch, daß die Verfahrenshelferin im konkreten Fall eine ihr gebotene Gelegenheit zur Kontrolle außer acht ließ. Trotz Fehlens entsprechender Anweisungen (Seite 2 unten und Seite 4 oben des Antrags) wurde sie von Dr. K nämlich gefragt, ob die Weiterkalendierung "in Ordnung gehe" (Seite 4 unten des Antrags). Sie gab ihr Einverständnis und fragte nur nach, ob Dr. K "für die ordnungsgemäße Neukalendierung Sorge getragen hatte", was Dr. K bestätigte. Hätte die Verfahrenshelferin gefragt, um wieviel der Kalender verlegt oder für wann der neue Kalender gesetzt worden war, so wäre der Fehler sofort offenbar geworden. In einem "System", in dem der Vorkalender dem Fristende um rund eine Woche vorangeht, konnte die Weiterkalendierung um zwei volle Wochen kaum richtig sein. Die Verfahrenshelferin hat daher nicht nur die Fristenkontrolle unzureichend organisiert. Sie hat auch die Gelegenheit, auf einfache Weise und ohne unzumutbare "Überwachung auf Schritt und Tritt" (Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. Juni 1992, Zl. 92/09/0043) die in ihrem "System" fehlende Kontrolle im Einzelfall auszuüben, nicht wahrgenommen. Die Kombination dieser Versäumnisse geht über einen minderen Grad des Versehens hinaus.
Es war daher dem Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 46 Abs. 1 VwGG nicht stattzugeben und die Beschwerde gemäß § 34 Abs. 1 in Verbindung mit § 26 Abs. 1 und 3 VwGG wegen Versäumung der Einbringungsfrist zurückzuweisen.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1996:1995080309.X00Im RIS seit
03.04.2001Zuletzt aktualisiert am
08.02.2010