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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §55Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. April 2020, W171 2220344-1/12E, betreffend Sicherstellung eines Reisepasses nach § 39 BFA-VG (mitbeteiligte Partei: A T, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 6/5), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Mitbeteiligte, eine kirgisische Staatsangehörige, verfügte beginnend ab 18. April 2016 über eine zuletzt bis 19. April 2018 gültige Aufenthaltsbewilligung für Studierende. Einen in der Folge gestellten Erstantrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung als Schülerin wies die Niederlassungsbehörde mit Bescheid vom 8. April 2019 ab, der nach Zurückziehung der dagegen erhobenen Beschwerde im Juli 2019 in Rechtskraft erwuchs.
2 Bereits am 5. Juni 2019 hatte die Mitbeteiligte einen Sohn zur Welt gebracht, dessen Vater österreichischer Staatsbürger ist und der selbst auch die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt.
3 Am 19. Juni 2019 stellte die Mitbeteiligte im Hinblick darauf beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) persönlich einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005. Anlässlich der Antragstellung legte die Mitbeteiligte ihren kirgisischen Reisepass vor, den das BFA anschließend sicherstellte.
4 Gegen die Sicherstellung ihres Reisepasses erhob die Mitbeteiligte mit Schriftsatz vom 22. Juni 2019 eine Maßnahmenbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der sie die Anmerkung in der Sicherstellungsbescheinigung bestritt, ihren Reisepass freiwillig herausgegeben zu haben. Sie habe sich mit dem Reisepass ausgewiesen und ihn nicht mehr zurückbekommen, wobei sie aus den Bemerkungen der Behördenvertreterin schließe, dass der Reisepass für mindestens ein Jahr sichergestellt bleiben werde. Weiters brachte die Mitbeteiligte vor, infolge der Sicherstellung ihres Reisepasses mangels anderen amtlichen Lichtbildausweises keine Briefe von der Post holen, nur mit Schwierigkeiten Leistungen der öffentlichen Hand (z.B. Familienbeihilfe) beziehen und nicht in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union reisen zu können. Für das Verfahren vor dem BFA hätte eine Kopie des Reisepasses ausgereicht.
5 In seiner dazu erstatteten Stellungnahme vom 27. Juni 2019 wies das BFA darauf hin, dass sich die Einbehaltung des Reisepasses auf § 39 BFA-VG stütze und der Antrag der Mitbeteiligten nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 - entgegen ihrer in der Maßnahmenbeschwerde auch geäußerten Ansicht - nicht automatisch ohne weitere Prüfung die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach sich ziehe, sondern einer Einzelfallprüfung bedürfe. Überdies sei das Verfahren über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung als Schülerin nach dem NAG noch anhängig, was gemäß § 58 Abs. 9 Z 1 AsylG 2005 die Zurückweisung des Antrages zur Folge habe. Im Übrigen sei „für die Bearbeitung des offenen Verfahrens“ (offenbar gemeint: nach § 55 AsylG 2005) ein gültiges Reisedokument erforderlich, wobei erkennbar in diesem Zusammenhang auf § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG-DV 2005 verwiesen wurde.
6 Auf entsprechende Nachfrage des BVwG teilte das BFA am 22. Jänner 2020 mit, dass das Verfahren über den Antrag der Mitbeteiligten auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 noch nicht abgeschlossen sei und sich der Reisepass weiterhin beim BFA befinde. Dies begründete es damit, dass im Falle der negativen Erledigung dieses Antrages eine solche Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG zu verbinden sei, wobei durch die Sicherstellung des Reisepasses gewährleistet sei, dass „allfällige nachfolgende Verfahrensschritte effektiv geführt werden können“.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 8. April 2020 gab das BVwG der Beschwerde statt, stellte fest, dass die Sicherstellung des Reisepasses der Revisionswerberin am 19. Juni 2019 rechtswidrig gewesen sei, verpflichtete den Bund zum Aufwandersatz an die Mitbeteiligte und wies den Antrag des BFA auf Kostenersatz ab. Unter einem sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 In seiner Begründung ging das BVwG unter Berufung auf das Erkenntnis VwGH 24.1.2019, Ra 2018/21/0239, davon aus, dass einer Maßnahmenbeschwerde zur Bekämpfung der Sicherstellung eines Reisepasses dessen freiwillige Vorlage nicht entgegenstehe, wenn sie in der Erwartung alsbaldiger Rückstellung erfolgt sei. Dies sei hier der Fall gewesen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nahm das BVwG dann an, dass die in der Beschwerde geltend gemachten Nachteile, die sich für die Mitbeteiligte aufgrund der Sicherstellung ihres Reisepasses ergeben würden, die Vorteile der Behörde an der Sicherung vorhandener Beweismittel für das weitere fremdenrechtliche Verfahren (etwa eine im ungewissen Fall der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nachfolgende Abschiebung der Revisionswerberin) überwögen und die Sicherstellung daher unverhältnismäßig sei. Kopien des Reisepasses würden in diesem Fall eine „ausreichende Hilfestellung“ leisten können.
9 Die gegen dieses Erkenntnis gerichtete Revision des BFA erweist sich als unzulässig.
10 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
12 Vorauszuschicken ist, dass § 39 Abs. 1 FPG zur vorläufigen Sicherstellung von Gegenständen und Dokumenten ermächtigt, die für ein Verfahren vor dem BFA oder für die Abschiebung gemäß § 46 FPG als Beweismittel benötigt werden. Dazu zählt auch (und vor allem) ein Reisepass (vgl. VwGH 30.8.2011, 2010/21/0188).
13 Der Annahme des BVwG, dass die auf § 39 BFA-VG gestützte Sicherstellung des Reisepasses im vorliegenden Fall in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erfolgte und dagegen eine Maßnahmenbeschwerde erhoben werden konnte, tritt die Revision nicht entgegen, bringt aber unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit (zusammengefasst) vor, dass diese Maßnahmenbeschwerde nicht mit einer Unverhältnismäßigkeit, die erst nach der Sicherstellung entstehe, begründet werden könne. Eine durch die Fortdauer der Einbehaltung des Reisepasses bewirkte Unverhältnismäßigkeit sei mithilfe eines Ausfolgungsantrages geltend zu machen und habe im Rahmen des Verfahrens über eine Maßnahmenbeschwerde außer Betracht zu bleiben.
14 Richtig ist, dass bei Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer mit Beschwerde nach Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG bekämpften Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt auf den Zeitpunkt der Vornahme des Verwaltungsaktes abzustellen ist (siehe in diesem Sinn schon VwGH 25.4.2014, 2013/21/0255; vgl. zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Abschiebungen etwa VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0179 bis 0182, Rn. 14, mit dem Hinweis auf VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, Rn. 8, mwN, und allgemein z.B. VwGH 26.6.2018, Ra 2016/05/0081, Rn. 12, mwN).
15 Dies bedeutet jedoch - entgegen der offenbar vom BFA in der Revision vertretenen Meinung - nicht, dass bei der Beurteilung, ob die Sicherstellung eines Reisepasses rechtmäßig war, sämtliche Umstände, die dem Akt der Sicherstellung zeitlich nachgelagert sind, ausgeblendet werden müssen. Vielmehr ist bei der Prüfung der Schwere des Eingriffs und seiner Verhältnismäßigkeit nicht nur eine punktuelle Betrachtung anzustellen, sondern auf sämtliche Auswirkungen Bedacht zu nehmen, die bereits im Zeitpunkt der Sicherstellung des Reisepasses absehbar sind.
16 Im vorliegenden Fall kann die Vorgangsweise des BFA nicht anders gedeutet werden, als dass beabsichtigt war, den Reisepass (zumindest) für die gesamte Dauer des Verfahrens über den Antrag der Mitbeteiligten nach § 55 AsylG 2005 sicherzustellen. Diesen Zweck der Sicherstellung verdeutlichen auch die Äußerungen des BFA im Maßnahmenbeschwerdeverfahren, in denen vor allem auf Verfahrensschritte im Gefolge einer Rückkehrentscheidung, die mit einer allfälligen Abweisung des Antrages zu verbinden wäre, hingewiesen wurde. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen in der Revision zur Begründung eines Sicherstellungsinteresses, dass im Falle einer Abschiebung bei Vorliegen eines gültigen Reisepasses die Einholung eines Ersatzreisedokumentes nicht erforderlich sei.
17 Vor diesem Hintergrund war es nicht zu beanstanden, dass das BVwG die schon im Zeitpunkt der Sicherstellung des Reisepasses am 19. Juni 2019 absehbaren Beeinträchtigungen, die sich für die Mitbeteiligte für die gesamte Verfahrensdauer im täglichen Leben ohne Verfügbarkeit des Reisepasses ergaben, in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einbezog. Dass es dabei zum Ergebnis gelangte, diese Nachteile überwögen die Vorteile für das BFA in Bezug auf Vorbereitungsmaßnahmen für die Abschiebung im - vom BVwG in der gegenständlichen Konstellation zu Recht als „ungewiss“ eingeschätzten - Fall der Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt anschließender Abschiebung, und dass es daraus folgerte, die Sicherstellung des Reisepasses sei deshalb unverhältnismäßig gewesen, war aber fallbezogen nicht unvertretbar (vgl. zur Maßgeblichkeit des Vertretbarkeitskalküls für die Frage der Zulässigkeit der Revision unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme etwa zuletzt VwGH 26.7.2022, Ra 2022/21/0093, Rn. 16, mwN).
18 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang ferner vorbringt, dass dem BFA angesichts der Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts der Mitbeteiligten im Antragstellungszeitpunkt die Sicherstellung des Reisepasses für einen begrenzten Zeitraum zugunsten einer Grobprüfung über die Wahrscheinlichkeit einer allfälligen Aufenthaltsbeendigung gestattet sein müsse, genügt der Hinweis, dass eine derartige Begründung für die Sicherstellung vom BFA im Maßnahmenbeschwerdeverfahren nicht vorgetragen wurde und auch im Widerspruch zu den dort gemachten Äußerungen steht (siehe oben Rn. 16 iVm Rn. 5/6).
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 13. Oktober 2022
Schlagworte
Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020210213.L00Im RIS seit
15.11.2022Zuletzt aktualisiert am
15.11.2022