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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter betreffend eine Familie von Staatsangehörigen des Irans bzw Iraks wegen mangelhafter Auseinandersetzung mit der Sicherheitslage im Irak und der konkreten Rückkehrsituation im Hinblick auf einen Minderjährigen; Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Erlassung von Rückkehrentscheidungen, mangelnde Interessenabwägung sowie unzureichender Auseinandersetzung mit der Trennung von Mutter und SohnSpruch
I. Den Anträgen auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird stattgegeben.
II. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran bzw Irak, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung in den Iran bzw Irak zulässig sei und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wurden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.
Die Beschwerdeführer sind zudem durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, und die daran anknüpfenden Spruchpunkte abgewiesen wurden, auch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.
III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 3.008,40 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Erstbeschwerdeführerin, geboren am 25. Mai 1987, und der minderjährige Zweitbeschwerdeführer, geboren am 8. September 2014, sind iranische Staatsangehörige, die der kurdischen Volksgruppe angehören und sich zum sunnitischen Islam bekennen. Der am 17. Februar 2020 in Österreich geborene minderjährige Drittbeschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweit- und Drittbeschwerdeführer. Der Vater des Zweitbeschwerdeführers ist ein früherer Ehemann der Erstbeschwerdeführerin, der nicht Beschwerdeführer vor dem Verfassungsgerichtshof ist. Er wird im angefochtenen Erkenntnis als Viertbeschwerdeführer bezeichnet.
Die Erstbeschwerdeführerin hat mit diesem früheren Ehemann und dem gemeinsamen Sohn – dem minderjährigen Zweitbeschwerdeführer – den Iran verlassen. Die Familie stellte nach legaler Einreise in das Bundesgebiet am 11. Jänner 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Für den in Österreich geborenen minderjährigen Drittbeschwerdeführer wurde am 12. März 2020 ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Die Erstbeschwerdeführerin lebt in Österreich mit ihren Söhnen und ihrem neuen Lebensgefährten – einem irakischen Staatsangehörigen, dessen Antrag auf internationalen Schutz mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. Februar 2020 rechtskräftig abgewiesen wurde – in einem gemeinsamen Haushalt. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 15. Juni 2020 wurde festgestellt, dass es sich bei dem irakischen Lebensgefährten um den leiblichen Vater des minderjährigen Drittbeschwerdeführers handle.
2. Mit Bescheiden vom 2. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurden die Anträge auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran abgewiesen. Weiters wurden keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers in den Iran gemäß §46 FPG zulässig sei. Zudem wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen gesetzt.
3. Mit Bescheid vom 2. September 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Drittbeschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Weiters wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des minderjährigen Drittbeschwerdeführers in den Irak gemäß §46 FPG zulässig sei. Zudem wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.
4. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 9. Februar 2021 als unbegründet ab.
Das Bundesverwaltungsgericht schloss eine asylrelevante Verfolgung mangels glaubhaften Fluchtvorbringens aus. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten erachtete es für nicht gegeben und hielt in seiner rechtlichen Beurteilung in Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin, ihren damaligen Ehemann, der im angefochtenen Erkenntnis als Viertbeschwerdeführer geführt wird, und den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer fest:
"[…] Nach den getroffenen Länderfeststellungen herrscht im Iran ferner nicht eine generell unsichere, von bewaffneten Unruhen geprägte Lage, aufgrund derer die BF bei einer Rückkehr einer konkreten Gefährdung ausgesetzt werden würden.
Ferner ist die Grundversorgung sowie die medizinische Versorgung grundsätzlich gewährleistet und besteht den länderkundlichen Feststellungen zufolge auch die Möglichkeit der Beziehung von Sozialbeihilfen.
[…]
Bei den BF handelt es sich um eine Familie mit einem minderjährigen Kinde, wobei die BF1 und der BF4 im erwerbsfähigen Alter sind und bei ihnen die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Sie verfügen beide im Herkunftsstaat auch über Angehörige (zahlreiche Geschwister und eine [Schwieger-]Mutter). Ebenso würden sich weitere weitschichtige Verwandte im Iran aufhalten. Es sind jedenfalls keine Gründe ersichtlich, warum die beiden Erwachsenen im Iran keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können sollten bzw im Falle von Anfangsschwierigkeiten keine Unterstützung durch ihre Verwandten und Freunde finden würden. BF1 und BF4 sind auch in der Lage die Versorgung von BF2 sicherstellen zu können, zumal beide, insbesondere aber der BF4, schon vor ihrer Ausreise im Jahr 2016 jahrelang erwerbstätig gewesen sind.
BF1 und BF4 sind im Iran aufgewachsen und haben dort neun bzw zwölf Jahre die Schule besucht. Sie haben danach in zahlreichen Berufen gearbeitet und durch die Einkünfte aus diesen Anstellungen ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Die beiden erwachsenen BF sind gesund sowie in einem jungen und arbeitsfähigen Alter. Sie wurden im Iran sozialisiert und es ist Personen im Alter von Mitte 30 bzw Mitte 40 zuzumuten, sich in einer neuen Umgebung innerhalb des Iran niederzulassen und sich dort eine Existenz aufzubauen. Die BF sind generell gesund und die BF1 und der BF4 sind auch arbeitsfähig. […]"
Hinsichtlich des minderjährigen Drittbeschwerdeführers führte das Bundesverwaltungsgericht aus:
"[…] Beim BF3 handelt es sich um einen gesunden Buben, der irakischer Staatsangehöriger ist und nur zusammen mit seinem leiblichen Vater in sein Herkunftsland abgeschoben werden würde. Ein Vorbringen, das diese Annahme in Zweifel ziehen könnte, wurde nicht erstattet. Anlassbezogen sind auch keine Umstände hervorgekommen, dass dem BF3 zusammen mit seinem leiblichen Vater eine Rückkehr in sei[n]en Herkunftsstaat nicht möglich oder zumutbar sei, zumal bereits rechtsrechtkräftig festgestellt wurde, dass dem leiblichen Vater des BF eine Rückkehr dorthin zumutbar ist.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass ihm bei seiner Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art3 EMRK überschritten wäre (vgl hierzu grundlegend VwGH vom 16.07.2003, Zl 2003/01/0059); so hat er selbst kein Vorbringen dahingehend erstattet bzw glaubhaft gemacht, dass ihm bei einer Rückführung in den Herkunftsstaat jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Daraus lassen sich auch keine Anhaltspunkte in Hinblick auf ein etwaiges Fehlen einer Existenzgrundlage erblicken.
Diese Ansicht wird auch dadurch gestärkt, dass er im Falle seiner Rückkehr von seinem leiblichen Vater unterstützt werde. Selbst unter Berücksichtigung eines möglicherweise eingeschränkten familiären Netzes ist im gegenständlichen Anlassfall davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht in eine Situation geraten wird, die dem Fehlen einer Existenzgrundlage bzw einer lebensbedrohlichen Situation gleichkäme. […]"
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und Verfahrenshilfe sowie die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat die Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten vorgelegt und ebenfalls auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet.
II. Erwägungen
A. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran bzw Irak, die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet.
1. Zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten:
1.1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
1.2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:
1.2.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
1.2.2. Hinsichtlich des Drittbeschwerdeführers trifft das Bundesverwaltungsgericht zwar Feststellungen zur allgemeinen Gefährdungslage von Minderjährigen im Irak. Jedoch ist nicht ersichtlich, von welcher tatsächlichen Rückkehrsituation das Bundesverwaltungsgericht ausgeht:
Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Irak insbesondere damit, dass der Drittbeschwerdeführer nur gemeinsam mit seinem leiblichen Vater rückgeführt würde, dessen Asylverfahren bereits rechtskräftig negativ entschieden worden und dem eine Rückkehr in den Irak zumutbar sei. Es trifft jedoch weder Feststellungen zur Herkunftsregion des Vaters, der dortigen Sicherheitslage, den konkreten Lebensumständen und einem allfälligen Unterstützungsnetzwerk. Da die Sicherheitslage im Irak von Provinz zu Provinz variiert (vgl VfSlg 20.141/2017) und es sich beim Drittbeschwerdeführer um einen Minderjährigen und somit um eine besonders vulnerable Person handelt (vgl die Definition schutzbedürftiger Personen in Art21 der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [Aufnahmerichtlinie]; VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0089; vgl auch VfGH 11.6.2018, E1815/2018), ist jedoch eine konkrete Auseinandersetzung erforderlich, wie sich die Situation des Drittbeschwerdeführers tatsächlich nach seiner Rückkehr darstellen würde. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich daher im Hinblick auf den zum Zeitpunkt der Entscheidung elf Monate alten Drittbeschwerdeführer und dessen verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK als nicht ausreichend nachvollziehbar.
2. Zur Rückkehrentscheidung:
2.1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
2.2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht auch bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung unterlaufen: Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die konkreten Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung der Beschwerdeführer auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder zu ermitteln und zu berücksichtigen (vgl zB VfSlg 19.362/2011; VfGH 28.11.2019, E707/2019; 24.11.2020, E3806/2019; 8.6.2021, E575/2021, jeweils mwN). Eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles kann zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/2010 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99, und EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; vgl auch VfGH 12.10.2016, E1349/2016; 8.6.2021, E575/2021). Bei seiner Interessenabwägung hat das Bundesverwaltungsgericht lediglich auf das Verhältnis der Erstbeschwerdeführerin zu den in Österreich lebenden Geschwistern ihres vormaligen Ehemannes und zu ihrem irakischen Lebensgefährten Bedacht genommen, wobei es festgehalten hat, dass auf die familienähnliche Lebensgemeinschaft mit dem Vater des minderjährigen Drittbeschwerdeführers nicht näher einzugehen sei, da die Beziehung und die Zeugung des gemeinsamen Kindes zu einem Zeitpunkt eingegangen worden bzw geschehen sei, in dem sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen seien. Auf den Umstand, dass gegen den minderjährigen Drittbeschwerdeführer – im Gegensatz zur Erstbeschwerdeführerin und zum Zweitbeschwerdeführer – mit dem angefochtenen Erkenntnis keine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Iran, sondern den Irak erlassen worden ist, und auf die damit verbundene Trennung der Familie, insbesondere von Mutter und Sohn, geht das Bundesverwaltungsgericht nicht ein. Damit hat es die Auswirkungen der Entscheidung auf das Kindeswohl nicht berücksichtigt (vgl zur Berücksichtigung des Kindeswohles bei der Interessenabwägung nach Art8 EMRK VfSlg 19.362/2011; VfGH 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018; vgl auch VwGH 1.10.2021, Ra 2020/21/0299).
Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände nicht berücksichtigt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Erstbeschwerdeführerin ihres unsicheren Aufenthaltes hätte bewusst sein müssen – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Mangel belastet (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, eine Verletzung von Art8 EMRK aber nicht ausschließt, etwa VfSlg 18.223/2007).
2.3. Weiters hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Entscheidung vom 14. Jänner 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Retour d’un mineur non accompagné), Rs. C-441/19, ausgesprochen, dass vor der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen (unbegleiteten) Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung dessen Situation unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohles zu erfolgen hat, was eine Vergewisserung darüber umfasst, dass für den Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht (vgl dazu auch VfGH 24.2.2021, E3948/2020).
Im angefochtenen Erkenntnis und in der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 12. Jänner 2021 ergeben sich keine Anhaltpunkte dafür, dass der Vater des minderjährigen Drittbeschwerdeführers tatsächlich mit diesem gemeinsam in den Irak ausreisen würde. Insbesondere finden sich keine Hinweise dahingehend, ob der Vater willens und in der Lage ist, den Minderjährigen nach einer Rückkehr in den Irak zu unterstützen. Unterstützungsmöglichkeiten durch andere Familienangehörige wurden vom Bundesverwaltungsgericht ebenso nicht festgestellt. Auch aus diesem Grund hat das Bundesverwaltungsgericht sein Erkenntnis mit Willkür iSd ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung belastet.
3. Diese Mängel schlagen gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidung betreffend die jeweils anderen Beschwerdeführer durch (vgl VfSlg 19.855/2014), sodass das Erkenntnis bzgl. aller Beschwerdeführer im selben Umfang aufzuheben ist.
B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Erkenntnis in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, insoweit nicht anzustellen.
Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten richtet, abzusehen.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran bzw Irak, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Iran bzw Irak und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wurden, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Rückkehrentscheidungen und die daran anknüpfenden Spruchpunkte abgewiesen wurden, auch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.
3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG zur Entscheidung abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 501,40 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.
Schlagworte
Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung, Kinder, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E979.2021Zuletzt aktualisiert am
14.11.2022