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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Anordnung der Außerlandesbringung eines Staatsangehörigen von Syrien nach Malta im Rahmen eines Dublin-Verfahrens; keine Auseinandersetzung mit Länderberichten zu den Haftbedingungen für Dublin-Rückkehrer in MaltaSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger, reiste über Libyen nach Malta und schließlich weiter nach Österreich, wo er am 2. Oktober 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Da er nach der Eurodac-Datenbank bereits am 17. September 2021 in Malta einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, ersuchte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Malta mit Schreiben vom 12. Oktober 2021 gemäß Art18 Abs1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-Verordnung), ABl. 2013 L 180, 31, um eine Wiederaufnahme. Malta stimmte diesem Ersuchen mit Schreiben vom 14. Oktober 2021 zu.
Mit Bescheid vom 25. November 2021 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers gemäß §5 Abs1 AsylG 2005 als unzulässig zurück, ordnete gemäß §61 Abs1 Z1 FPG die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers an und erklärte gemäß §61 Abs2 FPG die Abschiebung nach Malta für zulässig.
2. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 27. Jänner 2022 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht geht mit Verweis auf die persönliche Situation des Beschwerdeführers – dieser ist jung, gesund und arbeitsfähig – und die Länderberichte davon aus, dass eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Malta mit seinen Grundrechten vereinbar und Österreich sohin nicht gemäß Art3 Abs2 UAbs2 und 3 Dublin III-Verordnung für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit Art3 EMRK bzw Art4 GRC führt das Bundesverwaltungsgericht auszugsweise aus:
"Der Beschwerdeführer räumte selbst ein, aufgrund seiner illegalen Einreise inhaftiert worden zu sein. Auch in Österreich wird nach illegaler Einreise regelmäßig Schubhaft verhängt. Die Tatsache alleine, dass er in Malta in Haft genommen wurde, ist somit kein Grund, die Zuständigkeit Maltas zur Prüfung seines Asylantrages in Frage zu stellen. Auch die Tatsache, dass dem Beschwerdeführer das Essen nicht geschmeckt hat, ist kein objektives, zu beachtendes, Kriterium zur Feststellung des zuständigen Dublin-Staates.
Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer weder systemische Mängel des maltesischen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylwerber, noch eine ihm widerfahrene unmenschliche Behandlung im Sinne des Art3 EMRK in Malta jemals substantiiert geltend machte.
Die staatlichen Unterstützungsleistungen für Asylwerber in Malta umfassen neben der Unterbringung auch finanzielle Zuwendungen für Nahrung und Kleidung sowie Taschengeld. Diese Leistungen stehen ab Antragseinbringung zu; eine Bestimmung hinsichtlich der maximalen Dauer der Unterstützung besteht nicht. Nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid unterliegen Dublin-Rückkehrer in Malta grundsätzlich dem normalen Asylverfahren. Alle Dublin-Rückkehrer haben Zugang zum Asylverfahren. Wenn ein Antragsteller Malta ohne Erlaubnis verlassen hat, wird sein Asylantrag als implizit zurückgezogen betrachtet. Ein solcher Rückkehrer kann jedoch innerhalb einer bestimmten Frist die Wiedereröffnung des Verfahrens beantragen. Ist die Frist verstrichen, wird der Antrag als neuer Antrag behandelt. Materielle Versorgung wird den Antragstellern immer angeboten. Möglich ist allerdings eine Inhaftierung, wenn ein Antragsteller Malta ohne Erlaubnis verlassen hat, um sicher zu stellen, dass dieser nicht wieder untertaucht. Eine solche Schubhaft ist, wie dargelegt, auch in Österreich durchaus möglich und verhindert die Aussicht, allenfalls in Haft genommen zu werden, nicht prinzipiell die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat nach der Dublin-Verordnung.
Es bestehen für das Gericht nach den Länderfeststellungen keine Zweifel, dass dem Beschwerdeführer, eine Asylantragstellung nach Rückkehr vorausgesetzt, eine ordnungsgemäße Unterbringung und Verpflegung sowie medizinische Versorgung zukommen werden. Alle Asylwerber haben nach maltesischem Recht Zugang zu kostenloser medizinischer Basisversorgung."
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere in den Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander sowie nicht unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu sein, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Dies begründet der Beschwerdeführer ausführlich unter Bezugnahme auf die auch vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen dahingehend, dass insbesondere Dublin-Rückkehrer systematisch inhaftiert würden und unmenschlichen bzw erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt seien. Unter anderem hat im Hinblick auf diese jüngst auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Malta eine Verletzung von Art3 EMRK angelastet.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
II. Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1. §5 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 87/2012 lautet:
"Zuständigkeit eines anderen Staates
§5. (1) Ein nicht gemäß §§4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des §9 Abs2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art8 EMRK führen würde.
(2) Gemäß Abs1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.
(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs1 Schutz vor Verfolgung findet."
2. §61 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 24/2016 lautet:
"Anordnung zur Außerlandesbringung
§61. (1) Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß §68 Abs1 AVG oder
2. er in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dieser Mitgliedstaat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung dieses Antrages zuständig ist. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(2) Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.
(3) […]"
3. Art3 der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-Verordnung), ABl. 2013 L 180, 31, lautet:
"Artikel 3
Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz
(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.
(2) Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.
Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.
(3) Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie 32/2013/EU in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Gemäß §5 Abs1 AsylG 2005 ist ein nicht nach §4 AsylG 2005 (Schutz im sicheren Drittstaat) oder nach §4a AsylG 2005 (Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz) erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Eine Zurückweisung hat iSd Art3 Abs2 UAbs2 Dublin III-Verordnung dann zu unterbleiben, wenn sich eine Überstellung an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat als unmöglich erweist, weil wesentliche Gründe für die Annahme vorliegen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung iSd Art4 GRC mit sich bringen (vgl dazu VwGH 8.9.2015, Ra 2015/18/0113; 7.4.2022, Ra 2021/14/0253).
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union hat eine Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat iSd Dublin III-Verordnung dann zu unterbleiben, wenn dem die Zuständigkeit prüfenden Gericht (bzw der Behörde) "nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylwerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden" (EuGH 19.3.2019, Rs C-163/17, Jawo, Rz 85 mwN).
Das mit der Rechtssache befasste Gericht – wie zuvor auch die befasste Behörde – trifft demnach die Verpflichtung, "auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen", die einer Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz entgegenstehen (EuGH, Jawo, Rz 90).
Diese "Schwachstellen" sind nur dann im Hinblick auf Art4 GRC bzw Art3 EMRK relevant, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (EuGH, Jawo, Rz 91 mit Verweis auf EGMR 21.1.2011 [GK], Fall M.S.S./Belgien und Griechenland, Appl 30.696/09), indem etwa "die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre" (EuGH, Jawo, Rz 92).
3.2. Das Bundesverwaltungsgericht verneint mit Verweis auf die Länderberichte zu Malta die reale Gefahr einer Verletzung der nach Art3 EMRK bzw Art4 GRC verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte des Beschwerdeführers im Falle seiner Überstellung und verweist dabei pauschal auf bestehende Versorgungs- und Unterbringungsmöglichkeiten bzw erachtet mit ebenso pauschaler Begründung eine den Länderinformationen nach regelmäßig erfolgende Inhaftierung von "Dublin-Rückkehrern" für unproblematisch. In diesem Zusammenhang misst das Gericht auch dem Vorbringen des Beschwerdeführers, nach der Einreise nach Malta bereits inhaftiert und in der Haft nicht adäquat behandelt worden zu sein, keine Bedeutung bei.
3.3. Zwar begründet die Haft im Falle der Überstellung für sich genommen noch keinen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer im Hinblick auf Art3 EMRK bzw Art4 GRC relevanten Schwachstelle. Art3 EMRK bzw Art4 GRC verpflichtet aber auch zur Prüfung der Haftbedingungen und dazu, sich zu vergewissern, dass diese Bedingungen die Menschenwürde nicht verletzen, sohin die Haft in einer Art und Weise erfolgt, die die inhaftierte Person keinem unnötigen Leid oder einer unbilligen Härte aussetzt und sichergestellt ist, dass ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden hinreichend gesichert sind (s nur EGMR, Fall M.S.S./Belgien und Griechenland, Z221; 20.10.2016 [GK], Fall Murši? /Kroatien, Appl 7334/13, Z99; EuGH 21.12.2011, Rs C-411/10 ua, N.S./Secretary of State for the Home Department ua, Rz 88).
In diese Beurteilung sind die Auswirkungen der Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit sowie das spezifische Vorbringen der betroffenen Person einzubeziehen. Dabei ist insbesondere ein extremer Mangel an persönlichem Raum entsprechend schwer zu gewichten (s nur EGMR, Fall Murši?/Kroatien, Z105 und Z136 ff mwN der Judikatur, wonach im Falle einer Mehrfachbelegung weniger als drei Quadratmeter pro inhaftierter Person die Vermutung einer Art3 EMRK-Verletzung nahelegen). Neben dem persönlichen Raum sind auch weitere Aspekte in die Beurteilung miteinzubeziehen, wie etwa die Möglichkeit, sich im Freien zu bewegen, der Zugang zu natürlichem Licht und Luft, die Verfügbarkeit adäquater Belüftungs- und Wärmeanlagen und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Standards sowie die Dauer der Inhaftierung unter bestimmten Bedingungen (s etwa EGMR 23.7.2013, Fall Aden Ahmed/Malta, Appl 55352/12, Z86 ff.; Fall Murši?/Kroatien, Z103 ff.; 11.3.2021, Fall Feilazoo/Malta, Appl 6865/19, Z83 ff.).
Hinsichtlich der Haft und den Lebensbedingungen inhaftierter Asylwerber in Malta ist den im Bescheid abgedruckten Länderberichten, die das Bundesverwaltungsgericht auch seinem Erkenntnis zugrunde legt, zu entnehmen:
"In Malta ist die Agency for the Welfare of Asylum Seekers (AWAS) für die Unterbringung von Asylwerbern zuständig. Derzeit werden aufgrund der hohen Zahl an Migranten vorerst alle irregulär eingereisten bzw, auf See geretteten Antragsteller, die nicht offensichtlich vulnerabel oder minderjährig sind, inhaftiert, bis offene Unterbringung verfügbar wird. Malta wird wegen dieser systematischen Inhaftierung von Asylwerbern stark kritisiert. Die Unterbringung hängt also von den jeweils verfügbaren Plätzen ab (AIDA 5.2021).
[…]
Personen, welche bereits einmal eine offene Unterbringung verlassen haben, dürfen nicht generell damit rechnen wieder untergebracht zu werden, was für Folgeantragsteller ein Problem sein kann. Laut der Agentur für das Wohl der Asylwerber (AWAS) besteht die Möglichkeit einer erneuten Zulassung zur Unterbringung in den Aufnahmezentren, dies ist aber selten der Fall. Es gibt diesbezüglich keine konkreten formalen Kriterien, aber Vulnerabilität genießt einen gewissen Vorrang. In Anbetracht der angespannten Situation ist eine Reintegration in das Unterbringungssystem aber als extrem selten anzusehen (AIDA 5.2021).
Malta hat 2020 immer wieder betont, volle Zentren und keinen Platz mehr für Antragsteller zu haben (AIDA 5.2021).
[…]
Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) hat nach seinem Besuch in Malta im September 2020 von schlechten Bedingungen in der geschlossenen Unterbringung von Migranten berichtet und diese als 'behördliche Vernachlässigung' und 'an unmenschliche und erniedrigende Behandlung grenzend' bezeichnet (CoE 10.3.2021)."
In dem im Länderinformationsblatt zitierten Bericht des Europarates vom 10. März 2021 (Report to the Maltese Government on the visit to Malta carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment [CPT]) – auf den auch in der Beschwerde hingewiesen wird – werden die Haftbedingungen zusammenfassend wie folgt beschrieben:
"Overall, the CPT's delegation found a system that was struggling to cope, and which relied on a purely 'containment' approach for immigration detention. Conditions of detention and associated regimes for migrants deprived of their liberty appeared to be bordering on inhuman and degrading treatment as a consequence of the institutional neglect.
Migrants were generally locked in accommodation units with little, if any, access to time outside, in severely overcrowded spaces, and essentially forgotten for months on end. This neglect came from both the management and staff of the establishments, but also from a government policy that has not focussed sufficiently on how to cope with the increasing numbers of migrant arrivals. As a result, it was detaining migrants en masse, many for unlawful and arbitrarily long periods under public health orders and others for long periods under the reception and removal orders, along with a lack of due process safeguards.
The cumulative effect of a lack of basic rights, poor conditions and frustration at long detention periods and a lack of information on their situation, has contributed to a notable increase in escapes, attempted escapes and riots from June 2020 onwards.
[…]
The Covid-19 pandemic has served only to push a strained immigration reception and detention system to the point of breaking. Most migrants appeared to have no lawful basis for their detention and were held in severely overcrowded facilities under extremely poor living conditions, offered no purposeful activities, and with an absence of regular and clear information being imparted to them. Moreover, the lack of information was exacerbated by the restricted contacts with the outside world (limited access to telephone communication and no NGOs or external organisations visiting the places of detention since March 2020). The long lock-down and quarantine of migrants of all ages, along with poor conditions, have resulted in mass neglect and instilled a deep frustration in migrants, at times exploding into violent riots."
3.4. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt zwar den Umstand in den Blick, dass der Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Malta mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, in Haft genommen zu werden. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es in der Folge aber gänzlich, sich mit den maßgeblichen Haftbedingungen in Malta auseinanderzusetzen, ungeachtet dessen, dass die vom Bundesverwaltungsgericht selbst herangezogenen Länderinformationen diese ausführlich problematisieren und der Beschwerdeführer mit näherer Begründung insofern eine Verletzung seiner Rechte geltend macht.
3.5. Dazu kommt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom 11. Juni 2021, Fall Feilazoo/Malta, Appl 6865/19 (Z84 ff.), die Verletzung eines nicht vulnerablen Mannes in seinen Grundrechten nach Art3 und 5 Abs1 EMRK im Hinblick auf dessen lange Haftdauer und die Haftbedingungen im Zuge seines Einwanderungsverfahrens in Malta – 14 Monate in Haft, davon 75 Tage in einem Container in Einzelhaft ohne Zugang zu natürlichem Licht oder Luft in den ersten 40 Tagen und ohne Möglichkeit, sich sportlich zu betätigen; zudem war der Beschwerdeführer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ohne Anlass für sieben weitere Wochen zusammen mit neu angekommenen Asylwerbern in Covid-19-Quarantäne – festgestellt hat.
Der Verfassungsgerichthof übersieht nicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davor in vergleichbaren Beschwerdeverfahren die Haftbedingungen in Malta zwar teilweise in Hinblick auf die sanitären und hygienischen Zustände kritisiert, aber darin keine Verletzung von Art3 EMRK gesehen hat (vgl EGMR 29.10.2015, Fall Story and others/Malta, Appl 56.854/13 ua, Z107 ff.; 12.1.2016, Fall Moxamed Ismaaciil and Abdirahman Warsame/Malta, Appl 52.160/13 und 52.165/13, Z84 ff.). Vor dem Hintergrund der oben erwähnten jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und der eine maßgebliche Verschlechterung der Haftbedingungen insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie darlegenden aktuellen Länderinformationen belastet aber das Fehlen jeglicher Ausführungen zu den Haftbedingungen für Dublin-Rückkehrer in Malta (vgl Rz 21 ff.) das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes mit Willkür.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, AußerlandesbringungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E622.2022Zuletzt aktualisiert am
14.11.2022