TE Vfgh Erkenntnis 2022/9/20 E374/2022

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Veröffentlicht am 20.09.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3
VfGG §7 Abs2
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Asylstatus betreffend einen Staatsangehörigen von Nigeria, mangelhafte Auseinandersetzung mit der Fehlbildung der Lippe eines Minderjährigen im Hinblick auf die Situation von Kindern mit Behinderung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der am 15. September 2021 in Österreich geborene Beschwerdeführer ist nigerianischer Staatsangehöriger. Vertreten durch seine Mutter stellte er am 28. September 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet abwies. Zugleich erkannte es ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

2. Die gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 28. Dezember 2021 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und verneinte (ua) eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers aus religiösen Gründen wegen seiner angeborenen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Dazu, dass diese Fehlbildung keine asylrelevante Verfolgung begründet, führt das Bundesverwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung aus:

"In der Beschwerde wird richtigerweise auf die Lippenspalte des Beschwerdeführers sowie auf die teilweise sehr problematische Lage von Kindern und den oft besorgniserregenden Umgang mit Menschen, die an gesundheitlichen Problemen und oder Behinderungen leiden, hingewiesen.

Ungeachtet dessen sind nicht alle Menschen mit Behinderungen, Erkrankungen oder Fehlbildungen in Nigeria dem Risiko ausgesetzt, das erforderlich ist, um begründete Furcht vor Verfolgung zu begründen. Bei der individuellen Beurteilung, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Antragstellers besteht, sollten nach dem aktuellen EASO Country Guidance zu Nigeria risikobeeinflussende Umstände berücksichtigt werden, wie beispielsweise die Art und Sichtbarkeit der geistigen oder körperlichen Behinderung, Wahrnehmung durch die Familie und die umgebende Gesellschaft, etc.

Die Lippenspalte stellt zwar eine Fehlbildung dar, die insbesondere aus kosmetischer Sicht störend ist, jedoch kann in Anbetracht der oben dargestellten Länderinformationen nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass ihm deshalb im Fall der Rückkehr eine Verfolgung aus religiösen Gründen droht. Menschen mit Fehlbildungen können in Nigeria häufig unter Diskriminierung oder schlechter Behandlung leiden, diese müssen aber nicht im Zusammenhang mit religiösen Gründen stehen, sondern sind in der Regel auf soziale Stigmatisierung, negative Assoziationen und Vorurteile zurückzuführen.

Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid vom 03.11.2021 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Dieser Schutzstatus wird Personen unter anderem gewährt, wenn deren Leben oder Unversehrtheit im Herkunftsstaat etwa wegen erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung und oder allgemeiner Menschenrechtsverletzungen bedroht wird. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts sind die im Raum stehenden Gefahren, die dem Beschwerdeführer drohen könnten, vom Bundesamt durch die Gewährung des Status von subsidiär Schutzberechtigten hinreichend berücksichtigt worden. Eine asylrelevante Verfolgungsgefahr im Falle der Rückkehr aufgrund der Lippenspalte ist dagegen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben."

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Das Bundesverwaltungsgericht habe jede Ermittlung im Hinblick auf die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte unterlassen, insbesondere auch keine mündliche Verhandlung durchgeführt. Daher sei die Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichtes, dass diese Fehlbildung keine Asylrelevanz habe, mit Blick auf die Länderberichte nicht nachvollziehbar.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Gemäß §3 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art1 Abschnitt A Z2 GFK, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.

3.2. Aus den Länderinformationen, die das Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde legt, geht zunächst allgemein hervor, dass in Nigeria der Glaube an Hexerei weit verbreitet ist. Präzisierend wird in dem Bericht des EASO "Country Guidance: Nigeria" aus Oktober 2021 (Seite 74) – auf den auch das Bundesverwaltungsgericht im Allgemeinen hinweist – ausgeführt, dass Personen, insbesondere ältere Frauen, Kinder und Personen, die "irgendwie anders", gefürchtet oder unbeliebt sind ("in particular elderly women, children, or those 'who are somehow different', feared or disliked"), gefährdet sind, der Hexerei beschuldigt und deswegen Opfer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen (zB: Tötung, körperliche oder sexuelle Gewalt) zu werden. Da dem Bericht zufolge nicht bei allen Personen, die ein solches Risikoprofil erfüllen, die Misshandlungen ein Ausmaß annehmen, das einer asylrelevanten Verfolgung gleichkommt, ist im Einzelfall auf risikoerhöhende Umstände Bedacht zu nehmen, wie etwa auf eine sichtbare Behinderung bei Kindern.

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht führt zunächst unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Länderinformationen aus, dass die ihm vorliegende Beschwerde richtigerweise unter Bezugnahme auf die Lippenspalte des Beschwerdeführers auf die teilweise sehr problematische Lage unter anderem von Kindern, die eine Behinderung haben, hinweist. Es nimmt in der Folge auch die in den Länderinformationen angesprochene individuelle Beurteilung dahingehend vor, dass die in Rede stehende Lippenspalte eine aus kosmetischer Sicht störende Fehlbildung darstelle, die jedoch nicht dergestalt sei, dass sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Ursache für eine in den Länderinformationen dokumentierte asylrelevante Verfolgung wäre. Diese Würdigung der Fehlbildung als im Hinblick auf "Art und Sichtbarkeit" lediglich aus "kosmetischer Sicht störend", nicht aber geeignet, eine asylrelevante Verfolgung zu begründen, stützt das Bundesverwaltungsgericht offensichtlich auf ein im Verwaltungsakt einliegendes 3 x 4 cm großes Foto des Beschwerdeführers, das sich am Speicherauszug über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung vom 7. Dezember 2021 befindet.

Weder ist in den Verfahrensakten eine andere Abbildung des Beschwerdeführers, die die maßgebliche Fehlbildung zeigt, noch sind sonstige Beschreibungen oder Erläuterungen zu dieser Fehlbildung dokumentiert. Auch einen persönlichen Eindruck etwa in einer mündlichen Verhandlung hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht verschafft. Das Bundesverwaltungsgericht stellt auch keine Überlegungen oder Ermittlungen dazu an, wie sich die sichtbare Fehlbildung bei dem im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes drei Monate alten Beschwerdeführer entwickeln wird.

Damit fehlte dem Bundesverwaltungsgericht die erforderliche Tatsachenbasis, um eine willkürfreie Beurteilung vornehmen zu können, ob dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht. Auch der Verweis des Bundesverwaltungsgerichtes darauf, dass die in Rede stehenden Gefahren, die dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat drohen könnten, (auch bereits) bei der Entscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, berücksichtigt worden seien, kann die gebotene Prüfung, ob eine asylrelevante Verfolgung vorliegt und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist, nicht ersetzen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Kinder, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Verhandlung mündliche

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E374.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.11.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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