TE Vwgh Erkenntnis 2022/10/14 Ra 2018/22/0227

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.10.2022
beobachten
merken

Index

Auswertung in Arbeit!

Norm

Auswertung in Arbeit!

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmanns von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 17. Juli 2018, VGW-151/084/5629/2018-3, VGW-151/084/5633/2018 und VGW-151/084/5635/2018, betreffend Wiederaufnahme von Verfahren nach dem NAG (mitbeteiligte Parteien: 1. J K, 2. S K, und 3. T K, alle vertreten durch Mag. Stefan Errath, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Untere Viaduktgasse 6/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1.1. Der Erstmitbeteiligte ist der Vater des Zweit- und der Drittmitbeteiligten, alle sind serbische Staatsangehörige. Die Ehe des Erstmitbeteiligten mit der Mutter des Zweit- und der Drittmitbeteiligten, der serbischen Staatsangehörigen A K, wurde mit Urteil eines serbischen Gerichts vom 4. September 2012 geschieden. Unter einem wurde der Erstmitbeteiligte mit der alleinigen Ausübung der Elternrechte in Ansehung des Zweit- und der Drittmitbeteiligten betraut. Am 16. Oktober 2012 ging der Erstmitbeteiligte die Ehe mit der österreichischen Staatsbürgerin S G ein.

1.2. Der Erstmitbeteiligte stellte am 23. November 2012, gestützt auf seine Ehe mit S G, einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Im Zuge der Antragsprüfung ersuchte der Landeshauptmann von Wien (Revisionswerber) - aufgrund der raschen Abfolge der Scheidung des Erstmitbeteiligten von A K und seiner Eheschließung mit S G - die Landespolizeidirektion (LPD) Wien gemäß § 37 Abs. 4 NAG um Erhebungen wegen des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe. Die LPD Wien teilte im Bericht vom 6. Juni 2013 mit, es werde davon ausgegangen, dass es sich um eine aufrechte Ehe handle. Eine „genauere Beweislage“ sei derzeit nicht möglich, weil der Erstmitbeteiligte die Hälfte der Zeit in Serbien verbringe; es werde jedoch angeraten, die Ehe bei einer Verlängerung des Aufenthaltstitels neuerlich zu überprüfen. Dem Erstmitbeteiligten wurde daraufhin der beantragte Aufenthaltstitel erteilt.

Der Zweit- und die Drittmitbeteiligte stellten unter Mitwirkung des Erstmitbeteiligten (ihres gesetzlichen Vertreters) am 17. April 2014 ebenso jeweils einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG in Ableitung von ihrer Stiefmutter S G. Der beantragte Aufenthaltstitel wurde ihnen jeweils erteilt.

In der Folge stellte der Erstmitbeteiligte am 26. Juni 2014 und am 30. Juni 2015 Verlängerungsanträge sowie - nach einvernehmlicher Scheidung seiner Ehe mit S G am 20. Jänner 2016 (rechtskräftig mit 2. Februar 2016) - am 31. März 2016 einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“. Der Zweit- und die Drittmitbeteiligte stellten am 30. Juni 2015 und am 8. Juli 2016 ebenso Verlängerungsanträge, die Drittmitbeteiligte zudem am 11. Juni 2017 einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“. Die beantragten Aufenthaltstitel wurden jeweils erteilt, ohne dass der Revisionswerber weitere Erhebungen wegen des allfälligen Vorliegens einer Aufenthaltsehe veranlasste.

1.3. Am 11. August 2016 ging der Erstmitbeteiligte neuerlich die Ehe mit A K ein. Am 26. Jänner 2017 stellte A K - gestützt auf diese Ehe - einen Antrag auf Familienzusammenführung in Österreich. Der Revisionswerber ersuchte daraufhin am 28. Juli 2017 die LPD Wien neuerlich um Erhebungen wegen des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe zwischen dem Erstmitbeteiligten und S G. Die LPD Wien kam in ihrem Bericht vom 23. November 2017 zum Ergebnis, dass aufgrund der weiteren Ermittlungen (insbesondere niederschriftliche Vernehmung des Erstmitbeteiligten und der S G) von einer Scheinehe auszugehen sei.

2.1. Mit Bescheiden vom 28. Februar 2018 nahm der Revisionswerber die rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren über die Anträge des Erstmitbeteiligten vom 23. November 2012 (Erstantrag), vom 26. Juni 2014 und 30. Juni 2015 (Verlängerungsanträge) sowie vom 31. März 2016 (Zweckänderungsantrag), bzw. über die Anträge des Zweit- und der Drittmitbeteiligten vom 17. April 2014 (Erstanträge) und vom 30. Juni 2015 und 8. Juli 2016 (Verlängerungsanträge) sowie ferner über den Zweckänderungsantrag der Drittmitbeteiligten vom 11. „Juli“ (gemeint: Juni) 2017 gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf und wies unter einem den Erstantrag des Erstmitbeteiligten wegen Vorliegen einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 Abs. 1 NAG, die Erstanträge des Zweit- und der Drittmitbeteiligten mangels Familienangehörigeneigenschaft in Bezug auf S G sowie die Verlängerungs- und die Zweckänderungsanträge mangels Vorliegen eines gültigen Aufenthaltstitels gemäß § 24 NAG ab.

Der Revisionswerber führte begründend im Wesentlichen aus, aufgrund der zuletzt durchgeführten polizeilichen Ermittlungen stehe fest, dass ein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK zwischen dem Erstmitbeteiligten und S G nicht geführt worden sei, weshalb vom Vorliegen einer Aufenthaltsehe auszugehen sei. Der Erstmitbeteiligte habe dadurch, dass er sich in seinen Anträgen auf die Aufenthaltsehe gestützt habe, die ihm erteilten Aufenthaltstitel erschlichen, die auch Voraussetzung für den nach der Scheidung von S G erwirkten weiteren Aufenthaltstitel gewesen seien. Der Zweit- und die Drittmitbeteiligte hätten sich - vertreten durch den Erstmitbeteiligten, dessen Verhalten ihnen zuzurechnen sei - ebenso auf die Aufenthaltsehe berufen und dadurch die Erteilung der Aufenthaltstitel erschlichen. Sämtliche Verfahren seien daher von Amts wegen wiederaufzunehmen und die Anträge abzuweisen gewesen.

2.2. Die Mitbeteiligten erhoben gegen die Bescheide Beschwerde.

3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 17. Juli 2018 gab das Verwaltungsgericht Wien - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde statt und hob die bekämpften Bescheide ersatzlos auf.

Es ging dabei im Wesentlichen von dem oben (Punkt 1.) wiedergegebenen Sachverhalt (Verfahrensverlauf) aus.

3.2. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, ein „Erschleichen“ des Bescheids im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG liege vor, wenn die Partei gegenüber der Behörde objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht habe und die Angaben dem Bescheid zugrundegelegt worden seien. Dabei müsse die Behörde auf die Parteiangaben angewiesen sein und es müsse eine solche Lage bestehen, dass ihr nicht zugemutet werden könne, von Amts wegen noch weitere Erhebungen durchzuführen. Verabsäume die Behörde, von den ihr im Rahmen der Sachverhaltsermittlung ohne besondere Schwierigkeiten offenstehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen, so schließe dieser Mangel aus, auch objektiv unrichtige Angaben als ein „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG zu werten.

Gegenständlich habe der Revisionswerber - obwohl die LPD Wien in ihrem (im Verfahren betreffend den Erstantrag des Erstmitbeteiligten eingeholten) Bericht vom 6. Juni 2013 eine neuerliche Überprüfung im Fall der Titelverlängerung angeraten habe - in den Verfahren über die weiteren Anträge (zunächst) keine neuerlichen Ermittlungen zum Vorliegen einer Aufenthaltsehe durchgeführt. Dies sei in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht damit begründet worden, dass Aufenthaltsehen regelmäßig (erst) dann erkannt würden, wenn vom Fremden die „echte Familie“ nachgeholt werde; indes würden die beantragten Aufenthaltstitel mitunter erteilt, wenn die polizeilichen Berichte „eher dünn“ seien, wobei diesfalls aber im Verlängerungsverfahren eine nochmalige Prüfung erfolgen sollte. Vorliegend habe eine solche Überprüfung in den weiteren Verfahren allerdings nicht stattgefunden, obwohl dies problemlos möglich gewesen wäre. Der Revisionswerber habe daher seine Ermittlungspflichten verletzt, wobei dieser Mangel es ausschließe, die objektiv unrichtigen Parteiangaben als ein „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG zu werten.

Im Übrigen diene die Wiederaufnahme auch nicht dazu, jegliche Fehler der Behörde zu korrigieren. Vorliegend hätte der Revisionswerber in Bezug auf die Verlängerungsanträge des Zweit- und der Drittmitbeteiligten vom 8. Juli 2016 bei entsprechender Prüfung erkennen müssen, dass der Erstmitbeteiligte bereits von S G geschieden gewesen sei und eine Verlängerung des Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ nicht mehr in Betracht komme. Eine Wiederaufnahme könne daher insoweit nicht stattfinden. Ferner habe der Revisionswerber verkannt, dass die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch eine allenfalls rechtsmissbräuchliche Eheschließung des Erstmitbeteiligten keine Vorfrage im Verlängerungsverfahren der Kinder darstelle, sondern die Frage für jede Person eigenständig zu prüfen sei. Die Wiederaufnahme sei daher auch insoweit zu Unrecht erfolgt.

3.3. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in der - unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs - geltend gemacht wird, die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme sämtlicher Verfahren seien erfüllt.

Hinsichtlich der dem Erstmitbeteiligten bis zur Ehescheidung von S G erteilten Aufenthaltstitel sei der Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG verwirklicht. Der Erstmitbeteiligte habe eine Aufenthaltsehe geschlossen und unter Berufung auf diese die erstmalige Titelerteilung wie auch die Titelverlängerung erschlichen. Für den Revisionswerber sei das Vorliegen einer Aufenthaltsehe (zunächst) nicht erkennbar gewesen, zumal auch mit Blick auf den Bericht der LPD Wien vom 6. Juni 2013 kein diesbezüglicher Verdacht bzw. eindeutiger Nachweis bestanden habe. Weitere Erhebungen hätten dem Revisionswerber nicht zugemutet werden können. Erst aufgrund der Beantragung eines Aufenthaltstitels durch A K (nach deren erneuter Eheschließung mit dem Erstmitbeteiligten) habe sich der Verdacht einer Aufenthaltsehe erhärtet, woraufhin der Revisionswerber Erhebungen veranlasst habe, die das Vorliegen einer Aufenthaltsehe bestätigt hätten.

Hinsichtlich des dem Erstmitbeteiligten im Zweckänderungsverfahren erteilten Aufenthaltstitels komme indes der Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 Z 3 AVG in Betracht. Durch die Wiederaufnahme der vorangehenden Verfahren und die Abweisung der Anträge sei eine für das Zweckänderungsverfahren erhebliche Vorfrage nachträglich anders entschieden worden, was zur Wiederaufnahme aus dem genannten Grund führe.

Die vorangehenden Ausführungen bezögen sich sinngemäß auch auf die dem Zweit- und der Drittmitbeteiligten erteilten Aufenthaltstitel.

4.2. Die Mitbeteiligten nahmen von einer Revisionsbeantwortung Abstand.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen ist. Die Revision ist im Ergebnis auch begründet.

6.1. Der Revisionswerber wendet sich insbesondere gegen die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts, er habe die Möglichkeit einer Wiederaufnahme verwirkt, weil er keine von der LPD Wien im Bericht vom 6. Juni 2013 für den Fall einer Titelverlängerung angeratenen neuerlichen Ermittlungen zum Vorliegen einer Aufenthaltsehe durchgeführt habe.

6.2. Gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren wieder aufzunehmen, wenn der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, durch falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist. Unter diesen Voraussetzungen kann gemäß § 69 Abs. 3 AVG die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden.

6.3. Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, liegt ein „Erschleichen“ im soeben aufgezeigten Sinn dann vor, wenn die betreffende Entscheidung in einer Art zustande gekommen ist, dass die Partei gegenüber der Behörde objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht hat und die Angaben dann der Entscheidung zugrunde gelegt wurden, wobei die Verschweigung maßgeblicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs erfordert ein „Erschleichen“ zudem, dass die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen ist und ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere Ermittlungen durchzuführen (vgl. etwa VwGH 12.2.2019, Ra 2019/22/0031, Rn. 11 f; 18.11.2021, Ra 2021/22/0207, Rn. 9).

Von einem „Erschleichen“ kann daher nicht gesprochen werden, wenn die Behörde es verabsäumt hat, von den ihr ohne besondere Schwierigkeiten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Sachverhaltsermittlung Gebrauch zu machen (vgl. VwGH 5.3.2021, Ra 2019/22/0234, Rn. 8). Dem betreffenden Verfahren darf also kein ein „Erschleichen“ ausschließender relevanter Ermittlungsmangel hinsichtlich des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe anhaften (vgl. VwGH 22.2.2018, Ra 2018/22/0032, Rn. 10).

Indessen steht der Umstand bereits zuvor vorhandener, jedoch trotz durchgeführter Ermittlungen vorläufig nicht bestätigter Verdachtsmomente hinsichtlich des Eingehens einer Aufenthaltsehe der späteren Wiederaufnahme wegen „Erschleichen“ gestützt auf neu hervorgekommene Tatsachen nicht entgegen (vgl. VwGH 14.7.2021, Ra 2018/22/0017, Pkt. 5.3., mwN). Die vorläufige Ergebnislosigkeit von Erhebungen betreffend den Nachweis einer Aufenthaltsehe aus Anlass einer Verständigung gemäß § 37 Abs. 4 NAG hindert die Behörde somit nicht daran, den Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe (etwa) im Rahmen eines Verlängerungsverfahrens erneut aufzugreifen (vgl. VwGH 20.8.2013, 2013/22/0157; 8.10.2019, Ra 2018/22/0299, Rn. 8).

7.1. Vorliegend wäre nach dem soeben Gesagten die Wiederaufnahme wegen „Erschleichen“ dann ausgeschlossen gewesen, wenn der Revisionswerber die ihm bereits zu einem früheren Zeitpunkt ohne Weiteres mögliche und zumutbare Sachverhaltsermittlung wegen des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe unterlassen hätte. Eine solche Konstellation ist jedoch fallbezogen - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - nicht gegeben.

7.2. Nach dem unstrittigen Sachverhalt ersuchte der Revisionswerber die LPD Wien im Verfahren über den Erstantrag des Erstmitbeteiligten gemäß § 37 Abs. 4 NAG um Erhebungen wegen des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe. Die LPD Wien führte Ermittlungen durch und teilte dem Revisionswerber mit Bericht vom 6. Juni 2013 mit, dass mangels gegenteiliger Anhaltspunkte von einer (echten) Ehe auszugehen sei; unter einem riet die LPD Wien zu einer neuerlichen Überprüfung der Ehe im Fall einer Titelverlängerung. Diesem Anraten kam der Revisionswerber zwar in den weiteren Verfahren nicht nach und nahm die angeregte neuerliche Überprüfung der Ehe (zunächst) nicht vor. Dass darin ein - ein „Erschleichen“ der erwirkten Aufenthaltstitel im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ausschließender - relevanter Ermittlungsmangel zu erblicken wäre, ist jedoch nicht zu sehen.

Das Verwaltungsgericht vermochte im angefochtenen Erkenntnis insbesondere nicht darzulegen, aufgrund welcher konkreten Umstände der Revisionswerber zu weiteren Erhebungen verhalten gewesen wäre. Dies wäre aber erforderlich gewesen, um von einem Verabsäumen von nach den Umständen des Falls gebotenen Erhebungen ausgehen zu können. Das bloße Anraten der LPD Wien in ihrem Bericht vom 6. Juni 2013 zu einer neuerlichen Überprüfung der Ehe im Fall einer Titelverlängerung löste - für sich genommen, ohne Hinzutreten neuer konkreter Anhaltspunkte im Sinn von näheren Verdachtsmomenten für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe - noch keine weiteren Ermittlungspflichten aus. Dies nicht zuletzt deshalb, weil auch die LPD Wien im Zuge ihrer vorangehenden Ermittlungen keine Hinweise auf eine Aufenthaltsehe hatte finden können, sondern vielmehr vom Vorliegen einer (echten) Ehe ausgegangen war.

Neue konkrete Hinweise für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe ergaben sich erst durch die abermalige Eheschließung des Erstmitbeteiligten mit A K und die Beantragung eines Aufenthaltstitels durch diese im Jänner 2017. Indes mussten die Scheidung der (formell immerhin mehrere Jahre bestehenden) Ehe des Erstmitbeteiligten mit S G und der nachfolgende Zweckänderungsantrag noch keine diesbezüglichen Bedenken erwecken (vgl. in dem Sinn neuerlich VwGH Ra 2019/22/0234, Rn. 10). Die neue Verdachtslage aufgrund der abermaligen Eheschließung mit A K und deren Antragstellung wurde vom Verwaltungsgericht pflichtgemäß zum Anlass genommen, die LPD Wien um weitere Ermittlungen zu ersuchen, durch die sich schließlich der Verdacht einer Aufenthaltsehe zwischen dem Erstmitbeteiligten und S G bestätigte.

7.3. Im Hinblick darauf hat der Revisionswerber nicht verabsäumt, von einer ihm bereits früher ohne Schwierigkeiten möglichen und zumutbaren Sachverhaltsermittlung entsprechend Gebrauch zu machen. Ein diesbezüglicher - ein „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 VG ausschließender - relevanter Ermittlungsmangel hinsichtlich des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe liegt nicht vor. Der Umstand bereits zuvor vorhandener, aber trotz Ermittlungen vorläufig nicht bestätigter Verdachtsmomente steht nach der aufgezeigten Rechtsprechung einer späteren Wiederaufnahme wegen „Erschleichen“ gestützt auf neu hervorgekommene Tatsachen nicht entgegen.

8.1. Nicht gefolgt werden kann hingegen den Revisionsausführungen, wonach in Bezug auf die Titelerteilung im Zweckänderungsverfahren (nach der Ehescheidung des Erstmitbeteiligten von S G) nicht der Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG, sondern (nur) jener des § 69 Abs. 1 Z 3 NAG in Betracht komme.

8.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass das Berufen auf eine Aufenthaltsehe in vorangehenden Verfahren (über Erst- bzw. Verlängerungsanträge) und die dadurch herbeigeführte positive Erledigung dieser Anträge Voraussetzung für die Titelerteilung in einem Zweckänderungsverfahren ist und diese Titelerteilung daher mittelbar bewirkt. Im Hinblick darauf hat aber ein Antragsteller diesen für die positive Erledigung wesentlichen Umstand ebenso im Zweckänderungsverfahren verschwiegen und kommt deshalb grundsätzlich der Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG in Betracht (vgl. VwGH 28.5.2019, Ra 2019/22/0105, Rn. 9, mwN).

Vorliegend kommt daher auch in Bezug auf die Titelerteilung im Zweckänderungsverfahren eine Wiederaufnahme wegen „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG infolge Vorliegens einer Aufenthaltsehe grundsätzlich in Betracht.

9.1. Was die dem Zweit- und der Drittmitbeteiligten erteilten Aufenthaltstitel betrifft, ist im gegebenen Zusammenhang Folgendes festzuhalten:

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass es in einer Konstellation wie hier nicht darum geht, den mitbeteiligten Kindern das Eingehen einer Aufenthaltsehe durch einen Elternteil anzulasten, sondern darum, ob ihnen ein Erschleichen des Bescheids durch den Elternteil (im Wege des Berufens auf eine Aufenthaltsehe) zugerechnet werden kann. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die erteilten Aufenthaltstitel vom gesetzlichen Vertreter erwirkt wurden, sodass sein Verschweigen der Aufenthaltsehe als „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG in den Verfahren der Kinder gewertet und diesen zugerechnet werden kann (vgl. VwGH 18.1.2022, Ra 2019/22/0051, Pkt. 7.2., mwN).

9.2. Gegenständlich erwirkte der Erstmitbeteiligte als damaliger gesetzlicher Vertreter die dem Zweit- und der Drittmitbeteiligten erteilten Aufenthaltstitel, sodass sein Verschweigen der Aufenthaltsehe dem Grunde nach als ein „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG in den Verfahren des Zweit- und der Drittmitbeteiligten gewertet und diesen zugerechnet werden kann.

Ausgehend davon ist es jedoch - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - für die Wiederaufnahme ohne Bedeutung, ob dem Zweit- und der Drittmitbeteiligten insbesondere aufgrund ihrer Anträge vom 8. Juli 2016 der Aufenthaltstitel trotz zwischenzeitiger Ehescheidung des Erstmitbeteiligten von S G zu Recht verlängert wurde (oder nicht). Selbst eine unrechtmäßige Verlängerung wäre vom Erstmitbeteiligten durch Berufen auf die Aufenthaltsehe erwirkt worden und unterliegt damit grundsätzlich der Wiederaufnahme wegen „Erschleichen“ im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG.

10. Insgesamt hat daher das Verwaltungsgericht aus den dargelegten Gründen das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Die Entscheidung war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 14. Oktober 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2018220227.L00

Im RIS seit

14.11.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.11.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten