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Auswertung in Arbeit!Norm
Auswertung in Arbeit!Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl und die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision der M S, vertreten durch Mag.a Hela Ayni-Rahmanzai, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Invalidenstraße 11 Top 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Jänner 2022, W220 2213912-2/17E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Das Revisionsverfahren wird bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Afghanistans und Angehörige der tadschikischen Volksgruppe, reiste im Jahr 2016 zusammen mit ihrem Ehemann, einem Staatsangehörigen des Iran, und den drei gemeinsamen Kindern nach Österreich ein und stellte im Familienverband Anträge auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005.
2 Mit Bescheiden des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 19. Dezember 2018 wurden diese Anträge auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen, keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, jeweils eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebungen in den Iran festgestellt und eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt.
3 Diese Bescheide behob das Bundesverwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 13. Februar 2019 und verwies die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück.
4 Mit Bescheid vom 25. April 2019 wurde der Antrag der Revisionswerberin erneut zur Gänze abgewiesen, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung in den Iran oder Afghanistan festgestellt und eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt.
5 Mit Bescheiden vom selben Tage wurden auch die Anträge der übrigen Familienmitglieder erneut zur Gänze abgewiesen, keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, jeweils eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung in den Iran festgestellt und eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt.
6 Die sodann erhobenen Beschwerden wurden nach einer Entscheidung des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts infolge mehrerer Unzuständigkeitseinreden zwei verschiedenen Gerichtsabteilungen des Bundesverwaltungsgerichts zugeteilt.
7 Mit dem nun angefochtenen Erkenntnis vom 14. Jänner 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht - nach Durchführung einer Verhandlung - im Beschwerdeverfahren den Antrag der Revisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status einer Asylberechtigten ab, erkannte der Revisionswerberin den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine Aufenthaltsberechtigung befristet auf die Dauer eines Jahres. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig.
8 Diese Entscheidung begründete das Bundesverwaltungsgericht, soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Relevanz, damit, dass die Revisionswerberin in Afghanistan nicht von Zwangsheirat bedroht sei und auch nicht von ihrem Stiefvater oder ihrem Cousin unter Anwendung von psychischer oder physischer Gewalt bedroht worden wäre. Allein aufgrund ihres Geschlechts drohe ihr in Afghanistan keine konkrete und individuelle psychische oder physische Gewalt. Die Revisionswerberin habe keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen und sie im Fall der Rückkehr nach Afghanistan der konkreten und individuellen Gefahr aussetzen würde, mit der Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
9 Die vorliegende außerordentliche Revision rügt die Abweichung von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung von Frauen aus Afghanistan und wendet sich weiters mit näherer Begründung gegen die Beweiswürdigung im angefochtenen Erkenntnis.
10 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
- der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird,
- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
- keinen Sport ausüben dürfen,
im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?
2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“
11 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren auszusetzen war (vgl. VwGH 31.8.2021, Ra 2020/14/0485, mwN).
Wien, am 18. Oktober 2022
Schlagworte
Auswertung in Arbeit!European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022140060.L00Im RIS seit
14.11.2022Zuletzt aktualisiert am
14.11.2022