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Auswertung in Arbeit!Norm
Auswertung in Arbeit!Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl und die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revisionen 1. des K Q, 2. der M M, 3. des mj. A M, und 4. des mj. A M, alle vertreten durch Mag. Hela Ayni-Rahmanzai, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Invalidenstraße 11 Top 2, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. November 2021, 1. W113 2198193-1/17E, 2. W113 2198191-1/16E, 3. W113 2198177-1/14E und 4. W113 2222890-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revisionsverfahren werden bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind Mitglieder einer Familie und Staatsangehörige Afghanistans. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern des Dritt- und des Viertrevisionswerbers. Die Eltern stellten am 10. Februar 2015 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005. Für die beiden in Österreich geborenen Dritt- und Viertrevisionswerber wurden am 22. November 2016 (Drittrevisionswerber) und am 21. Juni 2019 (Viertrevisionswerber) ebenso jeweils ein Antrag auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005 gestellt.
2 Mit den am 5. November 2021 nach Durchführung einer Verhandlung mündlich verkündeten und am 10. Dezember 2021 (in einer Urkunde) schriftlich ausgefertigten Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - im Beschwerdeverfahren - diese Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status von Asylberechtigten ab, erkannte den revisionswerbenden Parteien den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Diese Entscheidung begründete das BVwG in der Asylfrage, soweit für die vorliegenden Revisionsverfahren von Relevanz, damit, dass im Verfahren nicht hervorgekommen sei, dass die Zweitrevisionswerberin einen Lebensstil pflege, „der die Anerkennung, die Inanspruchnahme bzw. die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck bringt und dieser Lebensstil einen derart deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt, dass bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung zu rechnen ist. Auch ist der Lebensstil nicht derart verfestigt, dass er zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist.“
4 Gegen die Nichtgewährung von Asyl wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, die Begründungsmängel sowie die Abweichung von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung von Frauen aus Afghanistan rügen und sich weiters gegen die Beweiswürdigung im Hinblick auf das Vorbringen der Zweitrevisionswerberin und der von ihr vorgebrachten Lebensstiländerung wenden.
5 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
- der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird,
- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
- keinen Sport ausüben dürfen,
im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?
2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“
6 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revisionen ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb die Revisionsverfahren auszusetzen waren (vgl. VwGH 31.8.2021, Ra 2020/14/0485, mwN).
Wien, am 13. Oktober 2022
Schlagworte
Auswertung in Arbeit!European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022140018.L00Im RIS seit
11.11.2022Zuletzt aktualisiert am
11.11.2022