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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
PersFrSchG Art2Leitsatz
Verletzung im Recht auf Freiheit und Sicherheit durch die Anhaltung einer tunesischen Staatsangehörigen in Schubhaft; Grobprüfung der asylrechtlichen Verfolgungsbehauptung der Homosexualität sowie der drohenden Zwangsverheiratung und damit des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung erfordert im Schubhaftverfahren die Einvernahme und Verhandlung durch einen Richter desselben GeschlechtsRechtssatz
Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, regelt §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nach dem insoweit klaren Gesetzeswortlaut nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Verwaltungsbehörde die Einvernahme durch Organwalter des anderen Geschlechts und vor dem BVwG die Führung der Verhandlung durch Richter des anderen Geschlechts. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts soll den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Gleiches gilt für die Furcht vor noch nicht stattgefundenen, sondern drohenden Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung. In Anbetracht des mit §20 AsylG 2005 verfolgten Zwecks führt bereits die Behauptung eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung vor dem BFA bzw in der Beschwerde zur Anwendbarkeit der Bestimmung, ohne dass eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hat.
Vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles ist die Aufrechterhaltung der Schubhaft gemäß §76 Abs6 FPG insofern eng mit der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz verbunden, als bei der Beurteilung des Vorliegens einer Verzögerungsabsicht eine inhaltliche Grobprüfung der Verfolgungsbehauptungen durchzuführen und eine Prognose über den voraussichtlichen negativen Ausgang des Asylverfahrens zu stellen ist. Somit hat das BVwG im Rahmen der Beurteilung nach §76 Abs6 FPG das Vorbringen des Asylwerbers, mit dem eine Verfolgung wegen eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung behauptet wird, dahingehend inhaltlich zu prüfen, ob es einen glaubhaften Kern aufweist. Dementsprechend sind die Vorgaben des §20 AsylG 2005, welche in einem Verfahren nach dem AsylG 2005 zu beachten sind, auch in Bezug auf mündliche Verhandlungen betreffend die Grobprüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nach §76 Abs6 FPG während der aufrechten Schubhaft beachtlich.
Die Beschwerdeführerin hat bei ihrer Einvernahme vor dem BFA (bzw bereits mit vorangegangener schriftlicher Stellungnahme) vorgebracht, wegen ihrer Homosexualität im Herkunftsstaat verfolgt zu werden und dass ihre Familie sie zwangsverheiraten wolle. Sie hat damit einen (erfolgten sowie drohenden) Eingriff in ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung iSd §20 AsylG 2005 behauptet.
Dennoch wurde die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG von einem männlichen Richter zu ihrem Fluchtvorbringen einvernommen. Der Beschwerdeführerin wurde es daher in der mündlichen Verhandlung nicht ermöglicht, den Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung mit möglichst geringen Hemmschwellen vorzubringen. Das BVwG hat dadurch, dass es die Einvernahme der Beschwerdeführerin zu ihrem Asylgrund nicht durch eine Person desselben Geschlechts durchgeführt und auf Basis eines den Vorgaben des §76 Abs6 FPG widersprechenden Ermittlungsverfahrens (vgl §20 AsylG 2005) das Vorbringen als nicht glaubhaft beurteilt hat, einen in die Verfassungssphäre reichenden Fehler begangen und die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
Schlagworte
Schubhaft, Asylrecht, Homosexualität, Verhandlung mündliche, Ermittlungsverfahren, Verwaltungsgerichtsverfahren, Gericht Zusammensetzung, Bundesverwaltungsgericht, Freiheit persönlicheEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E881.2022Zuletzt aktualisiert am
10.11.2022