RS Vfgh 2022/10/4 E881/2022

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Veröffentlicht am 04.10.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

PersFrSchG Art2
FremdenpolizeiG 2005 §76
AsylG 2005 §20
Richtlinie 2013/33/EU AufnahmeRL Art8
BFA-VG §22a
VfGG §7 Abs1
  1. BFA-VG § 22a heute
  2. BFA-VG § 22a gültig ab 19.06.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 70/2015
  3. BFA-VG § 22a gültig von 15.04.2015 bis 18.06.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 41/2015
  4. BFA-VG § 22a gültig von 01.01.2014 bis 14.04.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 144/2013
  5. BFA-VG § 22a gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 68/2013
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Freiheit und Sicherheit durch die Anhaltung einer tunesischen Staatsangehörigen in Schubhaft; Grobprüfung der asylrechtlichen Verfolgungsbehauptung der Homosexualität sowie der drohenden Zwangsverheiratung und damit des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung erfordert im Schubhaftverfahren die Einvernahme und Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts

Rechtssatz

Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, regelt §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nach dem insoweit klaren Gesetzeswortlaut nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Verwaltungsbehörde die Einvernahme durch Organwalter des anderen Geschlechts und vor dem BVwG die Führung der Verhandlung durch Richter des anderen Geschlechts. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts soll den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Gleiches gilt für die Furcht vor noch nicht stattgefundenen, sondern drohenden Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung. In Anbetracht des mit §20 AsylG 2005 verfolgten Zwecks führt bereits die Behauptung eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung vor dem BFA bzw in der Beschwerde zur Anwendbarkeit der Bestimmung, ohne dass eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hat.

Vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles ist die Aufrechterhaltung der Schubhaft gemäß §76 Abs6 FPG insofern eng mit der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz verbunden, als bei der Beurteilung des Vorliegens einer Verzögerungsabsicht eine inhaltliche Grobprüfung der Verfolgungsbehauptungen durchzuführen und eine Prognose über den voraussichtlichen negativen Ausgang des Asylverfahrens zu stellen ist. Somit hat das BVwG im Rahmen der Beurteilung nach §76 Abs6 FPG das Vorbringen des Asylwerbers, mit dem eine Verfolgung wegen eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung behauptet wird, dahingehend inhaltlich zu prüfen, ob es einen glaubhaften Kern aufweist. Dementsprechend sind die Vorgaben des §20 AsylG 2005, welche in einem Verfahren nach dem AsylG 2005 zu beachten sind, auch in Bezug auf mündliche Verhandlungen betreffend die Grobprüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nach §76 Abs6 FPG während der aufrechten Schubhaft beachtlich.

Die Beschwerdeführerin hat bei ihrer Einvernahme vor dem BFA (bzw bereits mit vorangegangener schriftlicher Stellungnahme) vorgebracht, wegen ihrer Homosexualität im Herkunftsstaat verfolgt zu werden und dass ihre Familie sie zwangsverheiraten wolle. Sie hat damit einen (erfolgten sowie drohenden) Eingriff in ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung iSd §20 AsylG 2005 behauptet.

Dennoch wurde die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG von einem männlichen Richter zu ihrem Fluchtvorbringen einvernommen. Der Beschwerdeführerin wurde es daher in der mündlichen Verhandlung nicht ermöglicht, den Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung mit möglichst geringen Hemmschwellen vorzubringen. Das BVwG hat dadurch, dass es die Einvernahme der Beschwerdeführerin zu ihrem Asylgrund nicht durch eine Person desselben Geschlechts durchgeführt und auf Basis eines den Vorgaben des §76 Abs6 FPG widersprechenden Ermittlungsverfahrens (vgl §20 AsylG 2005) das Vorbringen als nicht glaubhaft beurteilt hat, einen in die Verfassungssphäre reichenden Fehler begangen und die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Schubhaft, Asylrecht, Homosexualität, Verhandlung mündliche, Ermittlungsverfahren, Verwaltungsgerichtsverfahren, Gericht Zusammensetzung, Bundesverwaltungsgericht, Freiheit persönliche

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E881.2022

Zuletzt aktualisiert am

10.11.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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