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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art18 Abs2Leitsatz
Gesetzwidrigkeit der Bestimmungen einer Verordnung des Magistrates der Stadt Wien betreffend die Auskunftserteilung über Kunden von Gastronomiebetrieben bei Verdachtsfällen von COVID-19 mangels nachvollziehbarer Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen; weitreichende Verordnungsermächtigung nach dem EpidemieG 1950 ermöglicht schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz durch die Ermittlung von Kontaktpersonen und der Möglichkeit von Rückschlüssen auf die persönliche Lebensführung großer Teile der Bevölkerung; keine nachvollziehbare Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen des Verordnungsgebers durch die bloße Sammlung und Übermittlung von Daten und Studien zu COVID-19; Erforderlichkeit der Darlegung der für die Willensbildung des Verordnungsgebers ausschlaggebenden EntscheidungsgrundlagenRechtssatz
Gesetzwidrigkeit des §1 Z2 lite sowie des §2 der Verordnung des Magistrats der Stadt Wien betreffend Auskunftserteilung für Contact Tracing im Zusammenhang mit Verdachtsfällen von COVID-19, ABl der Stadt Wien 41/2020. Zurückweisung des Eventualantrags auf Aufhebung des §1 Z1 litg Wr Contact Tracing Verordnung als unzulässig: Mangelnde Darlegung eines unmittelbaren und aktuellen Eingriffs der Normen in die Rechtssphäre des Antragstellers sowie bloß pauschale Darlegung der Bedenken. Für den VfGH ist insbesondere nicht erkennbar, in welcher Eigenschaft - nämlich als Besucher einer Krankenanstalt oder als Betreiber eines Gastronomiebetriebes - der Antragsteller die Bedenken des Verstoßes gegen Art18 B-VG hegt. Zulässigkeit des Eventualantrags auf Aufhebung des §1 Z2 lite Wr Contact Tracing Verordnung: Die (übrigen) Bedenken erhebt der Antragsteller in seiner Eigenschaft als Betreiber eines Gastronomiebetriebes. Eine unmittelbare Betroffenheit des Antragstellers liegt vor, weil die Bestimmung den Antragsteller als Betreiber einer Betriebsstätte der Gastronomie verpflichtet, personenbezogene Daten von Kunden im Fall des Auftretens eines Verdachtsfalles von COVID-19 auf Verlangen der Bezirksverwaltungsbehörde zu übermitteln, anderenfalls eine Verwaltungsstrafe gemäß §40 Abs1 litc EpidemieG 1950 droht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass mit 03.11.2020 gemäß §7 COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, BGBl II 463/2020, (sowie in den folgenden Maßnahmenverordnungen des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) ein Betretungsverbot für Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe zum Zweck der Inanspruchnahme von Dienstleitungen des Gastgewerbes erlassen wurde. Die aus der angefochtenen Verordnungsbestimmung resultierende Verpflichtung des Antragstellers, Daten (etwa aus dem Zeitraum vor dem 03.11.2020) auf Verlangen der Bezirksverwaltungsbehörde zu übermitteln, bestand ungeachtet des Betretungsverbotes zum Zeitpunkt der Antragstellung. Die Wr Contact Tracing Verordnung ist mit Ablauf des 31.12.2020 und somit nach Antragstellung beim VfGH außer Kraft getreten. Die angefochtenen Bestimmungen der Wr Contact Tracing Verordnung beeinträchtigen die rechtlich geschützten Interessen des Antragstellers noch aktuell (vgl E v 14.07.2020, V411/2020 ua). Dem Antragsteller steht auch kein anderer zumutbarer Weg zur Verfügung. Der Antragsteller erhebt Bedenken (lediglich) gegen §1 Z2 lite leg cit; eigenständige Bedenken gegen den (mit-)angefochtenen §2 leg cit sind dem Antrag nicht zu entnehmen. Da die (mit-)angefochtene Bestimmung in §2 mit §1 Z2 lite Wr Contact Tracing Verordnung aber in einem Regelungszusammenhang steht, erweist sich der (Eventual-)Antrag im Umfang des §1 Z2 lite und §2 Wr Contact Tracing Verordnung als zulässig.
Dem Verordnungsgeber ist im Hinblick auf die Entscheidung, ob eine Verordnung nach §5c Abs1 EpidemieG 1950 auf Grund der COVID-19-Pandemie (längstens bis zum 30.06.2021) "unbedingt erforderlich und verhältnismäßig" ist, sowie, welche Einrichtungen in §5c Abs1 Z1 bis Z8 EpidemieG 1950 zur Verarbeitung (welcher) der in §5c Abs3 EpidemieG 1950 aufgezählten Daten verpflichtet werden, ein Einschätzungs- und Prognosespielraum übertragen (s E v 14.07.2020, V363/2020 und V411/2020). Der Verordnungsgeber hat zu beurteilen, ob und inwieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 die Erhebung von Kontaktdaten für erforderlich hält, und hat dabei eine Abwägung der grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Veranstalter bzw Betreiber sowie deren Besucher bzw Kunden zu treffen. Der Verordnungsgeber hat also in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 sowie der in Geltung stehenden übrigen Maßnahmen (zB Maskenpflicht, Abstandsregelungen) notwendig prognosehaft zu beurteilen, inwieweit die in Aussicht genommene Erhebung von Kontaktdaten iSd §5c EpidemieG 1950 zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignet, erforderlich und insgesamt angemessen ist.
Der VfGH geht davon aus, dass §5c EpidemieG 1950 im Hinblick auf den Umfang der zur Datenverarbeitung Verpflichteten sowie der zur Erhebung vorgesehenen personenbezogenen Daten schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz nach Art8 EMRK und §1 DSG ermöglicht. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die in §5c EpidemieG 1950 vorgesehene Datenerhebung zum Zweck der "Ermittlung von Kontaktpersonen bei Umgebungsuntersuchungen" große Teile der Bevölkerung betrifft und die Zusammenschau der erhobenen Daten Rückschlüsse über die persönliche Lebensführung der betroffenen Personen zulässt.
Aus der Rsp des VfGH zu Art18 Abs2 B-VG folgt, dass bei einer weitreichenden Verordnungsermächtigung, die schwerwiegende Grundrechtseingriffe ermöglicht, im Verordnungserlassungsverfahren nachvollziehbar zu machen ist, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Dabei ist die aktenmäßige Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung kein Selbstzweck; ihr kommt die Funktion der Sicherung der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu.
Der von der verordnungserlassenden Behörde vorgelegte Verwaltungsakt, welcher der Erlassung der Wr Contact Tracing Verordnung zugrunde liegt, enthält keinerlei Hinweis auf die Entscheidungsgrundlagen der angefochtenen Verordnung. Aus dem vorgelegten Schriftverkehr geht lediglich hervor, welche Änderungen am Text des Verordnungsentwurfes in Abstimmung mit den zuständigen Personen innerhalb des Magistrates der Stadt Wien aus datenschutzrechtlichen Überlegungen und insbesondere zur besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit der Bestimmungen im Zuge der Verordnungserlassung vorgenommen wurden. Es ist für den VfGH sohin nicht nachvollziehbar, auf Grund welcher konkreten Umstände der Verordnungsgeber die getroffenen Regelungen der Wr Contact Tracing Verordnung für erforderlich und insgesamt für angemessen hielt.
Der VfGH weist darauf hin, dass den Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verordnungserlassungsverfahren nicht durch die bloße Sammlung und Übermittlung von jeglichen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Daten und Studien zu den Auswirkungen und zur Verbreitung von COVID-19 entsprochen wird. Vielmehr müssen jene Entscheidungsgrundlagen nachvollziehbar dokumentiert werden, die für die Willensbildung des Verordnungsgebers zum Zeitpunkt der Erlassung tatsächlich ausschlaggebend waren. Bei Vorlage umfangreicher Verordnungsakten kann dem auch durch eine zusammenfassende nachvollziehbare Darstellung der zentralen, für den Verordnungsgeber besonders relevanten Umstände, insbesondere der Grundlagen für die Interessenabwägung beziehungsweise der Verhältnismäßigkeitsprüfung, unter Verweis auf die maßgeblichen Unterlagen entsprochen werden; dies ist notwendig, um die Gesetzmäßigkeit der Verordnung überprüfen zu können. Material, bei dem nicht nachvollziehbar ist, inwiefern es Grundlage für die Willensbildung war, vermag die Dokumentationspflicht nicht zu erfüllen.
Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Eingehen auf die Fragen, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen in §5 Abs3 EpidemieG 1950 überhaupt eine gesetzliche Grundlage finden sowie ob der am 19. Dezember 2020 eingeführte §5c EpidemieG 1950 eine verfassungskonforme Verordnungsermächtigung darstellt.
Entscheidungstexte
Schlagworte
COVID (Corona), Verordnungserlassung, Bindung (des Verordnungsgebers), Determinierungsgebot, Gastgewerbe, Datenschutz, Privat- und Familienleben, Legalitätsprinzip, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Prüfungsgegenstand, VfGH / IndividualantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:V573.2020Zuletzt aktualisiert am
09.11.2022