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19/20 AmtssitzabkommenNorm
B-VG Art50 Abs1 Z1Leitsatz
Aufhebung von Bestimmungen des Amtssitzabkommens zwischen der Republik Österreich und der OPEC; Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren durch Bestimmungen des Amtssitzabkommens betreffend den Ausschluss der Zuständigkeit österreichischer Gerichte in arbeitsrechtlichen Verfahren gegen die OPEC; Immunität der internationalen Organisation sichert deren Funktionieren frei von einseitigen Eingriffen durch den Sitzstaat; derzeit kein angemessener Rechtsschutzmechanismus im AmtssitzabkommenRechtssatz
Verfassungswidrigkeit des Art5 Abs1 und 2 und des Art9 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Organisation der erdölexportierenden Länder über den Amtssitz der Organisation der erdölexportierenden Länder, BGBl 382/1974 idF BGBl III 108/2010. Keine weitere Anwendung der Bestimmungen von den zu ihrer Vollziehung berufenen Organen mit Ablauf des 30.09.2024. Im Übrigen: Zurückweisung des Parteiantrags (Art4 Abs1 und Art10 Amtssitzabkommen).
Das Arbeits- und Sozialgericht Wien (ASG) hat die Klage im Anlassverfahren gemäß §42 Abs1 JN wegen fehlender inländischer Gerichtsbarkeit zurückgewiesen, weil die OPEC nach Art9 Amtssitzabkommen von jeglicher Jurisdiktion befreit sei und erklärt habe, im vorliegenden Fall nicht auf ihre Immunität zu verzichten. Die Präjudizialität des Art9 Amtssitzabkommen, dessen erster und zweiter Satz untrennbar zusammenhängen, ist damit offenkundig. Art5 Amtssitzabkommen ist schon deshalb zulässigerweise angefochten, weil diese Bestimmung untrennbar mit Art9 Amtssitzabkommen zusammenhängt.
Da Art4 Abs1 und Art10 Amtssitzabkommen im vorliegenden Verfahren nicht präjudiziell - sowie von den präjudiziellen Bestimmungen vor dem Hintergrund der erhobenen Bedenken offensichtlich trennbar - sind, ist der Antrag insoweit zu weit gefasst.
Zum Vorbringen, der Anfechtungsumfang hätte auch Art 3 Abs1 Amtssitzabkommen umfassen müssen, genügt der Hinweis, dass der (nur) an die Bundesregierung gerichtete Art3 Abs1 Amtssitzabkommen insofern lediglich einen proklamatorischen Verweis auf die in Art5 Amtssitzabkommen geregelte Unverletzlichkeit des Amtssitzbereiches enthält. Diese erst durch die folgenden Bestimmungen konkretisierte Verpflichtung steht der Ausübung der österreichischen Gerichtsbarkeit nicht entgegen.
Es ist nicht davon auszugehen, dass eine allgemeine, als Recht anerkannte Übung existiert, nach welcher Österreich verpflichtet wäre, einer internationalen Organisation, deren Mitglied Österreich nicht ist, jedenfalls auch dann Immunität zu gewähren, wenn kein angemessener alternativer Rechtsweg zur Beilegung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten besteht. Völkergewohnheitsrecht, das den VfGH im Sinne des Vorbringens der Bundesregierung daran hinderte, den Bedenken des Antragstellers gegebenenfalls Rechnung zu tragen, und das daher der Zulässigkeit des Antrages entgegenstünde, vermag der VfGH insoweit nicht zu erkennen.
Der Umstand, dass die Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Art5 Abs1 und 2 Amtssitzabkommen nur in Bezug auf Art6 Abs1 EMRK, nicht aber auch in Bezug auf Art13 EMRK und Art1 1. ZPEMRK hinreichend deutlich ausgeführt sind, macht den Antrag nicht - auch nicht teilweise - unzulässig.
Der EGMR hat in seiner Rsp klargestellt, dass die Anforderungen (hier insbesondere der Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht) grundsätzlich auch für dienstrechtliche Streitigkeiten gelten, an denen eine internationale Organisation beteiligt ist, der von einem Konventionsstaat vertraglich Immunität eingeräumt wurde. Die verbreitete Praxis, internationalen Organisationen vertraglich Immunität einzuräumen, dient dem legitimen Ziel, das ordnungsgemäße Funktionieren der Organisationen frei von einseitigen Eingriffen durch einzelne Staaten sicherzustellen. Die Bedeutung dieser Praxis ist im Lichte der Ausweitung und Stärkung der internationalen Zusammenarbeit in allen Bereichen moderner Gesellschaften zu sehen. Es wäre aber mit Ziel und Zweck der EMRK unvereinbar, wenn sich die Vertragsstaaten durch die Einräumung von (Privilegien und) Immunitäten an internationale Organisationen ihrer Verantwortung nach der EMRK begeben könnten. Die EMRK soll nicht theoretische und illusorische, sondern praktische und wirksame Rechte gewährleisten. In Ansehung der zentralen Rolle, die dem Recht auf ein faires Verfahren in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, gilt dies in besonderem Maße für das Recht auf Zugang zu einem Gericht. Ob die mit der Befreiung einer internationalen Organisation von der staatlichen Gerichtsbarkeit einhergehende Beschränkung des Zugangs zu einem Gericht iSd Art6 Abs1 EMRK verhältnismäßig ist, hängt wesentlich davon ab, ob ein angemessener alternativer Rechtsweg besteht. Es ist nicht erforderlich, dass der alternative Rechtsschutz einem staatlichen Gerichtssystem in jeder Hinsicht entspricht; gefordert ist ein vergleichbarer, dh gleichwertiger, kein identischer Rechtsschutz. Für internationale Organisationen wird im Allgemeinen angenommen, dass ein angemessener alternativer Rechtsweg in der Möglichkeit der Anrufung gerichtsähnlicher organisationsinterner Einrichtungen bestehen kann. Auch die Beschwerdemöglichkeit an das Verwaltungsgericht der Internationalen Arbeitsorganisation oder die Möglichkeit eines Schiedsverfahrens können einen angemessenen alternativen Streitbeilegungsmechanismus darstellen.
Art9 Amtssitzabkommen beschränkt den Zugang zu einem Gericht insofern, als österreichische Gerichte nur angerufen werden können, wenn die OPEC in einem besonderen Fall ausdrücklich auf ihre Immunität verzichtet hat. Art9 Amtssitzabkommen verfolgt damit das Ziel, dass die internationale Organisation (hier: die OPEC) frei von einseitigen Eingriffen durch den Sitzstaat (hier: die Republik Österreich) funktionieren kann. Dieses Ziel bildet ein legitimes Ziel im Sinne der oben dargelegten Rechtsprechung des EGMR.
Solange das Amtssitzabkommen nicht gewährleisten kann, dass - wie von der OPEC in dem im November 2020 neu eingeführten Art6A ihrer Satzung bereits in Aussicht genommen - ein angemessener, die Rechte der Angestellten wahrender Mechanismus zur Beilegung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten eingerichtet ist, kann jedoch selbst unter Berücksichtigung eines Beurteilungsspielraumes der Konventionsstaaten nicht angenommen werden, dass die Republik Österreich durch Art9 Amtssitzabkommen den Zugang zu Gericht in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten wie im Anlassverfahren auf verhältnismäßige Weise beschränkt und die internationale Organisation damit im Einklang mit Art6 Abs1 EMRK von der staatlichen Gerichtsbarkeit freigestellt hat.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Staatsverträge, VfGH / Staatsvertragsprüfung, Arbeits- u Sozialgerichtsbarkeit, VfGH / Parteiantrag, Verhältnismäßigkeit, Anwendbarkeit Staatsvertrag, Behörde OrganeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:SV1.2021Zuletzt aktualisiert am
09.11.2022