TE Vfgh Erkenntnis 1994/2/28 B1281/93

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Veröffentlicht am 28.02.1994
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

B-VG Art83 Abs2
B-VG Art129a
StPO §175
AVG §67c

Leitsatz

Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch die Zurückweisung der Beschwerden zweier Fremder gegen ihre Festnahme und Anhaltung wegen des Verdachts der Urkundenfälschung; keine Gerichtsakte aufgrund fehlenden richterlichen Auftrags

Spruch

I. Die Beschwerde wird, soweit sie sich gegen Spruchpunkt 2. des angefochtenen Bescheides richtet, als unzulässig zurückgewiesen.

II. Die Beschwerdeführer sind durch Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden; in diesem Umfang wird der angefochtene Bescheid aufgehoben.

III. Im übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

IV. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit

S 8.250,-- bestimmten Kosten dieses Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die beiden Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von (Rest-)Jugoslawien, stammen aus der Provinz Kosovo und sind albanischer Abstammung. Sie sind am 11. Mai 1993 mit verfälschten Reisedokumenten von Slowenien zu Fuß beim Grenzübergang Spielfeld nach Österreich gekommen und wollten am nächsten Tag in die Bundesrepublik Deutschland weiterreisen. Beim versuchten Grenzübertritt wurde die Verfälschung der Reisedokumente erkannt, es wurde ihnen die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verwehrt und sie wurden der Bundespolizeidirektion Salzburg - Grenzkontrollstelle Hauptbahnhof übergeben. Am 12. Mai 1993 um 14.40 Uhr wurden die beiden Beschwerdeführer gemäß §§175 und 177 StPO wegen des Verdachts der Fälschung besonders geschützter Urkunden (§§223 und 224 StGB) in Haft genommen; diese Haft endete - da der Staatsanwalt keinen Haftantrag stellte - am 13. Mai 1993 um 10.15 Uhr, doch blieben die Beschwerdeführer weiterhin in - und zwar nunmehr fremdenpolizeilicher - Haft.

Am 14. Mai 1993 (genaue Uhrzeit der Zustellung nicht bekannt) wurde gegen die Beschwerdeführer jeweils ein Schubhaftbescheid zur Sicherung der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bzw. einer Ausweisung und der Abschiebung erlassen.

2. Gegen ihre Festnahme und Anhaltung, insbesondere auch auf Grundlage der §§175 und 177 StPO, gegen die bescheidmäßige Verhängung der Schubhaft und ihre Anhaltung in derselben erhoben die Beschwerdeführer durch ihren Rechtsvertreter unter dem 25. Mai 1993 Beschwerde gemäß §41 Abs4 und §51 Fremdengesetz, BGBl. 838/1992, an den unabhängigen Verwaltungssenat Salzburg.

3. Der angerufene unabhängige Verwaltungssenat erledigte diese Beschwerde mit Bescheid vom 1. Juni 1993 wie folgt:

"1. Die Beschwerde wegen der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gemäß §67c AVG hinsichtlich der Festnahme und Anhaltung der Beschwerdeführer im polizeilichen Gefangenenhaus in Salzburg vom 12.5.1993, 14.40 Uhr bis 13.5.1993, 10.15 Uhr wird gemäß §67c Abs3 AVG als unzulässig zurückgewiesen.

2. Gemäß §41 Abs2 i.V.m. §52 Fremdengesetz wird die Anhaltung der Beschwerdeführer in Schubhaft in der Zeit zwischen 13.5.1993, 10.15 Uhr bis zum Zeitpunkt der Übernahme des Schubhaftbescheides am 14.5.1993 für rechtswidrig erklärt.

3. Gemäß §51 Abs1 i.V.m. §52 Abs4 Fremdengesetz und Art1 und 2 des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/88, wird den Beschwerden keine Folge gegeben und die weitere Anhaltung der Beschwerdeführer in Schubhaft seit 14.5.1993 ab dem Zeitpunkt der Übernahme des Schubhaftbescheides als rechtmäßig festgestellt.

4. Gemäß §52 Abs2 FrG i.V.m. §79a AVG hat der Bund den Beschwerdeführern Kosten von insgesamt S 7.413,-- zu ersetzen."

Die zu Z1 erfolgte Zurückweisung der auf §67c AVG gestützten Beschwerde wurde damit begründet, die Festnahme der Beschwerdeführer am 12. Mai 1993 um 14.40 Uhr und ihre Anhaltung in Verwahrungshaft gemäß §§175 und 177 StPO bis zum 13. Mai 1993, 10.15 Uhr, durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sei im Rahmen der Strafrechtspflege erfolgt. "Dafür besteht keine Zuständigkeit des Unabhängigen Verwaltungssenates zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieser Anhaltung" heißt es dazu wörtlich in der Begründung des angefochtenen Bescheides. Den Beschwerdeführern stehe es offen, allenfalls auf Grund des Grundrechtsbeschwerdegesetzes, BGBl. 864/1992, eine Grundrechtsbeschwerde beim Gericht I. Instanz oder beim Obersten Gerichtshof einzubringen.

4. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in welcher die Verletzung der durch Art5 und 6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.

5. Der unabhängige Verwaltungssenat Salzburg als belangte Behörde dieses verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in welcher der bekämpfte Bescheid verteidigt und die Abweisung der Beschwerde beantragt wird. Zur Frage der Zuständigkeit des unabhängigen Verwaltungssenates für die sachliche Behandlung von Beschwerden gegen die Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im Dienste der Strafjustiz wird in der Gegenschrift ausgeführt, es sei übersehen worden, daß vom zuständigen Staatsanwalt kein Haftantrag gestellt worden sei.

6. Die Beschwerdeführer haben eine Replik erstattet, in welcher sie ihren Standpunkt bekräftigen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

A. Zu den Spruchpunkten 3. und 4. des angefochtenen

Bescheides:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde in einer nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossenen Angelegenheit ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die Beschwerde rügt die Verletzung der durch Art5 und 6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen. Die Sache ist auch nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte 3. und 4. des angefochtenen Bescheides wendet, abzusehen (§19 Abs3 Z1 VerfGG).

B. Zur Zulässigkeit der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte 1. und 2. des angefochtenen Bescheides wendet:

1. Soweit sich die Beschwerde gegen Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides richtet, ist darauf hinzuweisen, daß das Erfordernis, den Sachverhalt genau darzulegen (§82 Abs2 VerfGG idF des BG BGBl. 329/1990), im Hinblick auf das sinnwidrige Aneinanderreihen des Vorbringens vor verschiedenen Behörden als gerade noch erfüllt angesehen werden kann. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, erweist sich die Beschwerde insoweit als zulässig.

2. Anderes gilt jedoch für die Beschwerde, soweit sie sich gegen Punkt 2. des Spruches des angefochtenen Bescheides richtet. Dadurch wurde nämlich dem auf Verwaltungsebene gestellten Begehren der Beschwerdeführer voll entsprochen, das heißt, es wurde ihre Anhaltung zwischen dem Ende der Verwahrungshaft und der Erlassung des Schubhaftbescheides für rechtswidrig erklärt. Den Beschwerdeführern fehlt demnach hier jegliche Beschwer (VfSlg. 9863/1983, 10087/1984, 12437/1990, 12452/1990, VfGH 15.6.1993, B1010/92), sodaß die Beschwerde in diesem Umfang zurückzuweisen war.

C. In der Sache (Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß Art144 Abs1, zweiter Satz, B-VG idF vor der B-VG-Novelle 1988, BGBl. 685, erkannte der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fielen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies zB für die Festnahme und Anhaltung einer Person zutrifft (vgl. etwa VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9934/1984, 12031/1989, 12071/1989, 12116/1989, und die dort zitierte Rechtsprechung).

Im Rahmen dieser seiner Zuständigkeit erkannte der Verfassungsgerichtshof weiters in ständiger Rechtsprechung, daß die Festnahme und Anhaltung von Personen im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl gemäß den §§175 und 177 StPO solche, vor dem Verfassungsgerichtshof bekämpfbare faktische Amtshandlungen darstellten (vgl. zuletzt etwa VfSlg. 11491/1987, 11518/1987, 11526/1987, 12050/1989, 12134/1989, 12213/1989, 12232/1989, 12701/1991, 12849/1991, 12853/1991, VfGH 29.9.1992, B1282/90, u. v.a.).

Durch die B-VG-Novelle 1988 wurde nun die (primäre) Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes (und des Verwaltungsgerichtshofes) zur Prüfung von Beschwerden von Personen beseitigt, die behaupten, durch die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in ihren Rechten verletzt worden zu sein, und es wurden dafür - mit Ausnahme der Finanzstrafsachen des Bundes - durch Art129a Abs1 Z2 B-VG die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern für zuständig erklärt. Es ist nun offenkundig und bedarf keiner weitergehenden Begründung, daß durch diese Zuständigkeitsverschiebung durch die B-VG-Novelle 1988 der Begriff der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegenüber der vorher geltenden Verfassungsrechtslage keine Änderung erfahren hat (vgl. die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, 132 BlgNR 17. GP, S 5f., und den Bericht des Verfassungsausschusses, 817 BlgNR 17. GP, S 4), somit in dieser Hinsicht die dargestellte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes auch auf Grund der geltenden Verfassungsrechtslage und des §67c AVG Geltung beanspruchen kann.

Daraus ergibt sich, daß die belangte Behörde die Beschwerden gegen die zwar im Dienste der Strafjustiz, jedoch ohne richterlichen Auftrag vorgenommene, daher nicht dem Gericht zuzurechnende Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt nicht hätte zurückweisen dürfen; vielmehr hätte sie diese einer sachlichen Behandlung zuführen müssen.

Da die belangte Behörde dies verkannte und eine Zurückweisung ausgesprochen hat, verletzt der angefochtene Bescheid die Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.

Der angefochtene Bescheid war deshalb im bezeichneten Umfang aufzuheben.

D.1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. Da die Beschwerdeführer nur in einem Punkt (von den hier zwei behandelten Punkten) durchgedrungen sind, war nur die Hälfte der Kosten zuzusprechen; dies im Hinblick auf die Einbringung einer einheitlichen Beschwerde auch nur einmal, jedoch unter Hinzurechnung eines Streitgenossenzuschlages von 10 %. Im zugesprochenen Betrag sind S 1.375,-- an Umsatzsteuer enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4, erster Satz, und Z2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Fremdenrecht, Unabhängiger Verwaltungssenat, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:B1281.1993

Dokumentnummer

JFT_10059772_93B01281_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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