TE Lvwg Erkenntnis 2022/8/11 VGW-102/067/18429/2021, VGW-102/067/5/2022, VGW-102/067/18430/2021, VGW

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Veröffentlicht am 11.08.2022
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Entscheidungsdatum

11.08.2022

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
41/01 Sicherheitsrecht

Norm

B-VG Art. 130 Abs1 Z2
SPG 1991 §21
SPG 1991 §31
SPG 1991 §89

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seine Richterin Dr. Grois über die Beschwerden

./A

gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 und Art. 132 Abs. 2 BV-G des Herrn Dr. C. D., Wien, E.-gasse, vertreten durch Rechtsanwälte GmbH, gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch Organe der Landespolizeidirektion Wien 1) am 20.11.2021, um ca. 18.30 Uhr, in Wien, Verkehrsbereich F., 2) am 19.12.2021, um ca. 18.50 Uhr, im Verkehrsbereich G./Einfahrt H.-Straße,

./B

gemäß § 89 SPG des Herrn Dr. C. D., Wien, E.-gasse, vertreten durch Rechtsanwälte GmbH, wegen Verletzung des § 10 Abs. 1 der Richtlinien-Verordnung - RLV anlässlich der Wegweisung 1) am 20.11.2021, um ca. 18.30 Uhr, in Wien, Verkehrsbereich F., und 2) am 19.12.2021, um ca. 18.50 Uhr,

zu Recht erkannt:

./A

1.1. Gemäß § 28 Abs. 1 und 6 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes – VwGVG wird der Beschwerde Folge gegeben und die Wegweisung des Beschwerdeführers am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr in Wien im Verkehrsbereich F. für rechtswidrig erklärt.

1.2. Der Bund als Rechtsträger der belangten Behörde hat gemäß § 35 VwGVG in Verbindung mit der VwG-Aufwandersatzverordnung – VwG-AufwErsV, BGBl. II Nr. 517/2013, dem Beschwerdeführer 737,60 Euro für Schriftsatzaufwand und 922,00 Euro für Verhandlungsaufwand an Aufwandersatz binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu leisten.

2.1. Gemäß § 28 Abs. 1 und 6 VwGVG wird der Beschwerde Folge gegeben und die Wegweisung des Beschwerdeführers am 19.12.2021 um ca. 18:50 Uhr in Wien im Verkehrsbereich G./Einfahrt H.-straße für rechtswidrig erklärt.

2.2. Der Bund als Rechtsträger der belangten Behörde hat gemäß § 35 VwGVG in Verbindung mit der VwG-AufwErsV dem Beschwerdeführer 737,60 Euro für Schriftsatzaufwand und 922,00 Euro für Verhandlungsaufwand an Aufwandersatz binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu leisten.

3. Gegen diese Entscheidungen ist gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 – VwGG eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 des Bundes-Verfassungsgesetzes – B-VG unzulässig.

./B

1.1. Gemäß § 53 iVm § 28 Abs. 1 und 6 VwGVG wird der Beschwerde wegen Nichtdokumentation der Wegweisung des Beschwerdeführers am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr im Verkehrsbereich F. durch Organe der Landespolizeidirektion Folge gegeben und gemäß § 89 Abs. 4 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG festgestellt, dass § 10 Abs. 1 der Richtlinien-Verordnung – RLV verletzt wurde.

1.2. Der Bund als Rechtsträger der belangten Behörde hat gemäß §§ 35 und 53 VwGVG iVm der VwG-AufwErsV dem Beschwerdeführer 737,60 Euro für Schriftsatzaufwand und 922,00 Euro für Verhandlungsaufwand an Aufwandersatz binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu leisten.

2.1. Gemäß § 53 iVm § 28 Abs. 1 und 6 VwGVG wird der Beschwerde wegen Nichtdokumentation der Wegweisung des Beschwerdeführers am 19.12.2021 um ca. 18:50 Uhr im Verkehrsbereich G./Einfahrt H.-straße durch Organe der Landespolizeidirektion Folge gegeben und gemäß § 89 Abs. 4 SPG festgestellt, dass § 10 Abs. 1 RLV verletzt wurde.

2.2. Der Bund als Rechtsträger der belangten Behörde hat gemäß §§ 35 und 53 VwGVG iVm der VwG-AufwErsV dem Beschwerdeführer 737,60 Euro für Schriftsatzaufwand und 922,00 Euro für Verhandlungsaufwand an Aufwandersatz binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu leisten.

3. Gegen diese Entscheidungen ist gemäß § 25a Abs. 1 VwGG eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.

BEGRÜNDUNG

I.1. Mit dem am 31.12.2021 beim Verwaltungsgericht Wien eingelangten Schriftsatz erhob der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer Maßnahmenbeschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 und Art. 132 Abs. 2 B-VG und Richtlinienbeschwerden gemäß § 89 SPG.

1.1. Zu den Maßnahmenbeschwerden brachte er sachverhaltsmäßig vor, am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr in Wien, Verkehrsbereich F. sowie am 19.12.2021 um ca. 18:50 Uhr im Verkehrsbereich G./Einfahrt H.-Straße hätten Organe der Landespolizeidirektion Wien gegen ihn Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ausgeübt:

Er wohne in Wien, E.-gasse, welche im Norden in die Fußgängerzone … münde – er könne daher nur vom Süden her zu seinem Wohnhaus zufahren und wieder abfahren. Durch die seit Jahren bzw. Jahrzehnten im Bereich G. stattfindenden Versammlungen leide er unter Einschränkungen des motorisierten Individualverkehrs, welche sich in letzter Zeit aufgrund der Corona-Demonstrationen häuften.

Am 20.11.2021 fand nachmittags und abends ebenso eine Corona-Demonstration statt. An diesem Tag wollte der Beschwerdeführer eine Veranstaltung mit Beginn um 19:15 Uhr besuchen, weshalb er um ca. 18:30 Uhr von seinem Wohnhaus aus wegfuhr und die Umleitung zur F. befuhr. Dort war jedoch aufgrund der Corona-Demonstration die gesamte Fahrbahnbreite (beide Spuren) durch dort abgestellte Polizeifahrzeuge gesperrt. Ein Polizeibeamter wies dem Beschwerdeführer daraufhin an, er solle „wieder zurück zu seiner Wohnung fahren“. Eine Ausweicheroute war nicht vorhanden, weshalb für ihn keine Ausfahrtmöglichkeit mehr bestand. Es blieb ihn daher nichts anderes übrig als sich dem Polizeibefehl zu fügen, zu seinem Wohnhaus zurückzukehren und letztlich die Veranstaltung zu versäumen.

Am 17.12.2021 fuhr der Beschwerdeführer um 17:45 Uhr von L. nach Wien. Um ca. 18:50 Uhr versuchte er von der M. kommend in die H.-straße einzubiegen, wo jedoch ein polizeiliches Sperrgitter errichtet war. Der gesamte G. war mit Menschenmassen verstellt. Er suchte einen Polizeibeamten um Durchfahrtsmöglichkeit, welche ihm genauso verwehrt wurde, wie jede Durchfahrt über den G.. Er ist 80 Jahre und musste dann sein Fahrzeug in einer Nebenstraße abstellen, sein Gepäck – bis auf den Rucksack – im Auto zurücklassen und zu Fuß zu seinem Wohnhaus in Richtung E.-gasse gehen.

1.2. Zur Zulässigkeit seiner Beschwerden bringt er (unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 10.06.2021, V 1/2016) vor, die Aufforderung am 20.11.2021 zu seiner Wohnung zurückzukehren sei keine bloße „Einladung“ gewesen, weil aufgrund der Begleitumstände, insbesondere der vollständigen Blockade der Straße durch die dort abgestellten Polizeifahrzeuge klar war, dass kein Durchkommen möglich und offenkundig war, dass er im Falle der Widersetzung gegen polizeiliche Aufforderung bzw. bei Passieren des abgesperrten Bereiches Zwangsfolgen zu erwarten gehabt hätte. Dasselbe träfe auf die polizeiliche Anordnung vom 19.12.2021 die Überquerung des gesperrten G. zu unterlassen zu; auch hier hätte er Zwangsfolgen zu erwarten gehabt, hätte er sich der Anordnung widersetzt.

1.3. Ausgehend von der Vermutung, dass die Versammlung vom 20.11.2021 und jene vom 19.12.2021 ordnungsgemäß nach dem Versammlungsgesetz angemeldete Demonstrationen waren, sei die Gesetzmäßigkeit der Polizeimaßnahmen in erster Linie anhand des Versammlungsgesetzes zu beurteilen. Nach Ansicht des Beschwerdeführers hat die Versammlungsbehörde gegen das Versammlungsgesetz verstoßen, weil sie weder für den 20.11.2021 noch für den 19.12.2021 für eine alternative Fahrmöglichkeit Sorge getragen hat. Deshalb verstoßen auch die darauf aufbauenden Polizeibefehle gegen das Versammlungsgesetz. Auch das Sicherheitspolizeigesetz böte keine tragfähige gesetzliche Grundlage für Wegweisungen. Als Anrainer, der von den Auswirkungen der Demonstrationen betroffen ist, erachtet er sich in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK und auf Freizügigkeit seiner Person nach Art. 4 StGG beeinträchtigt. Obzwar das Versammlungsgesetz Anrainern keine Mitsprachemöglichkeit einräumt, seien deren Interessen somit ebenso auch grundrechtlich geschützt. Das Nichtschaffen einer (zumutbaren) Ausweichroute fand auch bei der Prüfung, ob eine angemeldete Versammlung rechtmäßigerweise untersagt worden war oder nicht, in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes eine tragende Rolle. Eine Ausweichroute stand dem Beschwerdeführer an beiden beschwerdegegenständlichen Tagen nicht zur Verfügung. Mangels Ausweichroute – also ohne Ausfahrens– und Zufallsmöglichkeiten – war die vollständige polizeiliche Blockade des Verkehrsbereiches an beiden beschwerdegegenständlichen Tagen vom Versammlungsgesetz nicht gedeckt. Folglich sind auch die dem Beschwerdeführer an beiden Tagen erteilten Polizeibefehle, die sich auf die erwähnte versammlungsgesetzwidrige Maßnahme (= Nichtschaffen einer Ausweichroute) stützten, rechtswidrig. Letztlich existiere auch sonst keine tragfähige gesetzliche Grundlage für die Wegweisungen des Beschwerdeführers am 20.11.2021 und am 19.12.2021.

1.4. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die Wegweisungen des Beschwerdeführers am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr in Wien im Verkehrsbereich F. sowie am 19.12.2021 um ca. 18:50 Uhr im Verkehrsbereich G./Einfahrt H.-straße für rechtswidrig zu erklären und dem Rechtsträger der belangten Behörde den Ersatz der dem Beschwerdeführer entstandenen Verfahrenskosten aufzuerlegen.

1.5. Zu den Richtlinienbeschwerden führte der Beschwerdeführer aus, wenn Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt ausüben, dann haben sie dafür zu sorgen, dass die für ihr Einschreiten maßgeblichen Umständen später nachvollzogen werden können. Entgegen dieser Vorgaben haben die Polizeiorgane weder die Wegweisung am 20.11.2021 noch jene am 19.12.2021 entsprechend dokumentiert.

Beantragt wurde die Feststellung der Verletzung des § 10 Abs. 1 Richtlinien-Verordnung, weil die Wegweisungen des Beschwerdeführers am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr in Wien im Verkehrsbereich F. und am 19.12.2021 um ca. 18:50 Uhr im Verkehrsbereich G./Einfahrt H.-straße durch Organe der Landespolizeidirektion Wien nicht dokumentiert wurden.

2. Die Beschwerden wurden der Behörde zugeleitet.

3.1. Zur Maßnahmenbeschwerde betreffend den 20.11.2021 erstattete die belangte Behörde eine Gegenschrift und brachte darin sachverhaltsmäßig vor, am 20.11.2022 (gemeint wohl: am 20.11.2021) fanden in Wien eine Vielzahl von Versammlungen zum Thema „Corona“ statt. Verwiesen wurde auf Versammlungsanzeigen zu den Themen „Beendigung des Gesundheitsfaschismus“ und „NEIN zu 3G am Arbeitsplatz, NEIN zur Angstpolitik und Pharmapropaganda, NEIN zu COVID-Impfung an jungen Minderjährigen“.

Zur Versammlung „Beendigung des Gesundheitsfaschismus“ wurde mit einer Teilnehmerzahl von ca. 3000 Personen gerechnet, aus dem Abschlussbericht sei jedoch hervorgegangen, dass letztlich ca. 30.000 Personen teilnahmen. Aus dem Abschlussbericht ist entnehmbar, die Runde um den G. zu der in der Beschwerde genannten Vorfallszeit war um 18:30 Uhr beendet.

Zur Vorfallszeit fand auch die Versammlung „NEIN zu 3G am Arbeitsplatz, NEIN zur Angstpolitik und Pharmapropaganda, NEIN zu COVID-Impfung an jungen Minderjährigen“ statt, welche von 18:00 Uhr bis 21:00 Uhr angezeigt war. Für eine Untersagung dieser Versammlung lag kein Grund vor.

Ebenso fanden im Bereich F. mehrere, der Behörde nicht angezeigte Versammlungen statt.

Dazu, dass der Beschwerdeführer von einem Organ der Landespolizeidirektion Wien weggewiesen wurde, liegen der belangten Behörde keine Anhaltspunkte vor.

Zur Rechtslage bzw. zur Wegweisung zu der vom Beschwerdeführer in beschwerdegezogenen Maßnahme wird von der belangten Behörde „(…) auf § 21 SPG hingewiesen.“ Zur Nichtuntersagung der Versammlungen ist ausgeführt, für eine Untersagung der angezeigten Versammlungen lag keine Rechtsgrundlage vor. Unangemeldete, spontane Demonstrationen bzw. Versammlungen wiederum könnten naturgemäß im Vorfeld nicht untersagt werden.

Beantragt wurde die Beschwerde in allen Punkten kostenpflichtig als unbegründet abzuweisen.

3.2. In der Gegenschrift zur Maßnahmenbeschwerde betreffend den 19.12.2021 brachte die belangte Behörde sachverhaltsmäßig vor, zum relevanten Zeitpunkt fand eine Versammlung zum Thema „Friedliches Gedenken an die an COVID in den letzten zwei Jahren verstorbene Menschen und deren Angehörige“ in Wien statt. Ab 18:45 Uhr betraten insgesamt 30.000 Teilnehmer die G.-fahrbahn. Für eine Untersagung der Versammlung bestand keine Rechtsgrundlage. Der Behörde liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschwerdeführer von einem Organ der Landespolizeidirektion Wien weggewiesen wurde.

Die Ausführungen zur Rechtslage sind ident mit jener zur Beschwerde betreffend den 20.11.2021.

3.3. Die Gegenschriften wurden dem Beschwerdeführer mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme zur Kenntnis gebracht.

In der in weiterer Folge abgegebenen Stellungnahme führte der Beschwerdeführer aus, die belangte Behörde hätte eingeräumt, dass zum Vorfallszeitpunkt des 20.11.2021 am G. eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes stattgefunden habe, für die kein Grund zur Untersagung vorlag. Dies ginge jedoch am Beschwerdevorbringen vorbei, demzufolge für eine Ausweichroute nicht Sorge getragen worden sei. In dem die belangte Behörde einräume, dass „keine Anhaltspunkte“ für eine Wegweisung vorlegen, gestehe sie zu, dass der Vorfall weder dokumentiert noch sonst nachvollziehbar ist. Was mit der Bezugnahme auf § 21 SPG („Gefahrenabwehr“) im Beschwerdefall zum Ausdruck gebracht werden sollte, erläutert die belangte Behörde nicht und ist auch nicht ersichtlich.

Auch zum Vorfall vom 19.12.2021 behauptet die belangte Behörde zwar, begründet jedoch nicht, dass kein Rechtsgrund für eine Untersagung der Versammlung existiert habe; sie geht somit auf die zentrale Thematik der Notwendigkeit der Schaffung einer Ausweichroute gar nicht ein. Die Wegweisung ist abermals intern nicht einmal nachvollziehbar, geschweige denn dokumentiert. Der verwiesene § 21 SPG habe mit dem beschwerdegegenständlichen Fall nichts zu tun. Die Gegenschrift ist ungeeignet, das Beschwerdevorbringen zu widerlegen.

4.1. Zur Richtlinienbeschwerde betreffend den 20.11.2021 erging seitens der Landespolizeidirektion Wien eine dem Beschwerdeführer am 18.03.2021 zugestellte Sachverhaltsmitteilung gemäß § 89 Abs. 2 SPG. Darin erkannte die Landespolizeidirektion Wien aufgrund des von ihr als erwiesen angenommenen Sachverhaltes, dass keine Verletzung der Richtlinien-Verordnung vorliegt.

In der Begründung ist zusammengefasst ausgeführt, dass am 20.11.2022 (gemeint wohl: 20.11.2021) eine Vielzahl von Versammlungen in Wien stattfanden. Aus dem Abschlussbericht zur Versammlung „Beendigung des Gesundheitsfaschismus“ ergibt sich, dass am G. ca. 30.000 Menschen marschierten und die Runde um den G. zum Zeitpunkt des Beschwerdevorfalls um 18:30 Uhr bereits beendet war. Zum relevanten Zeitpunkt fanden auch Versammlungen zum Thema „NEIN zu G3 am Arbeitsplatz, NEIN zu Angstpolitik und Pharmapropaganda, NEIN zur COVID-Impfung an jungen Minderjährigen“ statt, die von 18:00 Uhr bis 21:00 Uhr angezeigt war. Weiters fanden im Bereich F. mehrere, der Behörde nicht angezeigte Versammlungen statt. Zum Vorbringen, dass der Beschwerdeführer von Organen der Landespolizeidirektion Wien weggewiesen wurde, liegen der Behörde keine Anhaltspunkte vor, „sohin gab es auch keine zu dokumentierende verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt“.

Mit Eingabe vom 01.04.2022 begehrte der Beschwerdeführer gemäß § 89 Abs. 4 SPG dazu die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien über die Richtlinienbeschwerde.

4.2. Zur Richtlinienbeschwerde betreffend den 19.12.2021 erging seitens der Landespolizeidirektion Wien an das Verwaltungsgericht Wien keine Verständigung über eine allfällig an den Beschwerdeführer übermittelte Sachverhaltsdarstellung gemäß § 89 Abs. 2 SPG.

Mit Eingabe vom 13.04.2022 führte der Beschwerdeführer aus, dass ihm zu Handen seines Vertreters seitens der Landespolizeidirektion Wien am 18.03.2022 lediglich die Sachverhaltsmitteilung gemäß § 89 Abs. 2 SPG vom 15.03.2022 betreffend die Richtlinienbeschwerde zum Vorfall vom 20.11.2021 übermittelt wurde.

Zum Vorfall betreffend 19.12.2021 erging an dem Beschwerdeführer innerhalb der dreimonatigen Frist gemäß § 89 Abs. 4 SPG keine Mitteilung seitens der Landespolizeidirektion Wien an dem Beschwerdeführer, weshalb der Beschwerdeführer dazu die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien über die Richtlinienbeschwerde verlangt.

4.3. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung erging der Hinweis an die belangte Behörde, dass es dieser freistünde, zu den Richtlinienbeschwerden eine Gegenschrift zu erstatten. Unter Bezugnahme auf die Richtlinienbeschwerde vom 20.11.2021 führte die belangte Behörde aus, dass trotz umfangreicher Erhebungen der Behörde kein Anhaltspunkt dafür vorläge, dass der Beschwerdeführer am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr von einem Organ der Landespolizeidirektion Wien Weg gewiesen worden wäre. Infolgedessen läge auch die behauptete Richtlinienverletzung nicht vor.

5. Beim Verwaltungsgericht Wien fand am 05.08.2022 zu den Beschwerdeangelegenheiten eine öffentliche mündliche Verhandlung zur Einvernahme des Beschwerdeführers statt. Die belangte Behörde entsandte keinen Behördenvertreter.

5.1. In der Beschwerdesache wird folgender Sachverhalt festgestellt und als erwiesen angenommen:

Der Beschwerdeführer wollte am 20.11.2021 ein Spiel der Vienna Capitals besuchen. Dazu fuhr er zeitgerecht von seinem Wohnort in der E.-gasse mit seinem Auto weg und wollte den Weg über die F. befahren; eine Abfahrt über den angrenzenden K. stand nicht offen, weil dort bekanntermaßen eine Fußgängerzone verordnet ist. Die Abfahrt über die F. war nicht möglich, weil dort beide Fahrspuren mit Polizeifahrzeugen verstellt waren. Ein uniformierter Polizeibeamter teilte dem Beschwerdeführer auf dessen Nachfrage um ca. 18:30 Uhr im klaren Ton mit, dass er hier nicht durchkäme und er wieder nach Hause zurückfahren solle. Der Beschwerdeführer entsprach dieser Anordnung des Organs der belangten Behörde, weil „Anordnungen eines Polizisten für ihn bestimmend sind“ und für ihn eine faktische Durchfahrtsmöglichkeit ohne sich der Gefahr einer Festnahme auszusetzen, nicht bestand.

Am 19.12.2021 wollte der Beschwerdeführer um ca. 18:50 Uhr von Niederösterreich über die Westeinfahrt kommend zu seiner Wohnung in der E.-gasse zufahren. Vor der Einfahrt in die H.-Straße auf Höhe N.-straße war ein rot/weißes Sperrgitter angebracht. Der Beschwerdeführer versuchte beim anwesenden uniformierten Polizeibeamten eine Durchfahrtsmöglichkeit zu einer Wohnung in der E.-gasse mit Hinweisen auf seine körperlichen Handicaps im Bewegungsapparat zu erreichen. Es wurde ihm dann die Möglichkeit eingeräumt sein Auto über die linke Nebenfahrbahn der H.-Straße, an der Ausfahrt der P.-straße vorbei bis hin zur äußeren Nebenfahrbahn des G. auf Höhe R. (…) zu bringen und abzustellen – die Möglichkeit den G. zu queren, wo Menschen demonstrierend marschierten, wurde ihm verwehrt bzw. wurde ihm untersagt über den G. zu fahren. Es war dem Beschwerdeführer faktisch nicht möglich mit meinem Fahrzeug den G. zu queren ohne mit der Polizei oder Demonstranten zu kollidieren.

Nicht festgestellt konnte werden auf welche Rechtsgrundlage(n) die einschreitenden Beamten ihre jeweils gegenüber dem Beschwerdeführer erlassenen Anordnungen wieder nach Hause zurückfahren am 20.11.2021 bzw. die Untersagung der G.-querung am 19.12.2021 gestützt haben.

Die Anordnungen bzw. Aussprüche der Beamten der belangten Behörde vom 20.11.2021 und 19.12.2021 gegenüber dem Beschwerdeführer wurden nicht dokumentiert.

5.2. Die Feststellungen stützen sich im Wesentlichen auf die Einvernahme des Beschwerdeführers und sein Vorbringen. Seitens der belangten Behörde wurde nicht substantiiert in Abrede gestellt, dass gegenüber dem Beschwerdeführer keine Akte unmittelbar verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt gesetzt wurden. Seitens der belangten Behörde wurde lediglich vorgebracht, mangels intern auffindbarer Dokumentation liegen für die Behörde keine entsprechenden dafür Anhaltspunkte, dass die beschwerdegegenständlichen Handlungen gesetzt wurden.

Der Beschwerdeführer hat im persönlichen und unmittelbaren Eindruck glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, welche Handlungen an beiden beschwerdegegenständlichen Tagen Beamte der belangten Behörde ihm gegenüber tätigten. Auch zeigt die allgemeine Lebenserfahrung, dass verbale aber auch nonverbale (zB: Sperren) Aufforderungen von Beamten der belangten Behörde anlässlich einer Versammlung bzw. Demonstration an motorisierte Verkehrsteilnehmer ergehen, andere als die vom jeweiligen Verkehrsteilnehmern geplante Verkehrswege zu benutzen, welche nicht über den Versammlungsort verlaufen.

Auf welche Rechtsgrundlage die einschreitenden Polizeibeamten gegenüber dem Beschwerdeführer die geäußerten Aufforderungen/Polizeibefehl stützten, wurde von der belangten Behörde nicht dargelegt. Entsprechende bzw. konkrete Anhaltspunkte sind im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch nicht hervorgekommenen.

II.1. Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG erkennen Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wegen Rechtswidrigkeit. Ist im Verfahren wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG eine Beschwerde nicht zurückzuweisen oder abzuweisen, so hat das Verwaltungsgericht die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig zu erklären und gegebenenfalls aufzuheben. Dauert die für rechtswidrig erklärte Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt noch an, so hat die belangte Behörde unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Zustand herzustellen (§ 28 Abs. 6 VwGVG).

Gemäß § 53 VwGVG sind auf Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, die Bestimmungen über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt sinngemäß anzuwenden.

2.1. Die in den Maßnahmenbeschwerdeverfahren von der belangten Behörde angezogene Bestimmung des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG, BGBl. Nr. 566/1991, zuletzt geändert durch Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 50/2022, lautet:

Gefahrenabwehr
§ 21.
  1. (1) Den Sicherheitsbehörden obliegt die Abwehr allgemeiner Gefahren.
  2. (2) Die Sicherheitsbehörden haben gefährlichen Angriffen unverzüglich ein Ende zu setzen. Hiefür ist dieses Bundesgesetz auch dann maßgeblich, wenn bereits ein bestimmter Mensch der strafbaren Handlung verdächtig ist.
  3. (2a) Den Sicherheitsbehörden obliegen die Abwehr und Beendigung von gefährlichen Angriffen gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum auch an Bord von Zivilluftfahrzeugen, soweit sich ihre Organe auf begründetes Ersuchen des Luftfahrzeughalters oder zur Erfüllung gesetzlicher Aufgaben an Bord befinden und Völkerrecht dem nicht entgegensteht.“

2.2. Die in den Richtlinienbeschwerdeverfahren relevante Bestimmung der Richtlinien-Verordnung - RLV, BGBl. Nr. 266/1993, zuletzt geändert durch Verordnung, BGBl. II Nr. 155/2012, lautet:

Dokumentation
§ 10.
  1. (1) Üben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt aus oder nehmen sie Freiwilligkeit in Anspruch (§ 4), so haben sie dafür zu sorgen, daß die für ihr Einschreiten maßgeblichen Umstände später nachvollzogen werden können. Soweit dies hiezu erforderlich ist, sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes auch ermächtigt, Namen und Adressen von Menschen zu ermitteln, die über das Einschreiten Auskunft geben können.
  2. (2) Im Falle des gleichzeitigen Einschreitens mehrerer Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes oder einer geschlossenen Einheit hat der Kommandant angemessene Vorkehrungen dafür zu treffen, daß nach Möglichkeit festgestellt werden kann, welches Organ im Einzelfall eingeschritten ist.
  3. (3) Die bloß für Zwecke der Dokumentation vorgenommenen Aufzeichnungen über eine Amtshandlung sind nach sechs Monaten zu löschen. Kommt es innerhalb dieser Frist wegen der Amtshandlung zu Rechtsschutzverfahren, so sind die Aufzeichnungen erst nach Abschluß dieser Verfahren zu löschen. Regelungen, denen zufolge bestimmte Daten länger aufzubewahren sind, bleiben unberührt.“

3.1. Die Kosten im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt regelt § 35 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes – VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, welcher lautet:

„§ 35. (1) Die im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG) obsiegende Partei hat Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei.

(2) Wenn die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt wird, dann ist der Beschwerdeführer die obsiegende und die Behörde die unterlegene Partei.

(3) Wenn die Beschwerde zurückgewiesen oder abgewiesen wird oder vom Beschwerdeführer vor der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zurückgezogen wird, dann ist die Behörde die obsiegende und der Beschwerdeführer die unterlegene Partei.

(4) Als Aufwendungen gemäß Abs. 1 gelten:

      1. die Kommissionsgebühren sowie die Barauslagen, für die der Beschwerdeführer aufzukommen hat,

      2. die Fahrtkosten, die mit der Wahrnehmung seiner Parteirechte in Verhandlungen vor dem Verwaltungsgericht verbunden waren, sowie

      3. die durch Verordnung des Bundeskanzlers festzusetzenden Pauschalbeträge für den Schriftsatz-, den Verhandlungs- und den Vorlageaufwand.

(5) Die Höhe des Schriftsatz- und des Verhandlungsaufwands hat den durchschnittlichen Kosten der Vertretung bzw. der Einbringung des Schriftsatzes durch einen Rechtsanwalt zu entsprechen. Für den Ersatz der den Behörden erwachsenden Kosten ist ein Pauschalbetrag festzusetzen, der dem durchschnittlichen Vorlage-, Schriftsatz- und Verhandlungsaufwand der Behörden entspricht.

(6) Die §§ 52 bis 54 VwGG sind auf den Anspruch auf Aufwandersatz gemäß Abs. 1 sinngemäß anzuwenden.

(7) Aufwandersatz ist auf Antrag der Partei zu leisten. Der Antrag kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt werden.“

Bezüglich Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG sieht § 53 VwGVG vor:

Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze
§ 53.

Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, sind auf Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG die Bestimmungen über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt sinngemäß anzuwenden.“

3.2. Die Verordnung über die Pauschalierung der Aufwandersätze im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze (VwG-Aufwandersatzverordnung – VwG-AufwErsV), BGBl. II Nr. 517/2013, lautet auszugsweise:

„§ 1. Die Höhe der im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes – B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, und Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG als Aufwandersatz zu leistenden Pauschalbeträge wird wie folgt festgesetzt:

      1. Ersatz des Schriftsatzaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei   737,60 Euro

      2. Ersatz des Verhandlungsaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei   922,00 Euro

      3. Ersatz des Vorlageaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei              57,40 Euro

      4. Ersatz des Schriftsatzaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei   368,80 Euro

      5. Ersatz des Verhandlungsaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei   461,00 Euro

      6. Ersatz des Aufwands, der für den Beschwerdeführer mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens verbunden war (Schriftsatzaufwand)            553,20 Euro

      7. Ersatz des Aufwands, der für die belangte Behörde mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens verbunden war (Schriftsatzaufwand)          276,60 Euro“

III.1.

./A

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG in der Fassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I Nr. 51/2012, erkennen Verwaltungsgerichte (ebenso wie bisher die Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern gemäß Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG in der Fassung vor der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012) über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wegen Rechtswidrigkeit. Aus den parlamentarischen Erläuterungen zur genannten Novelle (vgl. RV 1618 BlgNR 24. GP, 13) erschließen sich keine Anhaltspunkte, dass durch diese Novelle der Beschwerdegegenstand eine Änderung erfahren hat, weshalb die bisher ergangene Rechtsprechung zur Vorgängerbestimmung weiterhin einschlägig ist (vgl. etwa auch Leeb in Hengstschläger/Leeb, AVG § 7 VwGVG (Stand 15.2.2017, rdb.at) Rz 68, 71; siehe auch VwGH vom 21.01.2015, Ro 2014/04/0063, oder vom 22.04.2015, Ra 2014/04/0046).

Voraussetzung für einen tauglichen Beschwerdegegenstand und damit für eine Befugnis des Verwaltungsgerichtes Wien zur Entscheidung in der Sache ist, dass das angefochtene Verhalten tatsächlich die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im Sinne des Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG darstellt (vgl. etwa Leeb in Hengstschläger/Leeb, AVG § 28 VwGVG (Stand 15.2.2017, rdb.at) Rz 162). Ein im Wege der Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG bekämpfbarer unmittelbarer Eingriff in die Rechtssphäre eines Beschwerdeführers liegt dann vor, wenn physischer Zwang ausgeübt wird oder die unmittelbare Ausübung physischen Zwangs bei Nichtbefolgung eines Befehls droht. Beschwerdetaugliche Akte der Befehlsgewalt erfordern einen unmittelbaren Befolgungsanspruch bei dem bei Nichtbefolgung des Befehls unverzüglich und ohne weiteres Verfahren eine physische Sanktion droht bzw. der Adressat mit zwangsweiser Realisierung bei Nichtbefolgung eines Befehls zu rechnen hat. Ein Zwangsakt kann durch faktische Vollziehung eines vorausgegangenen Befehls, dem nicht entsprochen wurde, als auch sogleich ohne vorherige Androhung gesetzt werden. Begriffsnotwendig ist dafür ein positives Tun nicht hingegen jedoch das Unterbleiben eines Verhaltens, selbst wenn auf dieses Verhalten, weil es zur Realisierung eines im Gesetz eingeräumten Rechtes unerlässlich ist, ein Anspruch besteht. Auch die bloße Untätigkeit einer Behörde stellt keine Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls und Zwangsgewalt dar (vgl. etwa Hengstschläger/Leeb, AVG2 § 67a (Stand 1.1.2014, rdb.at) Rz 33, 41 ff, 48 mit weiteren Nachweisen oder Eisenberger in Eisenberger/Ennöckl/Helm, Die Maßnahmenbeschwerde2, 16 ff, 22 ff, mit weiteren Nachweisen).

Entsprechend der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geht es bei einer Beschwerde gegen die Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt nicht darum, die abstrakte Zulässigkeit einer Maßnahme zu prüfen, sondern darum, ob der ganz konkret vorgenommene Zwangsakt rechtmäßig war oder nicht. Es ist nicht zulässig, dann, wenn sich der tatsächlich für die Zwangsmaßnahme maßgebend gewesene Grund als unzureichend erweisen sollte, nachträglich den Rechtsgrund auszuwechseln und eine andere, besser geeignete gesetzliche Grundlage heranzuziehen (VwGH vom 22.10.2002, Zl 2000/01/0527, oder vom 12.09.2006, Zl 2005/03/0068).

Gemäß Art. 4 StGG unterliegt die Freizügigkeit der Person innerhalb des Staatsgebietes keiner Beschränkung. Entsprechend ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bezieht sich dies auf die örtliche Bewegung einer Person, welche durch die Staatsgewalt nicht daran gehindert werden darf, sich in ein bestimmtes Gebiet oder an einen bestimmten Ort zu begeben oder welche ebenso wenig verpflichtet werden darf, ein bestimmtes Gebiet auf ausdrücklich vorgegebenen Wegen zu verlassen (vgl. etwa Mayer/Muzak, B-VG5, Art. 4 StGG, II.1. mwN). Dabei ist es auch irrelevant, welchen Zweck die Bewegung hat und wohin sie führen soll (vgl. etwa Pöschl, in: Korinek/Holoubek (Hrsg), Bundesverfassungsrecht, Art. 4 StGG (2002), Rz 21). Ebenso gewährleistet Art. 2 4. ZP EMRK das Recht von rechtmäßig im österreichischen Hoheitsgebiet aufhältigen Personen sich dort frei zu bewegen. Dieses Recht darf lediglich durch Gesetz unter den in Abs. 3 und 4 des Art. 2 4. ZP EMRK genannten Voraussetzungen beschränkt werden.

Gesetzliche Regelungen, welche zu Eingriffen in die Bewegungsfreizügigkeit eines Menschen ermächtigen, finden sich etwa in den Wegweisungsbefugnissen des Sicherheitspolizeigesetzes. In der Beschwerdesache wurde die Wegweisung des Beschwerdeführers jedoch nicht auf Grundlage einer solchen gesetzlichen Wegweisungsbefugnis ausgesprochen bzw. durchgeführt. Feststeht, dass Anordnungen von Organen der belangten Behörde ergingen am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr wieder nach Hause zurückfahren bzw. am 19.12.2021 um ca. 18:50 Uhr die Querung des G. untersagt bzw. ihm die Benutzung des von ihm gewählten Verkehrsbereich verwehrt wurde. Bei Nichtbeachtung der gegenüber ihm ergangenen Anordnungen hätte der Beschwerdeführer mit deren zwangsweisen Durchsetzung rechnen musste (vgl. etwa bereits den vom Beschwerdeführer verwiesenen Beschluss des VfGH vom 10.06.2016, V 1/2016) bzw. sich der Gefahr seiner Festnahme ausgesetzt.

Auf welche Rechtsgrundlage die Polizeibefehle gegenüber dem Beschwerdeführer konkret gestützt wurden, konnte in der Beschwerdesache nicht festgestellt werden. Die von der belangten Behörde unsubstaniiert ins Treffen geführte Bestimmung des § 21 SPG hat eine Aufgabe der Sicherheitsbehörde („Gefahrenabwehr“) zum Regelungsgegenstand; sie ermächtigt für sich jedoch nicht die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Rechtseingriff respektive zur Befugnisausübung bzw. Anordnung der beschwerdegegenständlichen Handlungen.

Wenn es bereits unzulässig ist die tatsächliche, für die konkret ausgeübte Befehls- bzw. Zwangsgewalt maßgeblich gewesene Rechtsgrundlage auszuwechseln bzw. durch eine andere, besser geeignete gesetzliche Grundlage zu ersetzen, so ist es umso mehr unzulässig, eine nicht feststellbare (allfällig) in Anspruch genommene gesetzliche Grundlage durch eine hypothetisch gesetzliche Grundlage zu substituieren. Mangels feststellbarer gesetzlicher Grundlage auf die die gegenüber dem Beschwerdeführer ergangenen Polizeibefehle vom 20.11.2021 und 19.12.2021 gestützt waren, erweisen sich diese Anordnungen als rechtswidrig.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

./B

Gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG iVm § 89 Abs. 4 SPG hat das Verwaltungsgericht Wien auf Antrag dessen, dem von der Dienstaufsichtsbehörde mitgeteilt wurde, dass die Verletzung einer Richtlinie nicht festgestellt worden sei, festzustellen, ob eine gemäß § 31 SPG festgelegten Richtlinie verletzt worden ist. Bei einer Richtlinienbeschwerde nach § 89 SPG handelt es sich um den Sonderfall einer Dienstaufsichtsbeschwerde, in der die Verletzung einer Richtlinie nach der Richtlinien-Verordnung, welche einen Verhaltenskodex für Exekutivorgane bei der Ausübung von Befugnissen festlegt, die durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes bei Erfüllung ihrer Aufgaben – insbesondere jener, die durch Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt und Zwangsgewalt zu besorgen sind, geltend gemacht wird (VwGH vom 09.09.2003, Zl 2002/01/0517). Gegenstand einer Richtlinienbeschwerde ist das Verhalten von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (§ 5 SPG), das am Maßstab der gemäß § 31 SPG erlassenen Richtlinien-Verordnung zu messen ist. Damit ist die Richtlinienbeschwerde eine „Verhaltensbeschwerde“ nach Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG und hat „typenfreies“ Verwaltungshandeln zum Gegenstand (etwa VwGH vom 13.10.2015, Ra 2015/01/0166 mwN).

Die auf Grundlage des § 31 SPG erlassene Richtlinien-Verordnung stellt einen Berufspflichtenkodex der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes dar und bezweckt, eine wirkungsvolle einheitliche Vorgangsweise der Sicherheitsexekutive sicherzustellen und die Gefahr von Konflikten mit den Betroffenen zu mindern. Sie legt jedoch nicht die Modalitäten fest, auf deren Einhaltung der Betroffene bei Ausübung bestimmter Befugnisse durch Exekutivbeamte einen Rechtsanspruch hat. Die Frage von Richtlinienverletzungen ist eine Angelegenheit des „inneren Dienstes“, unabhängig davon, in Ausübung welcher Staatsfunktion eine Tätigkeit vorgenommen bzw. eine Befugnisnorm in Anspruch genommen wird, und ist auf Dienstaufsichtsebene zu klären und gegebenenfalls in weiterer Folge von den Verwaltungsgerichten der Länder nach § 89 Abs. 4 SPG zu entscheiden. Die Frage einer allfälligen Verletzung von Richtlinien ist daher ausschließlich anhand der konkreten Einzel-Anordnungen der Richtlinien-Verordnung zu beantworten (etwa VwGH vom 17.10.2017, Ra 2017/01/0309, vom 21.10.2011, Zl 2010/03/0058, vom 24.08.2004, Zl 2003/01/0041, vom 17.09.2002, Zl 2000/01/0138, oder vom 07.09.2000, Zl 99/01/0429).

Bei der Frage, ob beim Einschreiten eines Exekutivorganes Richtlinien verletzt worden sind, kommt es nicht auf den subjektiven Eindruck des von der Amtshandlung Betroffenen, sondern nur auf das objektive Erscheinungsbild an (VwGH vom 24.08.2004, Zl 2004/01/0147).

Gemäß § 10 Abs. 1 erster Satz RLV haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, wenn sie verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt ausüben oder Freiwilligkeit in Anspruch nehmen (§ 4), dafür zu sorgen, dass die für ihr Einschreiten maßgeblichen Umstände später nachvollzogen werden können.

In der Beschwerdesache steht fest, dass die Anordnungen bzw. Aussprüche der Beamten der belangten Behörde im Zusammenhang mit der Wegweisung des Beschwerdeführers am 20.11.2021 um ca. 18:30 Uhr im Verkehrsbereich F. und der Wegweisung des Beschwerdeführers am 19.12.2021 um ca. 18:50 Uhr im Verkehrsbereich G./Einfahrt H.-straße nicht dokumentiert wurden. Insoweit wurde dem Anordnungsgehalt des § 10 Abs. 1 erster Satz RLV zur Nachvollziehbarkeit der für das Einschreiten der Beamten am 20.11.2021 und 19.12.2021 maßgeblichen Umständen nicht entsprochen.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

2. Die Kostenaussprüche gründen sich auf § 35 Abs. 1, 2 und 4 Z 3 VwGVG iVm § 1 Z 1 und 2 VwG-AufwErsV bzw. auf § 35 Abs. 1, 2 und 4 Z 3 und § 53 VwGVG iVm § 1 Z 1 und 2 VwG-AufwErsV.

3. Die Aussprüche über die Unzulässigkeit der Revision gründen sich darauf, dass keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung einer zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal die verfahrensgegenständlichen Rechtsfragen klar aus dem Gesetz lösbar sind (vgl. Köhler, Der Zugang zum VwGH in der zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, ecolex 2013, 589 ff, mwN).

Schlagworte

Maßnahmenbeschwerde; Richtlinienbeschwerde; Polizeibefehl; Bewegungsfreizügigkeit; Wegweisung; fehlende Rechtsgrundlage; Befehls- und Zwangsgewalt; Nichtdokumentation; Richtlinienverordnung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2022:VGW.102.067.18429.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.11.2022
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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