TE Vwgh Erkenntnis 2022/10/12 Ra 2020/08/0109

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Veröffentlicht am 12.10.2022
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revisionen des M D in S, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Erich Greger und Dr. Günther Auer in 5110 Oberndorf, Salzburger Straße 77, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 12. Mai 2020, 1. L503 2146568-1/10E, betreffend Pflichtversicherung nach dem ASVG und dem AlVG (hg. Zl. Ra 2020/08/0110), und 2. L503 2004767-2/7E, betreffend Beitragsnachverrechnung und Vorschreibung von Verzugszinsen nach dem ASVG (hg. Zl. Ra 2020/08/0109) (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Salzburger Gebietskrankenkasse, nunmehr: Österreichische Gesundheitskasse; mitbeteiligte Parteien: 1. I L in E; 2. L P in H; 3. D S; 4. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in 1100 Wien, Wienerbergstraße 11; 5. Pensionsversicherungsanstalt in 1021 Wien, Friedrich Hillegeiststraße 1; weitere Partei: Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Österreichische Gesundheitskasse hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 2.212,80 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 4. November 2016 stellte die Salzburger Gebietskrankenkasse fest, dass der Erstmitbeteiligte von 16. Juli 2013 bis 30. Juni 2014, der Zweitmitbeteiligte von 9. Mai 2011 bis 31. August 2012 und der Drittmitbeteiligte von 30. Jänner 2012 bis 31. Mai 2014 aufgrund ihrer jeweiligen für die revisionswerbende Partei in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit ausgeübten Tätigkeit - und zwar als Fahrer und Zusteller im Transportunternehmen der revisionswerbenden Partei - der Pflicht-(Voll-)versicherung in der Kranken-, Unfall-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung gemäß § 4 Abs. 1 und 2 ASVG und § 1 Abs. 1 lit. a AlVG unterlegen seien.

2        Mit einem weiteren Bescheid vom selben Tag verpflichtete die Salzburger Gebietskrankenkasse die revisionswerbende Partei - insbesondere auf der Grundlage der Feststellung der Pflichtversicherung der Erst- bis Drittmitbeteiligten -, nachverrechnete Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von € 147.113,06 sowie Verzugszinsen in der Höhe von € 37.652,37 zu entrichten.

3        Gegen diese Bescheide erhob die revisionswerbende Partei Beschwerden. Sie brachte vor, die belangte Behörde habe mit der Annahme, die Erst- bis Drittmitbeteiligten hätten von Montag bis Freitag für die revisionswerbende Partei eine ihnen jeweils zugewiesene Tour zu fahren und dabei Abholungs- und Zustelldienste durchzuführen gehabt, den Sachverhalt verkannt. Tatsächlich hätten der Erst- bis Drittmitbeteiligte entgegen den Feststellungen der belangten Behörde keinerlei persönliche Pflicht gehabt, jeden Tag zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu erscheinen und dort Waren zu empfangen. Hätten solche Pflichten tatsächlich bestanden, dann nicht gegenüber der revisionswerbenden Partei, sondern gegenüber der D GmbH bzw. deren Subunternehmen, sodass allenfalls diese, nicht jedoch die revisionswerbende Partei als Dienstgeber anzusehen wäre. Die revisionswerbende Partei beantragte in den Beschwerden jeweils die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und stellte Beweisanträge (insbesondere gerichtet auf die Einvernahme des Erst- bis Drittmitbeteiligten).

4        Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden der revisionswerbenden Partei gegen diese Bescheide als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Das Bundesverwaltungsgericht traf - aufgrund des Akteninhaltes - Feststellungen zu den Tätigkeiten der Erst- bis Drittmitbeteiligten für die revisionswerbende Partei, wobei es sich im Wesentlichen den Annahmen der Salzburger Gebietskrankenkasse anschloss. Daraus folgerte es in rechtlicher Hinsicht, es seien jeweils die Merkmale eines Beschäftigungsverhältnisses nach § 4 Abs. 2 ASVG vorgelegen. An der Dienstgebereigenschaft der revisionswerbenden Partei könnten keine Zweifel bestehen. Anhaltspunkte, die gegen die Richtigkeit der Beitragsnachverrechnung sprechen würden, seien nicht hervorgekommen. Eine mündliche Verhandlung habe jeweils entfallen können, weil dadurch eine weitere Klärung des Sachverhaltes, der aufgrund der Aktenlage festgestanden sei, nicht zu erwarten gewesen wäre.

6        Die gegen diese Erkenntnisse erhobenen Revisionen wurden wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung verbunden. Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber nach Durchführung von Vorverfahren, in denen die Österreichische Gesundheitskasse Revisionsbeantwortungen erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7        Zur Zulässigkeit der Revisionen macht die revisionswerbende Partei jeweils insbesondere geltend, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Aufklärung des - entgegen seiner Annahme strittigen - Sachverhaltes abgesehen und sei damit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

8        Die Revisionen sind aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.

9        Das Bundesverwaltungsgericht hätte nach § 24 Abs. 4 VwGVG von der - beantragten - mündlichen Verhandlung nur dann absehen dürfen, wenn die Akten erkennen hätten lassen, dass durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten gewesen und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegengestanden wäre.

10       Den Sachverhaltsannahmen, auf die die Salzburger Gebietskrankenkasse und das Bundesverwaltungsgericht die rechtliche Beurteilung hinsichtlich des Vorliegens einer Pflichtversicherung der Erst- bis Drittmitbeteiligten und der Eigenschaft der revisionswerbenden Partei als Dienstgeber gegründet haben, ist die revisionswerbende Partei - wie dargestellt - entgegengetreten. Vor diesem Hintergrund waren in den vorliegenden Verfahren, in denen „civil rights“ im Sinn des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beurteilen waren, die Voraussetzungen des Absehens von einer mündlichen Verhandlung nicht gegeben. Es gehört gerade im Fall zu klärender bzw. widersprechender prozessrelevanter Behauptungen - wie hier vorliegend - zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichtes, dem auch im § 25 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Ist eine Verhandlung nach Art. 6 EMRK geboten, dann ist eine Prüfung der Relevanz des Verfahrensmangels der Unterlassung einer solchen Verhandlung nicht durchzuführen (vgl. VwGH 30.4.2021, Ra 2020/08/0043 ua., mwN).

11       Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

12       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Der beantragte Ersatz der Eingabengebühren war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit nach § 110 ASVG nicht zuzusprechen.

Wien, am 12. Oktober 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020080109.L00

Im RIS seit

02.11.2022

Zuletzt aktualisiert am

02.11.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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