Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 28. September 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz-Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Buttinger im Verfahren zur Unterbringung des * V* in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB, AZ 91 Hv 50/20v des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des genannten Gerichts als Schöffengericht vom 21. Jänner 2021 (ON 31) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, des Betroffenen und seines Verteidigers zu Recht erkannt:
Spruch
Im Verfahren AZ 91 Hv 50/20v des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt das Urteil dieses Gerichts als Schöffengericht vom 21. Jänner 2021 (ON 31) § 87 Abs 2 erster Fall StGB.
Dieses Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, wird in der Subsumtion (§ 430 Abs 2 StPO iVm § 260 Abs 1 Z 2 StPO) der Anlasstat nach § 87 Abs 2 erster Fall StGB, demzufolge auch im Ausspruch der Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB, aufgehoben und es wird die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Text
Gründe:
[1] Mit (dem unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen) Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 21. Jänner 2021 (ON 31) wurde * V* in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB eingewiesen.
[2] Danach hat er am 22. April 2020 in W* unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend dissozialen, narzisstischen und emotional-instabilen Anteilen sowie rezidivierenden psychotischen Dekompensationen, beruht, * P*
eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) absichtlich zuzufügen und
bei diesem für immer den Verlust oder eine schwere Schädigung des Sehvermögens (§ 85 Abs 1 Z 1 StGB) herbeizuführen
versucht (§ 15 StGB), indem er mit den Worten: „Wenn ich dich nicht umbringen kann, dann mache ich dich blind!“ mehrmals mit einem Buttermesser gegen Kopf und Rücken sowie gegen beide Augen des Genannten stach, wodurch dieser mehrere Schnittwunden im Gesicht nahe dem rechten Auge und am linken Mittelfinger, Schürfwunden am Hinterkopf sowie eine blutende Wunde am Hals erlitt und es nur deshalb beim Versuch blieb, weil das Opfer seine Hände schützend vor die Augen hielt und Dritte ihm zu Hilfe kamen,
und dadurch das Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 und 2 erster Fall StGB begangen.
Rechtliche Beurteilung
[3] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht das angefochtene Urteil mit dem Gesetz nicht im Einklang.
[4] Vorweg sei festgehalten, dass § 87 Abs 1 StGB auf den Eintritt des Taterfolgs – nämlich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) – gerichtete Absicht (§ 5 Abs 2 StGB) erfordert (RIS-Justiz RS0092585 [insbesondere T1 und T2] und RS0092598 [insbesondere T1]). Die (Erfolgs-)Qualifikation des § 87 Abs 2 erster Fall StGB verlangt – in Verbindung mit § 7 Abs 2 StGB – überdies, dass eine schwere Dauerfolge (§ 85 Abs 1 StGB) wenigstens fahrlässig (§ 6 StGB) herbeigeführt wurde (RIS-Justiz RS0089559).
[5] Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs setzt die Anwendung einer (allein) in Verbindung mit § 7 Abs 2 StGB vertypten Erfolgsqualifikation voraus, dass die besondere Folge tatsächlich eingetreten ist: Der Versuch (§ 15 StGB) einer solchen ist rechtlich nicht denkbar (13 Os 150/76 SSt 47/84, RIS-Justiz RS0089439 [zu § 84 Abs 1 StGB idF vor BGBl I 2015/154]; zur Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Position Burgstaller/Schütz in WK2 StGB § 7 Rz 32 sowie [in Bezug auf § 87 Abs 2 StGB] § 87 Rz 14; aA die vereinzelt gebliebene Entscheidung 12 Os 47/85 und der aus ihr gebildete Rechtssatz RIS-Justiz RS0092634: versuchte Bestimmung zu § 87 Abs 2 erster Fall StGB sei denkbar, wenn [nicht nur die schwere Körperverletzung absichtlich, sondern auch] die schweren Dauerfolgen vorsätzlich herbeigeführt werden sollten).
[6] Anderes gilt zwar für § 84 Abs 4 StGB (idF BGBl I 2015/154) und für § 85 Abs 2 StGB (idF BGBl I 2017/117), aus deren Wortlaut (jeweils: „und dadurch, wenn auch nur fahrlässig […] herbeiführt“) in Ansehung der besonderen Folge eine – solcherart unabhängig von § 7 Abs 2 StGB normierte – „Vorsatzvariante“ abgeleitet wird, die insoweit strafbaren Versuch (§ 15 StGB) ermöglicht (13 Os 136/16y RIS-Justiz RS0131591 [zu §§ 15, 84 Abs 4 StGB]; Burgstaller/Schütz in WK2 StGB § 84 Rz 70 und 73 ff [insbesondere Rz 76] sowie § 85 Rz 33).
[7] § 87 Abs 2 erster Fall StGB ist jedoch – auch nach dem StRÄG 2015 – eine Erfolgsqualifikation (§ 7 Abs 2 StGB) „alten Stils“ geblieben (arg „Zieht die Tat […] eine schwere Dauerfolge [§ 85] nach sich“), für die das zuvor Dargelegte (weiterhin) gilt (Burgstaller/Schütz in WK2 StGB § 87 Rz 14).
[8] Auf der Basis der Urteilsfeststellungen (US 4) ist weder eine – vom Betroffenen beabsichtigte – schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) noch eine – von ihm ebenfalls intendierte – schwere Dauerfolge (§ 85 Abs 1 StGB) tatsächlich eingetreten.
[9] Hievon ausgehend wurde die Anlasstat zwar zutreffend einem – im Stadium des Versuchs (§ 15 StGB) verbliebenen – Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB subsumiert. Ihre Subsumtion (auch) nach der Qualifikationsnorm des § 87 Abs 2 erster Fall StGB war hingegen verfehlt.
[10] Hinzugefügt sei, dass allerdings dieselbe Tat
– auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen – die (Vorsatzvariante des) § 85 Abs 2 (Abs 1 Z 1) StGB im Stadium des Versuchs (§ 15 StGB) verwirklicht. § 85 Abs 2 StGB würde zwar von § 87 Abs 2 erster Fall StGB im Wege von Scheinkonkurrenz verdrängt (Burgstaller/Schütz in WK2 StGB § 85 Rz 39 und § 87 Rz 18). Zum (hier allein begründeten) Grundtatbestand des §(§ 15,) 87 Abs 1 StGB tritt er jedoch in echte (Ideal-)Konkurrenz:
[11] Der durch das StRÄG 2015 neu gefasste § 85 StGB normiert – (wie schon zuvor § 87 StGB, jedoch) im Gegensatz zu § 85 StGB aF – keine unselbständige Abwandlung des § 83 (Abs 1 oder 2) StGB. Vielmehr statuiert er (in Abs 1 eine selbständige Qualifikation des § 83 Abs 2 StGB und) in Abs 2 eine selbständige Qualifikation des § 83 Abs 1 StGB. Gegenüber der von § 85 StGB verlangten schweren Dauerfolge (§ 85 Abs 1 Z 1, 2, 2a oder 3 StGB) ist der Taterfolg des (wenngleich insoweit Absichtlichkeit voraussetzenden) § 87 Abs 1 StGB, nämlich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB), teils enger, teils weiter (vgl RIS-Justiz RS0115024, insbesondere 14 Os 11/01 mit eingehender Begründung; aA die vereinzelt gebliebene Entscheidung 11 Os 124/79 und der aus ihr gebildete Rechtssatz RIS-Justiz RS0092458, wonach eine lang andauernde auffallende Verunstaltung einer schweren Körperverletzung im Sinn des § 84 Abs 1 StGB gleichkomme). Spezialität des § 87 Abs 1 StGB gegenüber § 85 Abs 2 StGB scheidet demnach aus (vgl Ratz in WK2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 32 ff, insbesondere Rz 35; siehe dagegen RIS-Justiz RS0092570 [T1] zur alten Rechtslage). Angesichts des (insoweit gegenüber § 87 Abs 2 erster Fall StGB differenzierten) Wortlauts des § 85 Abs 2 StGB, der § 7 Abs 2 StGB – mit der Konsequenz rechtlich möglicher Versuchsstrafbarkeit (§ 15 StGB) in Bezug auf die angesprochene Erfolgsqualifikation – gleichsam ersetzt, lassen die in Rede stehenden Strafsätze auch keineswegs unmissverständlich erkennen, dass § 85 Abs 2 StGB nur begründet sein soll, wenn nicht § 87 Abs 1 StGB begründet ist. Ebenso wenig ist mit der Erfüllung des § 87 Abs 1 StGB regelmäßig die Verwirklichung des § 85 Abs 2 StGB verbunden, dessen Unwertgehalt zudem – angesichts der gleich strengen Strafdrohungen (jeweils Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren) – nicht hinter Ersterem zurücksteht. Damit ist – wenn eine schwere Dauerfolge zwar vom Vorsatz des Täters (des § 87 Abs 1 StGB) umfasst ist, aber (anders als von § 87 Abs 2 erster Fall StGB [iVm § 7 Abs 2 StGB] verlangt) nicht eintritt – auch weder von Konsumtion des §(§ 15,) 85 Abs 2 StGB als typischer „Begleittat“ noch von dessen materieller Subsidiarität gegenüber § 87 Abs 1 StGB auszugehen (zu den angesprochenen Scheinkonkurrenztypen Ratz in WK2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 36 ff und 57 ff).
[12] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Betroffenen wirkt (vgl RIS-Justiz RS0133377), sah sich der Oberste Gerichtshof dazu bestimmt, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
Textnummer
E136327European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0130OS00079.22Z.0928.000Im RIS seit
24.10.2022Zuletzt aktualisiert am
24.10.2022