Kopf
Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 11. Oktober 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als weiteren Richter sowie die Anwaltsrichter Dr. Bartl und Dr. Waizer in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Turner als Schriftführer in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwältin in *, wegen der Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes über die Berufung der Beschuldigten gegen das Erkenntnis des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer für Kärnten vom 7. März 2022, AZ D 15/20 (DV 7/21), OZL 17, nach mündlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Stani und der Beschuldigten zu Recht erkannt:
Spruch
Es wird der Berufung wegen Nichtigkeit Folge gegeben, das angefochtene Erkenntnis zur Gänze aufgehoben und dem Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer für Kärnten die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Mit ihrer Berufung wegen Schuld und Strafe wird die Beschuldigte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde RAin * der Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes nach § 1 Abs 1 erster und zweiter Fall DSt schuldig erkannt.
[2] Danach hat sie dadurch, dass sie mit Schriftsatz vom 6. August 2020 das Vollmachtsverhältnis gegenüber ihren Klienten kündigte und ihre Mandanten in der darauffolgenden Tagsatzung im Verfahren * vor dem Bezirksgericht * (in dem diese wegen Mietzinsrückständen geklagt waren) am 11. August 2020 nicht mehr vertrat, die Bestimmung des § 11 Abs 2 RAO verletzt.
[3] Ergänzend ist zu bemerken, dass die beiden Beklagten – trotz mehrmaliger Ladungen – sich nie zur Parteienvernehmung einfanden (ES 2 f).
[4] Über die Beschuldigte wurde gemäß § 16 Abs 1 Z 1 DSt die Disziplinarstrafe des schriftlichen Verweises verhängt und sie zum Ersatz der Kosten des Verfahrens verurteilt.
Rechtliche Beurteilung
[5] Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Berufung der Beschuldigten wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe.
[6] Die Konstatierungen des Disziplinarrats im angefochtenen Erkenntnis vermögen den Schuldspruch nicht zu tragen.
[7] Die Berufung der Beschwerdeführerin zeigt zutreffend auf, dass das Erkenntnis keine Feststellungen darüber enthält, ob eine Vertretung durch die Disziplinarbeschuldigte in der Tagsatzung vom 11. August 2020 im Sinne des § 11 Abs 2 RAO nötig war.
[8] § 11 Abs 2 RAO normiert, dass im Falle der Aufkündigung des Mandats durch den Rechtsanwalt dieser verpflichtet ist, die Mandanten noch weitere 14 Tage, von der Zustellung der Kündigung an gerechnet, soweit zu vertreten, als nötig ist, um die Partei vor Rechtsnachteilen zu schützen (vgl Rohregger in Engelhart et al RAO10 § 11 RAO Rz 14).
[9] Dem Erkenntnis fehlt jede Feststellung zur Frage, warum – in diesem Verfahren vor dem Bezirksgericht, in dem sich die Parteien auch selbst vertreten können – eine weitere anwaltliche Vertretung der Mandanten notwendig gewesen wäre, um einen Rechtsnachteil abzuwenden, zumal der Disziplinarrat offenbar davon ausging, dass ein solcher für die betroffenen Parteien (die das klagestattgebende Urteil unbekämpft ließen) nicht eingetreten ist.
[10] Der vom Disziplinarrat zitierte (in einem Spannungsverhältnis zu § 11 Abs 2 RAO stehende) Rechtssatz RIS-Justiz RS0016458 ist mit dem festgestellten Sachverhalt nicht vergleichbar, weil dort ein Rechtsnachteil nur wegen Umständen nicht eingetreten ist, die der beschuldigte Rechtsanwalt zum Zeitpunkt der Kündigung des Mandats nicht vorhersehen konnte.
[11] Der mit dem Wortlaut des § 11 Abs 2 RAO an sich vereinbarte Standpunkt des Kammeranwalts, die Vertretung in jedweder Verhandlung sei zur Hintanhaltung jedweder – nicht absehbarer – Rechtsnachteile schon abstrakt „nötig“, würde zu einem vom Telos der Norm (lediglich eingeschränkte Verpflichtung zu weiterer Vertretung nach Kündigung des Mandats) abweichenden Interpretationsergebnis führen. Die Notwendigkeit weiterer Vertretung zum Schutz vor Rechtsnachteilen ist vielmehr nach der Maßfigur des an § 9 Abs 1 RAO orientierten Rechtsanwalts fallkonkret zu ermitteln.
[12] Der Schuldspruch leidet somit (im Übrigen auch zur subjektiven Tatseite) an einem Rechtsfehler mangels Feststellungen (vgl 13 Os 154/81; zu wenig differenzierend Rohregger in Engelhart et al RAO10 § 11 RAO Rz 18).
[13] Schon aufgrund dieses Feststellungsdefizits war das angefochtene Erkenntnis – in Übereinstimmung mit der Generalprokuratur – in Stattgebung der Berufung der Beschuldigten wegen Nichtigkeit aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer für Kärnten zu verweisen, ohne dass es eines Eingehens auf das weitere Vorbringen bedurfte.
[14] Mit ihrer Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe war die Beschuldigte auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
Textnummer
E136319European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0200DS00009.22M.1011.000Im RIS seit
21.10.2022Zuletzt aktualisiert am
21.10.2022