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E000 EU- Recht allgemeinNorm
EURallgBetreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie den Hofrat Dr. Schwarz als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revisionen 1. des Bundesministers für Finanzen (Ra 2020/17/0006) und 2. des M H in W (Ra 2020/17/0056), vertreten durch Dr. Patrick Ruth und MMag. Daniel Pinzger, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Kapuzinergasse 8/4, gegen das am 19. September 2019 mündlich verkündete und am 17. Oktober 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, VGW-002/011/9566/2018-13, betreffend Übertretungen des Glücksspielgesetzes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Wien; mitbeteiligte Partei zu Ra 2020/17/0006: M H in W, vertreten durch Dr. Patrick Ruth und MMag. Daniel Pinzger, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Kapuzinergasse 8/4), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der zweitrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Straferkenntnis vom 1. Juni 2018 erkannte die belangte Behörde den Zweitrevisionswerber der siebenfachen Übertretung des § 52 Abs. 1 Z 1 vierter Fall Glücksspielgesetz - GSpG schuldig und verhängte über ihn sieben Geldstrafen in der Höhe von jeweils EUR 10.000,-- (samt Ersatzfreiheitsstrafen), weil er im Zeitraum vom 13. September 2017 bis 28. November 2017 der F Kft. das Lokal S in W zur Verfügung gestellt (verpachtet) habe, um (dort) fortgesetzt Einnahmen aus den veranstalteten Glücksspielen zu erzielen. Die belangte Behörde schrieb dem Zweitrevisionswerber (Mitbeteiligter im Verfahren Ra 2020/17/0006) überdies einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vor.
2 Der Zweitrevisionswerber erhob dagegen Beschwerde.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) diese Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Schuldfrage als unbegründet ab und bestätigte insoweit das angefochtene Erkenntnis. Das Verwaltungsgericht verhängte über den Zweitrevisionswerber eine Gesamtgeldstrafe in der Höhe von EUR 40.000,-- (sowie eine Ersatzfreiheitsstrafe) und setzte den Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens herab. Es sprach aus, dass dem Zweitrevisionswerber kein Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens auferlegt werde (Spruchpunkt I.). Weiters erklärte das Verwaltungsgericht eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt II.).
4 Der Bundesminister für Finanzen erhob dagegen eine außerordentliche Revision.
5 Der Zweitrevisionswerber erhob gegen dieses Erkenntnis zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 25. Februar 2020, E 4353/2019-5, ablehnte und die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge erhob der Zweitrevisionswerber ebenfalls Revision vor dem Verwaltungsgerichtshof.
6 Die belangte Behörde erstattete weder zur Amtsrevision noch zur Revision des Zweitrevisionswerbers eine Revisionsbeantwortung. Der Zweitrevisionswerber erstattete zur Amtsrevision keine Revisionsbeantwortung.
7 In der Folge setzte der Verwaltungsgerichtshof mit Beschlüssen vom 11. November 2020 (Ra 2020/17/0006) und 16. Dezember 2020 (Ra 2020/17/0056) die genannten Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den EuGH in der Rechtssache C-231/20 über die mit Vorlageentscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. April 2020, EU 2020/0002 (Ra 2020/17/0013), im Zusammenhang mit § 52 Abs. 2 dritter Strafsatz GSpG vorgelegten Fragen aus.
8 Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 10. Dezember 2021, Ra 2020/17/0013, unter Zugrundelegung des Urteils des EuGH vom 14. Oktober 2021, MT, C-231/20, ausgesprochen hat, sind die Rechtsgrundlagen für die Verhängung von Geldstrafen gemäß § 52 Abs. 2 dritter Strafsatz GSpG, für die Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 16 VStG im Zusammenhang mit der Verhängung von Geldstrafen gemäß § 52 Abs. 2 dritter Strafsatz GSpG und für die Vorschreibung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens gemäß § 64 Abs. 2 VStG grundsätzlich mit dem Unionsrecht (insbesondere Art. 56 AEUV und Art. 49 Abs. 3 GRC) vereinbar (vgl. dazu näher VwGH 10.12.2021, Ra 2020/17/0013).
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat beschlossen, die Revisionen wegen ihres persönlichen, sachlichen und rechtlichen Zusammenhanges zu verbinden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Die Amtsrevision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung ausschließlich gegen die Festsetzung der Gesamtstrafe. Die Revision des Zweitrevisionswerbers bringt in ihrer Zulässigkeitsbegründung unter anderem vor, dass das Verwaltungsgericht keine Feststellungen zur Frage der Unionsrechtskonformität der anzuwendenden Bestimmungen des GSpG getroffen habe. Beide Revisionen erweisen sich bereits mit den genannten Vorbringen als zulässig.
11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es Aufgabe des in der Sache entscheidenden Verwaltungsgerichts, zum Zweck der Durchführung einer Gesamtwürdigung der Umstände, unter denen die die Dienstleistungsfreiheit beschränkenden Bestimmungen des GSpG erlassen worden sind und umgesetzt werden, die hiefür notwendigen Feststellungen zu treffen, um in der Folge beurteilen zu können, ob die Regelungen des GSpG den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechen. Zur Ermöglichung der Beurteilung, ob Unionsrecht unmittelbar anwendbar ist, hat das Verwaltungsgericht Feststellungen dazu zu treffen, ob die Monopolregelung den unionsrechtlichen Vorgaben entspricht, und sich für den Fall der Annahme der Nichtanwendbarkeit von Unionsrecht auch mit der Frage verfassungsrechtlicher Bedenken der Anwendung von § 52 GSpG wegen Inländerdiskriminierung auseinanderzusetzen (vgl.etwa VwGH 29.1.2020, Ra 2019/09/0133, mwN). Dieses Ermittlungsverfahren ist von Amts wegen durchzuführen (vgl. VwGH 17.2.2016, Ra 2015/17/0020, mwN).
12 Das angefochtene Erkenntnis enthält zwar unter der Überschrift „3.2] Zur Kohärenz und Systematik des Glücksspielgesetzes“ diverse Ausführungen zur Kohärenzprüfung (Gesamtwürdigung). Diese erschöpfen sich jedoch in einer Darstellung der Rechtsprechung des EuGH zu deren Durchführung. Feststellungen über die Umstände, unter denen die die Dienstleistungsfreiheit beschränkenden Bestimmungen des GSpG erlassen worden sind und umgesetzt werden und daraus gezogene Schlussfolgerungen zur Beantwortung der Frage der Unionsrechtskonformität von Bestimmungen des GSpG fehlen aber zur Gänze. Die genannten Ausführungen werden daher den Anforderungen, die an eine Gesamtwürdigung gestellt werden, nicht gerecht.
13 Das Verwaltungsgericht ist somit durch das Unterlassen einer solchen Gesamtwürdigung seiner Pflicht, die anzuwendenden Bestimmungen des GSpG hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit Unionsrecht von Amts wegen zu beurteilen, nicht in gesetzmäßiger Weise nachgekommen und hat das angefochtene Erkenntnis schon aus diesen Gründen mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet (vgl. VwGH 23.8.2016, Ra 2015/17/0079). Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Es erübrigt sich daher, auf das weitere Vorbringen des Zweitrevisionswerbers einzugehen.
14 Darüber hinaus ist im Hinblick auf das Vorbringen in der Amtsrevision zur verhängten Gesamtstrafe auf Folgendes hinzuweisen: Sollte die im fortzusetzenden Verfahren durchzuführende Gesamtwürdigung die Unionsrechtskonformität des GSpG ergeben, wird das Verwaltungsgericht auch zu beachten haben, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die in der Folge des Urteils des EuGH vom 14. Oktober 2021, MT, C-231/20, ergangen ist, die Verhängung kumulierter Geld- und Ersatzfreiheitsstrafen bei Übertretungen des § 52 Abs. 1 Z 1 GSpG gemäß § 52 Abs. 2 vierter Strafsatz GSpG iVm dem VStG grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Diese Kumulierung ermöglicht in Verbindung mit dem VStG eine sämtliche Umstände des Einzelfalles berücksichtigende Ausmessung der für den Einsatz des jeweiligen Eingriffsgegenstandes für geboten erachteten Strafe. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Gewinns der zu ahndenden Taten, der sich in der Regel nach der Anzahl der verwendeten Glücksspielgeräte richtet, sowie der gebotenen General- und Spezialprävention erweist sich auch die Kumulierung von gemäß § 52 Abs. 2 vierter Strafsatz GSpG verhängten Strafen grundsätzlich nicht als unverhältnismäßig, zumal es sich bei der Anwendung des vierten Strafsatzes um Wiederholungsfälle handelt, von denen eine besonders hohe Sozialschädlichkeit ausgeht. Es ist jedoch bei der Strafbemessung in jedem Einzelfall zu beachten, dass die Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu dem (durch die geahndeten Taten erzielbaren) wirtschaftlichen Vorteil des Täters steht (vgl. etwa VwGH 4.5.2022, Ra 2020/17/0040, mwN).
15 Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargelegten Gründen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 31. August 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 62020CJ0231 M.T. VORABSchlagworte
Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020170006.L00Im RIS seit
20.10.2022Zuletzt aktualisiert am
20.10.2022