TE OGH 2022/9/29 12Os88/22s

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Veröffentlicht am 29.09.2022
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. September 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, den HHHofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Turner in der Übergabesache des * T*, AZ 29 HSt 29/21h der Staatsanwaltschaft Korneuburg, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. März 2022, AZ 22 Bs 16/22x (ON 82 des HSt-Aktes), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wehofer zu Recht erkannt:

Spruch

         Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. März 2022, AZ 22 Bs 16/22x, mit welchem der Beschluss des Landesgerichts Korneuburg vom 29. Dezember 2021, AZ 405 HR 169/21y, ersatzlos aufgehoben wurde, verletzt das Gesetz in der sich aus § 21 EU-JZG ergebenden Pflicht zur Entscheidung über jeden einer vollstreckenden Justizbehörde übermittelten Europäischen Haftbefehl.

Text

Gründe:

[1]       Im Übergabeverfahren AZ 29 HSt 27/19m der Staatsanwaltschaft Korneuburg bewilligte das Landesgericht Korneuburg mit Beschluss vom 17. Februar 2020, AZ 405 HR 3/20k, die Übergabe des slowakischen Staatsangehörigen * T* zur Strafverfolgung an die Slowakische Republik aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Sonderstrafgerichts Pezinok vom 30. Dezember 2019 zu AZ 2Tp/39/2019 wegen der dort genannten Taten unter Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes und schob die Übergabe gemäß § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG bis zur Beendigung der Untersuchungshaft und einer allfälligen Strafhaft zu AZ 612 Hv 1/20h des Landesgerichts Korneuburg auf (ON 17 und 20 in AZ 29 Hst 29/21h der Staatsanwaltschaft Korneuburg; soweit nichts anderes angegeben, beziehen sich alle weiteren angeführten ON auf den Akt AZ 29 HSt 29/21h der Staatsanwaltschaft Korneuburg).

[2]          Einer gegen diesen Beschluss von * T* erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 16. Juni 2020, AZ 22 Bs 73/20a, nicht Folge (ON 28).

[3]          Die Übergabe des * T* ist nach wie vor aufgeschoben.

[4]          Im Übergabeverfahren AZ 29 HSt 17/20t der Staatsanwaltschaft Korneuburg bewilligte das Landesgericht Korneuburg mit Beschluss vom 2. November 2020, AZ 405 HR 87/20p, die Übergabe des * T* zur Strafverfolgung an die Slowakische Republik aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Sonderstrafgerichts Pezinok vom 22. Juni 2020 zu AZ 2Tp/39/2019 wegen der dort genannten (weiteren) Taten unter Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes und schob die Übergabe gemäß § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG bis zur Beendigung der zu AZ 612 Hv 1/20h des Landesgerichts Korneuburg verhängten Strafhaft auf (ON 19 in AZ 29 HSt 17/20t).

[5]          Auch einer gegen diesen Beschluss von * T* erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 26. Jänner 2021, AZ 22 Bs 307/20p, nicht Folge (ON 28 in AZ 29 HSt 17/20t).

[6]          Mit Schreiben vom 1. Oktober 2021 berichtete das Bundeskriminalamt, dass der Europäische Haftbefehl des Sonderstrafgerichts Pezinok vom 30. Dezember 2019 zu AZ 2Tp/39/2019 widerrufen worden, hingegen der „EuHB vom 24. August 2021 mit der Zahl 8T/10/2021 nach wie vor im SIS II gültig“ sei (ON 52). Aus Anlass dessen ersuchte das Landesgericht Korneuburg mit Note vom 18. Oktober 2021 zu AZ 405 HR 3/20k und AZ 405 HR 87/20p die slowakischen Behörden um Mitteilung, welche Europäischen Haftbefehle betreffend * T* aufrecht seien und aufgrund welchen Haftbefehls dessen Übergabe begehrt werde (ON 54).

[7]          Am 21. Oktober 2021 leitete die Staatsanwaltschaft Korneuburg zu AZ 29 HSt 27/19m ein (Nachtrags-)Übergabeverfahren „gemäß § 27a EU-JZG“ zwecks Übergabe des * T* zur Strafverfolgung wegen der im Europäischen Haftbefehl vom 24. August 2021, AZ 8T/10/2021 des Sonderstrafgerichts Pezinok, angeführten Straftaten ein und beantragte beim Landesgericht Korneuburg „die Bewilligung der nachträglichen Übergabe“ des * T* sowie deren Aufschub gemäß § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG (ON 1 S 19 f).

[8]          Mit Amtsvermerk vom 28. Oktober 2021 hielt die Richterin des Landesgerichts Korneuburg im Verfahren AZ 29 HSt 27/19m (zutreffend) fest, dass der Europäische Haftbefehl vom 24. August 2021 zu AZ 8T/10/2021 eine Zusammenfassung der beiden – bereits rechtskräftig bewilligten – Europäischen Haftbefehle vom 30. Dezember 2019 und vom 22. Juni 2020 zu AZ 2Tp/39/2019 des Sonderstrafgerichts Pezinok darstellen würde, von denen ersterer widerrufen worden sei (ON 1 S 20).

[9]          Mit Note vom 7. Dezember 2021 (ON 58, ON 60) teilten die slowakischen Behörden mit, dass der vom Senatsvorsitzenden des Sonderstrafgerichts Pezinok erlassene Europäische Haftbefehl vom 24. August 2021, AZ 8T/10/2021, die beiden vorangehenden (zu AZ 2Tp/39/2019 vom Ermittlungsrichter erlassenen) ersetzt, weil in der Zwischenzeit Anklage eingebracht wurde. Die vorangehenden Europäischen Haftbefehle haben dadurch (ex lege) „gemäß § 6 Abs 1 des slowakischen Gesetzes Nr 154/2010 d. Slg. über den Europäischen Haftbefehl ihre Gültigkeit“ verloren.

[10]     Daraufhin verfügte die Staatsanwaltschaft Korneuburg am 17. Dezember 2021 (formlos) die „Einstellung“ der zu AZ 29 HSt 27/19m und AZ 29 HSt 17/20t geführten Übergabeverfahren sowie – nunmehr zu AZ 29 HSt 29/21h – die Einleitung eines Übergabeverfahrens gemäß §§ 16 ff EU-JZG zwecks Übergabe des * T* und beantragte (neuerlich) beim Landesgericht Korneuburg die Entscheidung über die Übergabe des Genannten gemäß § 20 EU-JZG sowie deren Aufschub (ON 1 S 23 ff).

[11]       Mit Beschluss vom 29. Dezember 2021 bewilligte das Landesgericht Korneuburg, AZ 405 HR 169/21y, die Übergabe zur Strafverfolgung an die Slowakische Republik aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Sonderstrafgerichts Pezinok vom 24. August 2021, AZ 8T/10/2021, unter Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes und schob die Übergabe bis zur Beendigung der vom Landesgericht Korneuburg zu AZ 612 Hv 1/20h verhängten Strafhaft auf (ON 65).

[12]       Einer dagegen erhobenen Beschwerde des * T* gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 22. März 2022 zu AZ 22 Bs 16/22x Folge und behob den angefochtenen Beschluss ersatzlos. Begründend führte es aus, dass die zugrundeliegenden Sachverhalte bereits Gegenstand rechtskräftig bewilligter Übergaben seien. Der Widerruf der zugrunde liegenden Europäischen Haftbefehle ändere daran nichts. Aus dem 16. Hauptstück der StPO ergäbe sich das Verbot, während aufrechten Bestehens einer Entscheidung über deren Gegenstand neuerlich abzusprechen. Die Übergabe könne auf Basis der bereits rechtskräftig bewilligten Europäischen Haftbefehle effektuiert werden (ON 82).

Rechtliche Beurteilung

[13]     Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. März 2022, AZ 22 Bs 16/22x, mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[14]       Das zuständige österreichische Gericht prüft im Zuge des Übergabeverfahrens nach dem EU-JZG die Zulässigkeit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.

[15]       Diese Prüfung umfasst einerseits die – grundsätzlich ausgehend von den zugrunde liegenden Taten laut Haftbefehl zu beurteilenden – Übergabevoraussetzungen des § 4 EU-JZG, sowie andererseits das Vorliegen etwaiger Ablehnungstatbestände. Dazu zählen die Vollstreckungsverweigerungsgründe nach §§ 5 ff EU-JZG sowie der in § 19 Abs 4 EU-JZG normierte Grundrechts- und Diskriminierungsschutzvorbehalt, aber auch der Ablehnungsgrund des Fehlens eines nationalen Haftbefehls und jener des Vorliegens eines Haftbefehls einer Behörde, die nicht als „Justizbehörde“ iSd Art 6 Abs 1 des RB-EHB anzusehen ist (vgl Schallmoser in WK2 EU-JZG § 19 Rz 1 und 28/1 ff; EuGH 27. 5. 2019, C-508/18, ECLI:EU:C:2019:456).

[16]                    Wie der EuGH bereits ausgesprochen hat, ist Art 1 Abs 2 des RB-EHB dahin auszulegen, dass die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaates zum Erlass einer Entscheidung über jeden ihr übermittelten Europäischen Haftbefehl verpflichtet ist; dies gilt selbst dann, wenn das Gericht bereits über einen früheren Europäischen Haftbefehl gegen dieselbe Person und wegen derselben Tat entschieden hat und der zweite Europäische Haftbefehl zB lediglich aufgrund der mittlerweile erfolgten Anklageerhebung gegen die betroffene Person im Ausstellungsstaat erlassen wurde (EuGH 25. 7. 2018, C-268/1, ECLI:EU:C:2018:602; Hinterhofer in WK2 EU-JZG § 21 Rz 3/1).

[17]     Bei europarechtskonformer Interpretation verpflichtet demgemäß auch § 21 EU-JZG die Gerichte, unabhängig vom Bestehen bereits rechtskräftig bewilligter Übergaben über einen neuerlichen, die selbe Sache betreffenden Europäischen Haftbefehl abermals zu entscheiden.

[18]           Indem das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 22. März 2022, AZ 22 Bs 16/22x, die erstinstanzliche Entscheidung über den Europäischen Haftbefehl des Sonderstrafgerichts Pezinok vom 24. August 2021 zu AZ 8T/10/2021 ersatzlos beseitigte, hat es das Gesetz wie im Spruch ersichtlich verletzt, was – mangels eines Nachteils für den Betroffenen – festzustellen war (§ 292 vorletzter Satz StPO).

Textnummer

E136290

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0120OS00088.22S.0929.000

Im RIS seit

20.10.2022

Zuletzt aktualisiert am

20.10.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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