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16/01 Medien, PresseförderungNorm
B-VG Art139 Abs1 Z1Leitsatz
Gesetzwidrigkeit einer Verordnungsbestimmung eines Steiermärkischen Bezirkshauptmannschaft betreffend das Anschlagen und Aushängen von Druckwerken an öffentlichen Orten mangels Angabe der für das "freie" Anschlagen zur Verfügung stehenden Flächen; Verstoß der weitreichenden Einschränkung der Plakatierfreiheit ohne Durchführung einer nachvollziehbaren Interessenabwägung gegen die MeinungsäußerungsfreiheitSpruch
I. §1 Abs1 und 2 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlands-berg vom 17. April 1999 betreffend das Anschlagen und Aushängen von Druckwerken an öffentlichen Orten, ZS.268/1999, kundgemacht in der Grazer Zeitung, Amtsblatt für die Steiermark, Stück 15/1999, wird als gesetzwidrig aufgehoben.
II. Der Bundesminister für Inneres ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Steiermark, "§1 Abs1 und Abs2 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg vom 17. April 1999, GZ: S.268/1999 (kundgemacht in der Grazer Zeitung, Stück 15, ausgegeben am 16. April 1999)" als gesetzwidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg betreffend das Anschlagen und Aushängen von Druckwerken an öffentlichen Orten vom 17. April 1999 (Plakatierverordnung), ZS.268/1999, lautet (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):
"Gemäß §48 Mediengesetz, BGBl Nr 314/1981, i. d. F. BGBl Nr 105/1997, wird für den Verwaltungsbezirk Deutschlandsberg folgendes angeordnet:
§1
(1) Zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung darf im Ortsgebiet, das ist jenes verbaute Gebiet, in dem die örtliche Zusammengehörigkeit mehrerer Bauwerke leicht erkennbar ist, das Plakatieren von Druckwerken (das Anschlagen und Aufhängen) an den der Öffentlichkeit zugänglichen Orten nur auf Flächen erfolgen, die ihrer Art nach offensichtlich zum Anschlagen von Druckwerken bestimmt sind, sofern diese Flächen entweder ortsfest oder zumindest so ausgeführt sind, daß ein dauerhafter wetterfester Anschlag von Druckwerken gewährleistet ist (zum Beispiel Plakatwände, Litfaßsäulen oder Schaukästen).
(2) Das Plakatieren von Druckwerken darf insbesondere nicht unmittelbar an Außenflächen von Gebäuden oder von Einfriedungen, an Brückenpfeilern, an Bäumen, an Denkmälern oder an Sachen, die der religiösen Verehrung gewidmet sind, erfolgen. Es ist weiters insbesondere unzulässig, unmittelbar an Einrichtungen oder Anlagen, die der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Versorgung mit Wasser oder Energie, dem öffentlichen Verkehr oder dem Post- und Fernmeldewesen dienen (dazu zählen insbesondere Laternen- und Abspannungsmasten, Schaltkästen, Notrufanlagen und Telefonzellen und Haltestellenhäuschen), Druckwerke anzuschlagen.
(3) Das Anschlagen amtlicher Bekanntmachungen an Amtsgebäuden wird durch die vorstehenden Absätze nicht berührt.
§2
Die in anderen Gesetzen (beispielsweise Steiermärkisches Naturschutzgesetz, Steiermärkisches Baugesetz, Straßenverkehrsordnung) enthaltenen Bestimmungen betreffend Plakatieren bleiben unberührt.
§3
Wer den Bestimmungen dieser Verordnung zuwiderhandelt, begeht, ungeachtet sonstiger Rechtsvorschriften und ungeachtet privatrechtlicher Verantwortlichkeit, eine Verwaltungsübertretung und wird hiefür gemäß §49 Mediengesetz von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe bestraft.
§4
Diese Verordnung tritt mit dem ihrer Kundmachung folgenden Tag in Kraft.
§5
Mit dem Inkrafttreten dieser Verordnung tritt die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg vom 31. Oktober 1983, 'Grazer Zeitung Amtsblatt für die Steiermark', Stück 46/1983, Seite 573, außer Kraft."
III. Antragsvorbringen und Vorverfahren
1. Dem Gerichtsantrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1.1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg vom 2. Februar 2021 wurde der im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark beschwerdeführenden Partei (in der Folge: Einschreiterin) zur Last gelegt, sie habe es zu verantworten, dass "in 8551 Wies, Marktplatz 6, über dem Eingang der Kegelbahn auf dem Balkongeländer im 1. Obergeschoss auf dem Grundstück Nr .61, KG Wies, ein Werbeplakat mit der Ankündigung 'EU-Beauftragte GR […] — für deine Anliegen — parteiunabhängig' angebracht wurde, obwohl das Plakatieren von Druckwerken (das Anschlagen und Aufhängen) insbesondere nicht unmittelbar an Außenflächen von Gebäuden oder Einfriedungen, an Brückenpfeilern, an Bäumen, an Denkmälern oder an Sachen, die der religiösen Verehrung gewidmet sind, erfolgen darf. Die vorschriftswidrige Plakatierung des beschriebenen Druckwerkes ist am 27.01.2020 um 08.00 Uhr von einem Mitarbeiter der Marktgemeinde Wies festgestellt worden". Dadurch sei §1 Abs2 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg vom 17. April 1999 verletzt worden, weshalb eine Geldstrafe in Höhe von € 100,00 (15 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe) gemäß "§3 zitierter Verordnung iVm §49 Mediengesetz (MedienG), BGBI. Nr 314/1981 idgF)" verhängt wurde.
1.2. Die Einschreiterin erhob gegen dieses Straferkenntnis am 4. März 2021 Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Steiermark.
2. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar (ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):
"[…] Art10 Abs1 EMRK beinhaltet die Kommunikationsfreiheit als Grundrecht. Die Kommunikationsfreiheit dient auf der einen Seite dem Schutz des Äußernden (Meinungsäußerungsfreiheit) sowie des Äußerungsempfängers (Informationsfreiheit) und sind Einschränkungen (Art10 Abs2 EMRK) äußerst restriktiv auszulegen. Nach der Rsp des EGMR können behördliche Eingriffe in das Recht der freien Meinungsäußerung nur dann gerechtfertigt werden, wenn die Verletzungen nicht unter ein der Ausnahmen des Art10 Abs2 EMRK fällt. Zu prüfen ist daher, ob ein Eingriff gesetzlich vorgesehen war, ob ein nach Art10 Abs2 EMRK rechtmäßiges Ziel verfolgt wird und ob Eingriffe zur Erreichung dieses Zieles 'in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' waren (EGMR 26.4.1979, Fall Sunday Times, Appl 6538/74, EGMR-E1, Rz 45, 366). Hierbei wird den Vertragsstaaten der EMRK ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, welcher jedoch keineswegs unbegrenzt ist. So hält der EGMR fest, dass der nationale Beurteilungsspielraum von einer europäischen Kontrolle begleitet ist (EGMR, 7.12.1976, Fall Handyside, Appl 5493/72, EGMR-E1, Rz 49, 223). Die Voraussetzung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft nach Art10 Abs2 EMRK deutet auf das Vorliegen eines zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnisses hin. Entscheidend ist, ob der beanstandete Eingriff 'in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten rechtmäßigen Ziel' stand und ob die Begründung, welche von der innerstaatlichen Behörde zur Rechtfertigung des Eingriffes angeführt wurde 'nach Art10 Abs2 [EMRK] erheblich und ausreichend war (EGMR, 7.12.1976, Fall Handyside, Appl 5493/72, EGMR-E1, Rz 48-50, 223f). Zu dem Kommunikationsfreiheitsrecht gehört auch das ungestörte Verbreiten von Druckwerken durch Aushängen oder Anschlagen (EGMR 25.08.1993, Fall Chorherr, Appl 13.308/87). Wie der Verfassungsgerichtshof judiziert sind Eingriffe in das Kommunikationsrecht nur zulässig, wenn überwiegen andere öffentliche Interessen dem Interesse an der Ausübung des Grundrechtes entgegenstehen (VfSlg 8019/1977, 13.127/1992).
In dem Erkenntnis vom 26. September 2019, GZ: V20/2019, führt der Verfassungsgerichtshof bei einem ähnlichen Fall Nachfolgendes aus:
'2.3. Im Einzelnen hat der Verfassungsgerichtshof hiezu ausgesprochen, dass das Anschlagen von Druckwerken im Verordnungsweg dort nicht beschränkt werden darf, wo keine überwiegenden öffentlichen Interessen entgegenstehen (VfSlg 8019/1977, 13.127/1992). §48 MedienG enthält eine Verordnungsermächtigung in diesem Sinne. Der Verfassungsgerichtshof hat zu dieser — verfassungsrechtlich unbedenklichen (VfSlg 10.886/1986, 13.127/1992) — Verordnungsermächtigung festgehalten, dass das Anschlagen von Druckwerken auf ihrer Grundlage im Verordnungsweg nur insoweit auf bestimmte Orte beschränkt werden kann, als dies zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erforderlich ist (VfSlg 13.127/1992).
2.4. Eine auf §48 MedienG gestützte Verordnung ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zudem nur dann und insoweit gesetzmäßig, als die verordnungserlassende Behörde nachvollziehbare Erwägungen zu dieser Frage angestellt hat (VfSlg 10.886/1986, 13.127/1992, 16.330/2001, 17.943/2006; vgl zu §11 PresseG, BGBI 218/1922, der Vorgängerbestimmung des §48 MedienG, VfSlg 8019/1977, 9591/1982). Der Verordnungsgeber hat eine umfassende Prüfung vorzunehmen, ob die Voraussetzungen für die Erlassung des Verbotes des Plakatierens auf allen von der Regelung betroffenen Flächen gegeben sind (VfSlg 13.127/1992). Hiebei ist insbesondere bei Auslegung und Anwendung der Voraussetzung der Erforderlichkeit des Verbotes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eine Abwägung zwischen der Freiheit des Einzelnen zum Verbreiten von Druckwerken durch Aushängen oder Anschlagen und den entgegenstehenden öffentlichen Interessen vorzunehmen.
2.5. Der Verfassungsgerichtshof geht außerdem davon aus, dass für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Verordnung nicht nur die zum Zeitpunkt ihrer Erlassung gegebenen Umstände maßgeblich sind, sondern (auch) auf die — möglicherweise geänderten — tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Prüfung abzustellen ist (VfSlg 9588/1982, 16.366/2001, 19.805/2013; vgl hiezu auch VfSlg 13.127/1992). Bei wesentlichen Änderungen in den für die Verordnungserlassung ausschlaggebenden tatsächlichen Verhältnissen wird eine Verordnung rechtswidrig. Deshalb obliegt es dem Verordnungsgeber, sich in angemessenen Zeitabständen vom Weiterbestehen der tatsächlichen Verordnungsgrundlagen zu überzeugen, um die Verordnung allenfalls den Änderungen anzupassen (vgl VfSlg 14.601/1996, 19.805/2013). Eine Verzögerung der Anpassung ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur solange tolerierbar, bis der Verordnungsgeber von der Änderung des Sachverhaltes Kenntnis erlangt oder erlangen muss und es ihm sodann zumutbar ist, die Anpassung der Norm vorzunehmen (VfSlg 14.601/1996).'
Nach Einsicht in den Verordnungsakt der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg, stellt das Verwaltungsgericht fest, dass seit dem Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung keine Prüfung von Seiten des Verordnungsgebers über die Einschränkung der grundsätzlich gewährleisteten Plakatierfreiheit wegen Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durchgeführt wurde. Welche Anzahl von Flächen für das Anschlagen von Druckwerken in der Gemeinde Wies bzw in jeder anderen Gemeinde des Verwaltungsbezirkes zur Verfügung stehen, ist dem Verordnungsakt nicht zu entnehmen. Auf die Anfrage des Landesverwaltungsgerichtes an die Marktgemeinde Wies, wie viele Anschlagflächen in der Gemeinde vorhanden sind, wurde mit Schreiben vom 06. April 2021 auf ein Schreiben der Marktgemeinde Wies vom 17. September 2020 verwiesen, wonach es in der Gemeinde sechs Standorte gibt, an denen Plakatständer aufgestellt werden können. Ob es Anschlagflächen für das Anschlagen und Aufhängen von Druckwerken in einer anderen Art als wie durch Plakatständer gibt, bleibt damit ungeklärt.
Die Plakatierverordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg stellt eine sehr weitreichende Einschränkung der Plakatierfreiheit dar und es ist nicht nachvollziehbar, warum die 'Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung' es notwendig macht, dass die Plakatierfreiheit (§48 MedienG) derartigen Einschränkungen unterworfen ist. Wie der Verfassungsgerichtshof im obigen zitierten Erkenntnis bereits ausgeführt hat, vermag der 'Ortsbildschutz' nicht Eingriffe jedweder Intensität in die Plakatierfreiheit zu rechtfertigen. Ein derart weitgehendes Verbot ist der Bedeutung des verfolgten Zieles nicht mehr adäquat unverhältnismäßig (vgl hiezu VfSlg 18.652/2008, 19.159/2010). Darüber hinaus hält der VfGH in seiner Entscheidung vom 26. September 2019, GZ: V20/2019, fest, dass es dem Verordnungsgeber obliegt, sich in angemessenen Zeitabständen vom Weiterbestehen der tatsächlichen Verordnungsgrundlagen zu überzeugen, um die Verordnung allenfalls wesentlichen Änderungen in den für die Verordnungserlassung ausschlaggebenden Verhältnissen anzupassen.
Das dem Verwaltungsgericht jedenfalls vorgelegte Verordnungsaktenkonvolut lässt erkennen, dass sich der Verordnungsgeber nicht regelmäßig von bestehenden tatsächlichen Grundlagen der Verordnung überzeugt bzw, ob die erforderliche Interessensabwägung in jeder Gemeinde des Bezirkes durchgeführt wurde.
Das Verwaltungsgericht ist jedoch an die ordnungsgemäß kundgemachte Plakatierverordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg gebunden und beantragt daher die Aufhebung des §1 Abs1 und 2 der Verordnung, da diese die Plakatierfreiheit 'zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung' iSd §48 MedienG unverhältnismäßig einschränkt."
3. Die verordnungserlassende Behörde hat die Verordnungsakten übermittelt und eine Äußerung erstattet, in der den im Antrag dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird (ohne die Hervorhebungen im Original):
"[…] Verfassungswidrigkeit der Verordnung:
Die Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg stellt ihrerseits den Antrag, dem Antrag des Landesverwaltungsgerichts Steiermark auf Aufhebung der dem Verwaltungsstrafverfahren zugrundeliegenden Verordnung wegen Gesetzwidrigkeit nicht stattzugeben.
Begründet wird dies damit, dass die Plakatierverordnung für den Bezirk Deutschlandsberg in ihrer Formulierung auch derzeit noch innerhalb des rechtlichen Rahmens des §48 MedienG einzuordnen ist. Dies wird damit begründet, dass in anderen Beschwerdeverfahren betreffend die Plakatierverordnung, die Straferkenntnisse der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg bestätigt wurden.
Auch haben in den vergangenen Jahren informelle Beurteilungen stattgefunden, die zum Ergebnis kamen, dass der Verordnungstext gleichbleiben kann.
Zum zitierten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes betreffend den 'Ortsbildschutz' ist anzumerken, dass der Ortsbildschutz weder Gegenstand noch Ziel der Deutschlandsberger Plakatierverordnung ist."
4. Der Bundesminister für Inneres hat keine Äußerung erstattet.
5. Die Einschreiterin hat eine Äußerung erstattet, in der sie sich den Bedenken des antragstellenden Gerichtes anschließt.
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
1.2. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Gesetzmäßigkeit zu prüfenden Verordnungsbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Normenprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Teil der Bestimmung nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Stelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
1.2.1. Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Normenprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011; VfGH 14.3.2017, G311/2016). Das antragstellende Gericht hat all jene Normen anzufechten, die für das anfechtende Gericht präjudiziell sind und vor dem Hintergrund der Bedenken für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des antragstellenden Gerichtes teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014).
Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Verordnungsstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre (VfSlg 16.279/2001, 19.413/2011; VfGH 19.6.2015, G211/2014; 7.10.2015, G444/2015; VfSlg 20.082/2016), der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Gesetzwidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl zB VfSlg 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Verordnung dieser ein völlig veränderter, dem Verordnungsgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (VfSlg 18.839/2009, 19.841/2014, 19.972/2015, 20.102/2016).
Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit in Prüfung zu ziehender Vorschriften ergibt sich ferner, dass ein Prozesshindernis auch dann vorliegt, wenn es auf Grund der Bindung an den gestellten Antrag zu einer in der Weise isolierten Aufhebung einer Bestimmung käme, dass Schwierigkeiten bezüglich der Anwendbarkeit der im Rechtsbestand verbleibenden Vorschriften entstünden, und zwar in der Weise, dass der Wegfall der angefochtenen (Teile einer) Verordnungsbestimmung den verbleibenden Rest unverständlich oder auch unanwendbar werden ließe. Letzteres liegt dann vor, wenn nicht mehr mit Bestimmtheit beurteilt werden könnte, ob ein der verbliebenen Vorschrift zu unterstellender Fall vorliegt (VfSlg 16.869/2003 mwN).
1.3. Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was am Vorliegen dieser Voraussetzungen zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).
2.2. Der Antrag ist begründet:
2.3. Nach Art13 Abs1 StGG hat jedermann das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist zwar nur innerhalb der gesetzlichen Schranken gewährleistet, doch darf auch ein solches Gesetz keinen Inhalt haben, der den Wesensgehalt des Grundrechtes einschränkt (vgl VfSlg 6166/1970, 10.700/1985). Eine nähere Bestimmung dieses Wesensgehaltes findet sich in Art10 EMRK (vgl VfGH 27.2.2012, B1103/11).
2.4. Nach Art10 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung, die das Recht der Freiheit der Meinung und der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt, werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen, aber auch Werbemaßnahmen erfasst. Art10 Abs2 EMRK sieht allerdings im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sind.
2.5. Ein verfassungsrechtlich zulässiger Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung muss sohin, wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgesprochen hat (s zB EGMR 26.4.1979, Fall Sunday Times, EuGRZ1979, 390; 25.3.1985, Fall Barthold, EuGRZ1985, 173), gesetzlich vorgesehen sein, einen oder mehrere der in Art10 Abs2 EMRK genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen und zur Erreichung dieses Zweckes oder dieser Zwecke "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein (vgl VfSlg 12.886/1991, 14.218/1995, 14.899/1997, 16.267/2001 und 16.555/2002).
2.6. Das ungestörte Verbreiten von Druckwerken durch Aushängen oder Anschlagen ist vom Schutzbereich des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf freie Meinungsäußerung gemäß Art13 StGG und Art10 EMRK umfasst (vgl EGMR 25.8.1993, Fall Chorherr, Appl 13.308/87, ÖJZ1994, 173 [Flugblätter]; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7, 2021, §23 Rz 10). Diesbezügliche Verbote greifen somit in das Grundrecht ein und sind nur zulässig, wenn keine überwiegenden öffentlichen Interessen entgegenstehen (vgl VfSlg 8019/1977, 13.127/1992). §48 MedienG ist in diesem Sinne verfassungskonform auszulegen (vgl dazu etwa Wiederin, Nationalsozialistische Wiederbetätigung, Wahlrecht und Grenzen verfassungskonformer Interpretation, EuGRZ1987, 137).
2.7. Eine auf §48 MedienG gestützte Verordnung ist nur dann und nur insoweit gesetzmäßig, als die verordnungserlassende Behörde nachvollziehbare Erwägungen zu dieser Frage angestellt hat (VfSlg 10.886/1986, 13.127/1992, 16.330/2001, 17.943/2006). Der Verordnungsgeber hat somit eine umfassende Prüfung vorzunehmen, ob die Voraussetzungen für die Erlassung des Verbotes des Plakatierens auf allen von der Regelung betroffenen Flächen gegeben sind (VfSlg 13.127/1992).
2.8. Diesen Anforderungen wurde im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
2.8.1. Der Verfassungsgerichtshof bezweifelt nicht, dass die durch die angefochtene Verordnung erfolgte Beschränkung der Plakatierfreiheit dem Schutz eines legitimen Zieles dient: Nach seiner ständigen Rechtsprechung (s insbesondere VfSlg 17.943/2006, 18.378/2008, 19.676/2012) sind Interessen des Ortsbild-, Natur- und Umweltschutzes taugliche öffentliche Interessen, die Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit im Sinne des Art10 Abs2 EMRK rechtfertigen können.
2.8.2. Die angefochtenen Regelungen der Verordnung führen nach dem im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht widerlegten Vorbringen des antragstellenden Gerichtes – wonach den Verordnungsakten nicht zu entnehmen sei, wie viele Flächen für das "freie" Anschlagen von Druckwerken zur Verfügung stünden – zu einem weitreichenden Plakatierungsverbot. Zwar existieren laut dem im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht übermittelten Schreiben der Gemeinde Wies sechs Standorte für die Aufstellung von Plakatständern; nähere Angaben dazu und eine Darlegung der der Verordnungserlassung vorangegangenen Abwägungen zu den tatsächlich zur Verfügung stehenden Flächen durch die verordnungserlassende Behörde erfolgten aber im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht.
2.8.3. Damit überschreiten die in Prüfung gezogenen Bestimmungen der Verordnung die gesetzliche Grundlage des §48 MedienG, denn eine derart weitreichende Einschränkung der grundrechtlich gewährleisteten Plakatierfreiheit ist ohne nachvollziehbare Abwägung einerseits des Interesses des Einzelnen auf freie Äußerung und andererseits der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie der Verfolgung umweltschutzrechtlicher und abfallwirtschaftlicher Ziele – die den Verordnungsunterlagen zum Teil zu entnehmen sind – nicht adäquat und sohin unverhältnismäßig (vgl hiezu VfSlg 18.652/2008, 19.159/2010).
V. Ergebnis
1. §1 Abs1 und 2 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg vom 17. April 1999 betreffend das Anschlagen und Aushängen von Druckwerken an öffentlichen Orten, ZS.268/1999, kundgemacht in der Grazer Zeitung Amtsblatt für die Steiermark, Stück 15/1999, ist wegen Verstoßes gegen §48 MedienG als gesetzwidrig aufzuheben.
2. Die Verpflichtung des Bundesministers für Inneres zur unverzüglichen Kundmachung des Ausspruches erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §59 Abs2 VfGG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Der beteiligten Partei sind die für ihre Äußerung begehrten Kosten nicht zuzusprechen, da es im Falle eines auf Antrag eines Gerichtes eingeleiteten Normenprüfungsverfahrens Sache des antragstellenden Gerichtes ist, über allfällige Kostenersatzansprüche nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften zu erkennen (zB VfSlg 19.019/2010 mwN).
Schlagworte
Medienrecht, Auslegung verfassungskonforme, Meinungsäußerungsfreiheit, Plakatierungsverordnung, Verordnungserlassung, Verbreitungsbeschränkung, Ortsbildschutz, Naturschutz, Umweltschutz, VfGH / Gerichtsantrag, WerbungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:V183.2021Zuletzt aktualisiert am
14.10.2022