TE Vwgh Erkenntnis 2022/9/15 Ra 2022/21/0068

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Veröffentlicht am 15.09.2022
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des N M, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Februar 2022, W220 2247836-1/2E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der im Mai 1990 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, hält sich seit dem Jahr 1993 in Österreich auf. Zuletzt wurde ihm am 14. Februar 2020 der bis 14. Februar 2023 befristete Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ erteilt.

2        Der Revisionswerber ist an den Gebrauch von Suchtmitteln gewöhnt und wurde in Österreich beginnend mit dem Urteil des Bezirksgerichtes Wels vom 16. Dezember 2009, mit dem wegen Diebstahls eine Geldstrafe erging, wiederholt, vor allem wegen Suchtmittel- und Vermögensdelikten, zu - zunächst bedingt und teilbedingt nachgesehenen, in der Folge unbedingten - Freiheitsstrafen rechtskräftig verurteilt.

3        Zuletzt erging mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 5. März 2021 wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB (durch Versetzen von Stößen und zwei Fußtritten gegen sein Opfer, die insbesondere Frakturen zur Folge hatten), des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB (durch Würgen und Versetzen von Schlägen, die Prellungen und Hämatome herbeiführten), des Verbrechens der versuchten schweren Nötigung nach den §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 und § 106 Abs. 1 Z 1 StGB (durch Drohung mit dem Tod, um den Widerruf der Anzeige des erstgenannten Vorfalls zu bewirken), des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB (mit einer Brandstiftung) und des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 3 Waffengesetz (Besitz eines Pfeffersprays trotz aufrechten Waffenverbots) eine - aktuell in Vollzug befindliche - Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.

4        Mit Bescheid vom 28. September 2021 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber im Hinblick auf seine Straffälligkeit gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei. Gemäß § 55 FPG bestimmte es eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise des Revisionswerbers.

5        Mit dem angefochtenen - ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung ergangenen - Erkenntnis vom 11. Februar 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die vom Revisionswerber gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

7        Die Revision erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG - wie in der Revision im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird - von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es keine ausreichenden Feststellungen zu den Straftaten des Revisionswerbers getroffen, seine Aufenthaltsverfestigung nicht genügend berücksichtigt und von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

8        Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der insbesondere für die Erlassung eines Einreiseverbotes erforderlichen Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände diese Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 18.8.2022, Ra 2022/21/0044, Rn. 8).

9        Soweit das BVwG in diesem Zusammenhang vom Vorliegen von dreizehn strafgerichtlichen Verurteilungen ausgeht, lässt es zunächst schon außer Acht, dass in zwei Fällen nur Zusatzstrafen verhängt und einmal von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen worden war. Insgesamt wäre daher von zehn Verurteilungen auszugehen gewesen (vgl. in diesem Sinn etwa VwGH 21.12.2021, Ra 2020/21/0343, Rn. 20, mwN).

10       Insbesondere hat das BVwG aber dem dargestellten Erfordernis einer Berücksichtigung des Gesamtverhaltens des Fremden nicht ausreichend Rechnung getragen. Es hat nämlich neben der bloßen Wiedergabe des Inhalts der Strafregisterauskunft konkretere Feststellungen nur zu den der letzten strafgerichtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Straftaten getroffen. Damit fehlt aber bei den vorangehenden Verurteilungen, bei denen nicht einmal die Tatzeitpunkte angeführt wurden und auch keine allgemeine Umschreibung der Delikte vorgenommen wurde, die gebotene Auseinandersetzung mit den einzelnen Tathandlungen und den Begleitumständen der Straftaten.

11       Dieser Feststellungsmangel ist auch deshalb relevant, weil, wie die Revision durch den Hinweis auf den Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet seit seinem dritten Lebensjahr im Ergebnis zutreffend aufzeigt, das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG darauf hätte Bedacht nehmen müssen, dass der Revisionswerber auf Basis der bisher getroffenen Feststellungen von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sein dürfte, was den Schluss zuließe, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG erfüllt ist (zum Verständnis der Wendung „von klein auf im Inland aufgewachsen“ siehe grundlegend zur im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung des § 38 Abs. 1 Z 4 FrG 1997 schon das Erkenntnis VwGH 17.9.1998, 96/18/0150).

12       Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA-VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu ausführlich aus jüngerer Zeit etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, wo u.a. auch auf entsprechende Judikatur des EGMR Bezug genommen wurde, und daran anschließend VwGH 5.4.2022, Ra 2021/21/0316, Rn. 14, sowie VwGH 23.6.2022, Ro 2021/21/0014, Rn. 19, jeweils mwN; siehe dazu auch noch VwGH 15.2.2021, Ra 2020/21/0246, Rn. 20, und zuletzt VwGH 6.9.2022, Ra 2022/21/0048, Rn. 16).

13       Mit der demnach auch hier maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten zu bejahen ist, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt, hat sich das BVwG allerdings in Verkennung der dargestellten Rechtslage nicht auseinandergesetzt. Die entsprechende Prüfung wird daher im fortzusetzenden Verfahren auf Basis der im Sinne der Ausführungen in Rn. 8 bis 10 zu ergänzenden Feststellungen zu den Straftaten des Revisionswerbers nachzuholen sein.

14       Diese Überlegungen gelten sinngemäß auch für den vom Revisionswerber vorrangig ins Treffen geführten Tatbestand der Z 1 des § 9 Abs. 4 BFA-VG idF vor dem FrÄG 2018 (vgl. dazu etwa VwGH 11.11.2021, Ra 2021/21/0267, Rn. 7 bis 12, und VwGH 9.6.2022, Ra 2021/21/0329, Rn. 15, mwN).

15       Schließlich kommt nach der in der Revision überdies noch erwähnten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann - worauf sich das BVwG gestützt hat - nach § 21 Abs. 7 BFA-VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. aus der ständigen Judikatur etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0198, Rn. 9, mwN).

16       Von einem solchen eindeutigen Fall kann entgegen der Meinung des BVwG vorliegend schon im Hinblick auf die - wie erwähnt - nicht ausreichenden Feststellungen zu den dem Revisionswerber zur Last liegenden Straftaten, aber auch angesichts der langen Aufenthaltsdauer in Österreich seit dem Kleinkindalter und der Bindung zu seinen hier lebenden Angehörigen (neben seinem im September 2013 geborenen und aus einer geschiedenen Ehe stammenden Sohn insbesondere die Eltern und zwei Brüder) nicht ausgegangen werden. Daher hätte das BVwG am Maßstab der vorstehend referierten Judikatur jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen müssen (siehe dazu weiters VwGH 21.12.2021, Ra 2021/21/0085, Rn. 17 bis 20). Die mündliche Verhandlung wird im Übrigen auch Gelegenheit dafür bieten, die Beziehung des Revisionswerbers zu seinem bei der Mutter lebenden Sohn, die in der Revision in den Vordergrund gestellt wird, noch einmal abzuklären.

17       Das angefochtene Erkenntnis war somit aus den dargestellten Gründen (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

18       Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

19       Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. September 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022210068.L00

Im RIS seit

12.10.2022

Zuletzt aktualisiert am

12.10.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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